Es geschah in Transsilvanien

von Georgeta Wehrmann

Am nächsten Abend erzählte uns die junge Frau eine längere Geschichte...

"Weit fern in einem kleinen Land,
Steht noch sein Schloss am Waldesrand"

Dass ich bald über Sein Leben, ja sogar über Seinen Tod zu bestimmen hatte, ahnte ich noch nicht. Ich lebte mein Leben und meinen Alltag, wie ich es immer tat, fern von Aberglauben oder Visionen. Und dann geschah es, ohne Ankündigung, wie ein seltsamer Traum.

Am 12.11. fand ich einen Briefumschlag in meinem Briefkasten. Eine archaische Handschrift teilte mir mit, ich sei eingeladen, einen Adventsnachmittag in einem Schloss in Transsilvanien zu verbringen. Ein Schloss, Kaminfeuer, Glühwein, Pfefferkuchen, alte Familienwappen, Wolldecken, wie reizvoll! Wo gab es denn überhaupt noch so etwas, ohne dass es gleich als Wellness-Kurztrip oder After-Work-Lounge umschrieben wurde!

Am nächsten Tag kam, ebenfalls mit der Post, ein gültiges Flugticket für den 11.12. nach Klausenburg, Übernachtung inklusive und eine Bahnkarte nach Huedin. Spätestens jetzt bekam ich Herzklopfen. An dem darauf folgenden Tag kam die exakte Wegbeschreibung mit Treffpunkt- und Uhrzeitangaben, die einzige Bedingung war, ich solle alleine reisen. Somit war meine Risikobereitschaft aktiviert. Meine Freunde rieten mir zu einem Kurzurlaub nach Rom oder Barcelona, dort seien die Menschen auch nett und vor allem frei von solchen "Besonderheiten".

Ich rief am Flughafen und im Hotel an, die Gültigkeit der Angaben wurde mir bestätigt.

Am ersten Dezember fing es an zu schneien. Mit der Post kam der letzte Brief aus dieser Reihe.

Ein Mann namens Spiridon Vampirescu stellte sich in einer netten, offenen Weise vor, er freue sich, mich kennen zu lernen, er sei ein Vampir. Keiner von uns sei perfekt, dachte ich mir dabei.

Laut Lexikon sind Vampire (dem Volksglauben nach) "Verstorbene die nachts ihrem Grab entsteigen, um Lebenden Blut auszusaugen; lebender Leichnam, der in Menschen- oder Tiergestalt wiederkehrt, um Schäden, Seuchen und Tod zu verursachen".

Noch war alles harmonisch, die Zugfahrt durch die verschlafene Winterlandschaft, das kalte, aber sonnige Wetter, die ruhigen Ortschaften, die an mir vorbeihuschten. In Huedin musste ich umsteigen in einen kleinen Lokalzug. Ich kam mir vor, wie in einem von einer Dampflokomotive gezogenen Zug. Die Fahrtrichtung wechselte nun nach Süden, in das Bociu-Tal, die Abgrenzung zwischen dem Gilau- und Vladeasa Gebirge. In Sancraiu (Heiliger König) stieg ich aus und folgte zu Fuß gen Westen dem Lupului-Tal (Wolfstal) durch das Dorf Alunisu bis nach Sacuieu. Nach einem kurzen Anstieg durch den Wald nach Süden, folgte ich dem mit einem roten Dreieck markierten Fußweg in das Almasu-Tal nach Westen bis ins Dorf Rogojel. Außerhalb des Dorfes, auf einer Anhöhe von über 1100 m, erblickte ich die kleinen Holzhütten eines winzigen Weilers und eine sehr kleine Kapelle, wo der Treffpunkt vereinbart war. Hier sollte ich am 12.12. um 12.00 Uhr Herrn Spiridon Vampirescu treffen. Auf dieses uralte Gammelfleischpaket war ich sehr gespannt! Noch Zeit für eine kurze Pause, bevor ich in diese Theaterinszenierung eintrat.

Punkt 12.00 Uhr wurde ich von einem attraktiven Mann, schätzungsweise Ende 40, abgeholt. Seine gebräunte Haut und die Leichtigkeit seiner Bewegungen verliehen ihn eine sportliche Allüre. Der mit einer schwarzen, sogar antiken Lederjacke bekleidete Mann, Träger einer sehr dunklen, merkwürdigen Skibrille, schien das gesündeste Selbstbewusstsein der Welt zu besitzen und seine Selbstgefälligkeit ließ darauf schließen, dass er auch bei vollen Verstand war. Für den letzten Abschnitt des Weges band er mir die Augen zu und führte mich an der Hand. Ich versuchte, mit allen anderen übrig gebliebenen Sinnen meine Lage realistisch zu beurteilen. Ich roch und spürte die Sonne im Gesicht und meine Bergschuhe versanken im Schnee. Später, als ich wieder sehen durfte, zeigte sich mir eine malerische Winterlandschaft, das sanfte Vladeasa-Gebirge mit seinen Hügeln und Kieferwäldern. Wir standen am Waldesrand vor einem Holzhaus. Die großzügigen Räumlichkeiten waren skandinavisch und einheimisch-rustikal eingerichtet, sehr behaglich war es in diesem großen Haus.

Bei einem sehr asketischen Mittagessen - gekochte Kartoffeln -, ließ mich Hr. Vampirescu wissen, dass sehr bald das Wetter umschlüge, und somit die Einladung eine zeitlich unbegrenzte Verlängerung erfuhr.

Die massiven Holzmöbel waren mit viel Liebe zum Detail verarbeitet, geschmückt von raffinierten Schnitzereien mit geometrischen Figuren, ergänzt von kleinen Säulen und Statuen von Nachttieren wie Fledermäusen, Eulen und exotischen Käfern. Auf der massiven Kieferntafel thronte ein hölzerner Iguana neben einem Rentier und einem Lämmchen. Die Teppiche, Decken und Tischläufer waren handgewebt, geprägt von den rustikalen Motiven des Westgebirges.

"Die Familien Miron und Irimie stehen seit Generationen in meinem Dienst. Sie und ihre Vorfahren haben all diese Schätze seit Jahrhunderten verarbeitet", erklärte er mir mit rauer Stimme.

Es dämmerte und Hr. Vampirescu legte seine Brille ab. Zum Vorschein kamen seine großen, schwarzen Augen, die eine Milleniumsmelancholie ausstrahlten.

"Hr. Vampirescu, warum haben Sie mich hierher eingeladen?"

"Das haben Sie sich gewünscht...."

"Verstehe....dann erzählen Sie...."

"Sehen Sie, ich bin der letzte Vampir (das sah ich natürlich nicht!), bin 790 Jahre alt und genau so lange musste ich diese Ambivalenz zwischen Leben und Tod aushalten.

Nun, spätestens mit 900 Jahren werde ich erlöst aus diesem Dasein. Als Normalsterbender bin ich mit 75 Jahren gestorben. Ab diesem Zeitpunkt multiplizieren sich die gelebten Jahre mit 12, das ergibt 900, so wissen wir immer, wie viel Zeit uns noch bleibt. Zurück auf Ihre Frage: Sie haben im Sommer recherchiert und Einheimische in der Maramuresch und bei uns nach sonderbaren Gestalten befragt, nach Legenden und alten Geschichten. Wissen Sie noch, die zwei Männer, mit denen Sie ein Bier getrunken haben und die vier etwa ältere Ladys aus der Ratschgesellschft, die Sie mit Ihrem Laptop bekannt gemacht haben? Ich kenne sie alle, sie haben mich informiert und so dachte ich mir, ich zeige mich Ihnen".

"Und warum zur Adventszeit?"

"Die Adventszeit ist für mich wie Urlaub: der Aberglaube nimmt ab, die Menschen werden sanftmütiger. Ich auch. Es ist eine Zeit der Freude, ein Warten und sich Freuen, das Kerzenlicht nimmt zu - dieses Licht ertrage ich übrigens. Ja, es ist sozusagen ein einziges Fest des Kerzenlichtes. Mal abgesehen vom Konsumwahn, mit dem ich nicht so viel zu tun habe, ist diese Zeit die schönste des Jahres..."

"Verstehe..."

"Sie verstehen noch gar nichts, das gehört aber auch dazu."

"Wozu, bitte?"

"Zu dieser Geschichte, in die Sie hineingeraten sind."

"Sagen wir mal besser....hineingestiegen."

Am bescheidenen Abendessen - ein hartgekochtes Ei und gedünstete Karotten - durfte auch seine Fledermaus namens Ilyka, eine quicklebendige ihrer Spezies, teilnehmen. Mit verschlafenen Augen, aber raschen Bewegungen, mampfte sie an den Rüben. Von so viel Appetit lief ihr der Möhrensaft am kleinen Maul hinunter. Sehr liebevoll tupfte ihr der Meister die Mundwinkel ab. Wie entzückend! Kurz danach schlief sie in einem Holzpuppenbett ein. Er überreichte mir das schlafende Geschöpf samt Behausung und wir setzen uns ans Kaminfeuer. Draußen tobten schon die Vorboten eines langen und kräftigen Sturmes.

"Haben Sie Dracula gekannt?"

"Dracula war ein Tyrann, ein Diktator. Total unbeliebt bei uns, aber sehr ruhmreich, nicht war? Wir haben ihn fast alle überlebt. In seinem Normalleben starb er früh, als er versucht war zu Morden, und verunglückte dabei selbst. Nicht gut, wenn die negativen Vorbilder so lange in Erinnerung bleiben."

"Welche ist Ihre Hauptaufgabe in unserem Leben? Ich meine, wozu gibt es die Vampire überhaupt, wer hat sie "erfunden"?"

"Wer hat den Teufel erfunden? Nein, wir bringen nicht nur Seuche und Tod, aber das glaubt Ihnen sowieso keiner. Wir sind eine lebende, eine ambulante Enzyklopädie, wir können historische Fakten liefern, über Jahrhunderte hinweg... Abgesehen von den ersten wilden Jahren, als wir jagten und Blut aussaugten, aber auch das nur von Kranken. Später lernten wir uns nur von Wein und Milch zu ernähren. Aber auch das würde Ihnen keiner glauben..."

"Ich will es auch keinem erzählen..."

Die turbulente Kraft der Natur machte mir Angst. Mit Ilyka auf der Hand kuschelte ich mich unter eine dicke Wolldecke und nahm mir vor, die ganze Nacht wach zu bleiben. Spiridon Vampirescu stieg die Leiter zu seiner unterirdischen Gruft ab. Irgendwann schlief ich doch ein.

Am nächsten Tag keine Spur von dem Meister. Das spärliche Frühstück auf dem Tisch - kalter Tee und zwei Brotscheiben - wunderte mich nicht mehr. Ilyka ließ sich sogar streicheln. Ich schob noch einen Holzscheit ins Feuer. Ein fürchterlicher Lärm drang von draußen ein, als ob ein Haufen Holzfäller werkelte. Der Meister, wie ihn das ganze Dorf nannte, schuftete in seine Holzwerkstatt. Ich zog mir die Skijacke an und wollte in die befreiende Schneelandschaft flüchten, als mir von der massiven Eingangstür ein Schild ins Gesicht sprang:Ilyka darf nicht ans Tageslicht!

Oh, Verzeihung, was hätte ich beinah getan! Armes Tier, es kuschelte sich schmiegsam um meinen Hals.

Am siebten Abend gab es viele Ausnahmen: ich bekam ein Schokoladenmousse mit Weihnachtsgewürzen und Glühwein. Und der Meister zeigte mir sein Schlafgemach in seiner Gruft. Ilyka durfte nicht mit. Über hundert Treppen stiegen wir hinunter und die Dunkelheit wurde immer tiefer. Keine Spur von Luftzug, keine frische Luft, als ob die Luft hier seit Jahrhunderten die gleiche wäre, als ob man hier nur zum Sterben hineinkäme. Als die hundert Treppen zu Ende waren, zündete Spiridon - wir duzten und mittlerweile - 12 Kerzen an. Der Boden war mit Tannenzweigen übersät und ein frischer Hauch von Tannenduft durchströmte den Raum. Das sanfte warme Licht offenbarte mir den anmutigsten und schönsten Doppelsarg, den ich je gesehen hatte.

"Original barock, aus dem 17. Jahrhundert. Sehr fein geschnitzt, eine saubere Arbeit der Dorffamilien. Das Totenbett besitzt weibliche Stützfiguren in Adoratenhaltung und ist gepolstert mit reiner Seide - China, 18. Jahrhundert.", erklärte der Meister in einem selbstbewussten Ton.

Eine Wand war fast ausschließlich mit Bücherregalen tapeziert. Alte, schwere, in Leder eingebundene Bücher in mehr als zwanzig Sprachen, die Spiridon alle beherrschte, reihten sich in den Regalen aneinander. Jeder Historiker oder Museologe hätte hier den Schatz seines Lebens finden können. Meine Bewunderung und mein Erstaunen waren grenzenlos.

"Ilyka wartet oben auf dich", flüsterte er mir ins Ohr, und ich erblickte seine Augen so nah an meinen, dass ich meinte, all seine Sehnsüchte spüren zu können.

Bis Heiligabend verbrachten wir fast jeden Tag im Dorf. Ich half älteren oder auch jüngeren Frauen mit Kleinkindern beim Backen, Putzen, Waschen, Kochen. Der Meister kümmerte sich um die kranken Tiere, um die Holzbestellungen oder prüfte die Holzanfertigungen für die Spielwarenfirma. Abends ließen wir uns von Ilyka unterhalten. Sie beherrschte regelrechte Kunststücke, war eine kleine, süße Akrobatin, die rückwärts das Rentier ritt oder den Iguana zum Duell aufforderte. Als Ilyka erschöpft einschlief, las mir Spiridon aus seinem Reisetagebuch vor, geschrieben jeweils in der Landessprache des Landes, in dem er sich befand. Beeindruckend.

An Heiligabend begleitete er mich zur Kirche, zum Weihnachtsspiel, da ich schon viele Dorfbewohner kannte und von ihnen eingeladen wurde. Er blieb vor der Kirche, unter dem Vollmond, weil er allergisch auf Weihrauch war. Mir war das nur Recht, da ich keinen Vampir mit anaphylaktischem Schock erblicken wollte. Das Dorf leuchtete, war von Weihnachtsliedern erfüllt.

Es wurde wieder eine Nacht der großen Ausnahmen: die Tafel war mit einem Fünf-Gänge-Menü gedeckt - wann hatte er das nur alles vorbereitet? - der Stromgenerator lief auf Hochtouren, damit ich traditionelle Weihnachtslieder von Stefan Hrusca auf CD hören konnte. Der Umwelt zuliebe lief ansonsten der Generator fast nie.

Das Wetter hatte sich längst stabilisiert, ich hätte verreisen können, blieb aber. Verabschiedet haben wir uns am 28. Februar. An diesem Tag wird in Rumänien in ländlichen Gebieten der "Dragobete" gefeiert. Das ist der rumänische Valentinstag. Ab diesem Tag konnte ich über seinen Werdegang mitbestimmen. Ich wünschte ihm das, was ihm Ruhe und Zufriedenheit bringe. Die endgültige Entscheidung aber traf er.

Seinen Abschiedkuss spüre ich heute noch auf meinem Hals, dort wo die Halsschlagader am stärksten pulsiert.

Was ist von Spiridon Vampirescu geblieben? Sehr viel, oder genug, dass die Leute noch in tausend Jahren an ihn denken. Seine Holzhütte, die ich als Ferienhaus benutze, seine Holzwerkstatt, die nun von einer Dorffamilie betrieben wird. Seine schwarze Lederjacke, die Skibrille, sein Tagebuch, einen Teil seiner Bücher, eine kleine schwarze Schatulle mit dem Familienwappen und einen kostbaren Silberring mit keltischen Ornamenten befinden sich in meinem Besitz. Und Ilyka... Sie vermisst ihren Meister nicht wirklich, nur abends sehe ich in ihren Augen eine mir sehr vertraute Sehnsucht, eine milleniumsalte Sehnsucht und dann wird sie zur Akrobatin.

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