Das unvollendete Frühstück

von Gerald Krug

"Gerald!"

Eine wunderschöne Fee ruft meinen Namen, wahrscheinlich, um mich in's Paradies zu locken.

"Gerald!"

Da - wieder! Komisch nur, dass die Fee eine männliche Stimme hat.

"Gerald - da ist ein Bär!" Langsam realisiere ich, dass die Fee Manfred heißt und es diese Nacht vorgezogen hat, unter dem Sternenzelt zu schlafen, während wir hier zu zweit im luxuriösen Aldi-Zelt logieren. "Schlaf weiter!" murmle ich nur und dreh mich auf die andere Seite. Ein Bär - pah, solchen Quatsch zu erzählen, nur um mir den bitter nötigen Schönheitsschlaf zu rauben.

Ignoranz und Verdrängung sind ebenso probate wie zuverlässige Verhaltensweisen, um langjährige Freundschaften zu pflegen. Sie schützen mich aber nicht davor, dass nach einer Viertelstunde schon wieder Manfreds Stimme an mein Ohr dringt. "Gerald, der Bär sitzt auf meinen Beinen!" Jetzt spinnt er wohl total - darauf fällt mir ja wohl gar nichts mehr ein. Schließlich raschelt der Zelteingang und Manfred stört die traute Zweisamkeit durch den Wunsch, im sicheren Zelt Zuflucht zu finden. Also ruckeln wir uns alle zurecht und schlafen schnell wieder ein.

Am nächsten Morgen ist alles vergessen und wohlgemut wird der Kaffee aufgesetzt und wir genießen den morgendlichen Sonnenschein hier in der Brusturetschlucht, am Fuße des Königsteingebirges. Gut, dass unsere beiden Freunde Bax und Frederike, die jetzt mit hier an der Frühstücks-Isomatte sitzen, gestern im 5 Kilometer entfernten Dorf frisches Brot geholt haben. Das wird uns zusammen mit dem rumänischen Honig lecker schmecken! Aber wo ist es? Es war doch in dem kleinen Rucksack, wo auch die Medikamente verstaut sind!? Nun fällt uns der nächtliche Zwischenfall wieder ein und Manfred erzählt von dem Braunbären, der immer näher kam und sich schließlich auf seine Beine gestützt hat. Wir machen uns auf die Suche und finden wenige Dutzend Meter entfernt den völlig zerfetzten Rucksack, der von Meister Petz komplett geleert worden ist. Nicht einmal die Medikamente hat er verschont und ich möchte nicht wissen, auf welchem Trip sich der Zottel gerade befindet, angesichts der vertilgten Anzahl Schmerztabletten. Ich bitte Manfred um Verzeihung für mein Unglauben in der vergangenen Nacht und wir verlassen das Gebirge mit einem so laut knurrenden Magen, der allen potenziellen Brotdieben verkündet, dass bei uns nichts mehr zu holen ist.
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