Mein Nachbar, der König


Teil 2


Wer war außer­dem hier? Solche, die der Drang zu Höherem her trieb oder die Sehn­sucht nach dem Nächsten, oder andere, die die Zeit tot­schlagen mußten und es allein nicht schafften, oder die er­hofften, daß sie verjüngt und geheilt an Leib und Seele ihres Weges zögen. Oder die, die tat­sächlich krank waren und noch etwas vom Leben haben wollten. Vor allem waren es aber bejahrte Damen, denen die Männer wegge­storben oder wegge­laufen waren oder deren Kinder sich wegge­stohlen hatten, solche und ähnliche ...
Was nicht fehlte, waren die Unikate: Das sport­liche Ehepaar im besten Alter – sie mit Frisur der 30er Jahre à la Leni Riefen­stahl, er ein drah­tiger Vier­ziger, zu Fuß unterwegs zu allen Berges­spitzen, so daß er zu den Mahl­zeiten ver­spätet und in Wander­kluft erschien – schweiß­triefend und nach Alpen­rausch riechend. Es fehlte nicht die stolze Groß­mutter mit den drei halb­flüggen Enkel­kindern, die mit Ernst und Anstand die Eß­manieren zele­brierten. Es mangelte nicht an Ita­lienern mit Kind und Kegel und der Mamma, und mindestens zwei Familien, wo alles zu­gleich redete. Es belebte das Bild der über­höfliche Jung­geselle mit Klump­fuß, der wegen einer Dame auf den Lift ver­zichten konnte und mühsam die Treppe hinauf­humpelte. Und der Mathe­matiker, allein am Tisch – ungekämmt und lose bekleidet, der einen mit ver­störtem Blick musterte, wenn man ihm Guten Tag oder Guten Appetit wünschte.
Mittendrin und lautstark die Wohl­täterin, eine Ver­triebene aus dem einst reichs­deutschen Warthe­gau, die nach dem ver­lorenen Krieg mit nichts be­gonnen und es mit ihrer Hände Arbeit zu Ver­mögen gebracht hatte. Das sie nos­talgisch ver­teilte. So hatte sie im letzten Jahr 540 Pakete nach Breslau versandt, bei ihr immer noch Breslau. Dafür hatte sie 480 Dankes­briefe erhalten, die sie als Zeit­dokument hatte in Reh­leder ein­binden lassen.
Am Rande die Pfarrers­witwe namens Erna Sommer­wahn, die im Sommer fromme Erholungs­heime auf­suchte oder antike Stätten, wo sie jeden Cicerone besser­wisserisch in Verlegen­heit brachte. Die dagegen im Winter Reise­berichte las. Und Ikonen malte nach allen Regeln der Kunst – betend und bei Kerzen­licht.
In einem besonderen Licht und nicht ganz von dieser Welt war die Tragödin in vorge­zogener Rente – mit dem Air echter Trauer und hin­reißend wie eine Pries­terin. Drei Namen hatte sie: nach ihrem Vater Wächter, nach ihrem ver­blich­enen Mann Thorn, jedoch bekannt, geliebt, verehrt, be­klatscht, wenn­gleich ein wenig ver­gessen, unter dem Bühnen­namen Ara­bella Thor­wächter.
Über das Personal, das diente und be­diente, hieß es, daß der Erz­bischof geäußert haben sollte, es er­innere ihn an über­irdische Wesen, so freund­schaftlich, so froh­gemut, so dienst­willig, was in der Bibel demütig heißt. Sollten die Ange­stellten des Hauses nie aus der Rolle fallen – einen Teller fahren lassen, einen Becher zer­schlagen, einen Gast mit Rotwein be­kleckern oder einfach an­schnauzen – man müßte meinen, es seien Engel und hier wäre ein Zipfel vom Para­dies. Was in Bad­gastein längst jeder wußte, das mit dem Zipfel vom Paradies.
Es veränderte sich schlag­artig die Konstel­lation für die drei Einzel­gänger, nachdem Frau Maier eingetroffen war. Sie hieß Maier, Theo­dora Amalia Maier, und rauschte mit dem Taxi an – aus Genf. Genf–Bad­gastein, eine beacht­liche Strecke; und das ganze mal zwei, wenn man bedenkt, daß der Chauf­feur zurück­fahren mußte. Ihn ent­lohnte sie auf der Stelle mit vielen Bank­noten, die Kur­gäste im Vorhof sahen fas­ziniert zu. Frau Theo­dora Amalia Maier be­wohnte gleich zwei Zimmer, die aber nicht ver­bunden waren, so daß sie über den Kor­ridor herüber- und hinüber­wechseln mußte. Das eine benützte sie bei Nacht, das andere bei Tag. Mon dieu, man kann doch nicht vierund­zwanzig Stunden derselbe Mensch bleiben! Man kannte sie, denn in Bad­gastein hatte sie schon über vier­zigmal die Kur ge­braucht. Die an­wesenden Gäste raunten. Die einen: Sie ist eine Mil­lionärin. Andere: Ihre Kinder haben sie ent­mündigt.
Frau Maier wußte Bescheid und machte Ordnung in den Köpfen der Leute: Sieben­bürgen habe nichts mit dem Sieben­gebirge zu tun, ge­schweige mit Si­birien, und RO nichts mit Rho­desien, vielmehr beides mit Rumänien, Romania. Sieben­bürgen, rumänisch Tran­silvania, sei das Kern­land von Rumänien, allerdings erst seit 1918 rumänisch, vorher als Erdély zu Ungarn gehörig und noch vorher öster­reichisches Kron­land und Groß­fürsten­tum. Hier lebten außer den Rumänen viele Ungarn, ver­schwindend wenige Deutsche und Juden und Armenier – dafür Zigeuner wie Sand am Meer. Zigeuner dürfe man im Übrigen sagen, sie nennen sich dort selber so, fügte sie hinzu.
Woher sie das so genau wisse? »Ach«, sagte sie leichthin, »mein Nachbar, der König.« Und sie winkte kol­legial zum Tisch der Sieben­bürger hinüber, die plötz­lich Rumänen hießen, obschon sie das gerade nicht waren.
Auf dem König-Carol-Weg, benannt nach dem ersten rumä­nischen König, der hier kurz vor der Jahr­hundert­wende zur Kur geweilt hatte, sprach Frau Maier Frau Maria an, die den Pfad zur höher ge­legenen Kaiser-Wilhelm-Promenade er­kundete.
»König Michael, der Ur­enkel«, sagte Frau Maier, »das ist mein Nachbar.« Frau Maria Kapdebo war stehen geblieben. Die Herren näherten sich, grüßten, ver­hielten den Schritt, während ein Strom von Infor­mationen aus dem Munde von Frau Maier die Gruppe am Weiter­gehen hinderte: »Die Königin Ana ist eine gute Gärt­nerin. Sie macht alles allein. Mit dem Schub­karren weiß sie genauso gut zu han­tieren wie mit Spaten und Rechen. Sie ist eine Prin­zessin aus dem Hause Bourbon-Parma, war im ’44er bei der Landung in der Norman­die dabei.« Des Königs Stamm­baum bestehe nur aus erst­klassigen Kaisern und Köni­ginnen, la crème de la crème. »Und den hat man verjagt. Ach Gott!« seufzte sie und sah die drei mit­leidig an: »Ihr armer König. Nach ’47 im Exil mußte er mit seiner Hände Arbeit seine Familie er­halten. Tüchtige Leute, beide! Leider kein Thron­folger, aber fünf Töchter. Er wohnt in einem Bungalow neben mir – in Versoix bei Genf.« Und sagte über Michael von Hohen­zollern-Sigma­ringen, der sich trotzig de Romania nennt, und über das Königs­haus, Zaun an Zaun mit Frau Maiers Villa, noch vieles, was man in Rumänien nicht wußte.
Sehr langsam spa­zierten die vier weiter, Frau Maier ging der Atem aus. Schweiß­perlen zogen Rillen durch den Puder. Sie stützte sich auf Frau Kapdebo und sprach weiter. Es gab dunkle Stellen in ihrem Vor­trag: »Die dreiund­fünfzig Türen von meinem Haus, eine Plage, immer ver­gesse ich, eine abzu­sperren. Unlängst komme ich nach Hause, alles im Eis­schrank ist vergiftet. Ich rufe die Polizei. Wissen Sie, was der Offi­zier vom Dienst fragt: Warum gehen Sie am Sonntag in die Kirche? Nur soviel!«
Der Abend versprach Kühlung, man hatte Zeit, setzte sich auf eine Bank vor der Büste des Kaisers Wil­helm I., man nahm Frau Maier in die Mitte und eben­falls den Erz­bischof.
Sie berich­tete in weit­schweifigen Satz­gebilden, die oft ein schwarzes Loch offen­ließen, so daß Inhalt verloren­ging. »Mein Mann wollte partout in Genf ein Haus haben, am Genfer See, und zwar wegen der Wellen auf dem Boden­see. Er war Archi­tekt, hat nach dem Krieg Düssel­dorf aufgebaut, bei jedem fertigen Stadt­viertel fiel ein Haus oder ein Appar­tement für unsere Kinder ab – die Tochter, den Sohn. Gestor­ben ist er drei Tage, nach­dem wir das fertige Haus am See be­zogen hatten. An der Bise ist er ge­storben.«
Die Bise sei Schuld an seinem Tod. Jetzt bestehe ihr Leben aus Warten, Warten auf einen Anruf von den Kindern, von einem, vom andern. »Der Sohn lebt in Mal­lorca, Architek­turbüro, die Tochter in Düssel­dorf, gute Kinder, pläsier­liche Menschen, doch weit weg.« Der Mann der Tochter sei ein Syrer. »Er ver­waltet unser Familien­vermögen. Und er ist der Sohn eines Pro­pheten.« Sein Vater sei in einer Moschee begraben. »Tot und mutter­seelenallein wie ich in meiner Villa. Ich würde mich zu Tode langweilen. Ob man Ruhe findet? Sacre coeur!« Sie trug Hosen, creme­farbene Hosen und ein himmel­blaues Jackett mit schwarzen Man­schetten und schwarzem Revers: »Ein wenig Schwarz muß sein. Es zieht die Blicke an, es macht attrak­tiver.«
n Karlovy Vary war sie auf­gewachsen. »Ein Kurort, mein Gott, von Welt, große Welt, k. u. k. und Jugend­stil, Wiener Sezes­sion; mein Vater – eine Welt, die nie wiederkehrt. Er war Hotel­besitzer.« Mitten im Schwärmen fiel ihr ein, daß sie schleunig ins Hotel müsse, denn jeden Augen­blick könnten die Kinder anrufen. Man würde noch im Foyer weiter­parlieren. Die Rumänen stünden ihr nahe wegen des Königs. Aller­dings, seine fünf Töchter könnten nicht Rumänisch.
Herr Maria wünschte einige Erläu­terungen, während alle vier hinauf­hasteten: Erstens, weshalb habe der Herr Gemahl in Genf gebaut, wo er die Brise nicht ver­tragen konnte, und nicht am Boden­see, näher an Düssel­dorf oder an anderen Seen? »Sehr einfach: Wegen der Kinder.« Am Genfer See könne man eine Sturm­warnung noch durch­geben, am Boden­see aber fiele der Orkan so rasch ein, daß keine Wetter­prognose möglich wäre, alle Segel­boote ken­terten, und mit ihnen die Kinder. Selbst wenn sie schwimmen könnten, er­tränken sie wie Mai­käfer. Das leuchtete ein. »Übrigens heißt das Bise; und die anderen Seen sind eiskalt, schlimm für den Unter­leib von Frauen und Kindern.«
Zweitens: Wieso sei der Herr Gemahl an der Bise ge­storben? »Weil dann die Arbeiter nicht ar­beiteten.« Oft sei er aus Deutsch­land zu einem Termin nach Genf ge­reist – mit dem Zug und nie anders –, die Bau­stelle jedoch sei leer ge­wesen, mitten in der Woche kein Mensch zugegen. »Wegen der vermale­deiten Bise hat er sein Leben lassen müssen.«
»Der bedauerns­werte Tod – warum durch die Bise?« Der Gallen­stein, den der berühmte Pro­fessor Dumont zu Leb­zeiten nicht ent­deckt hatte, der sei schuld am Tod des Mannes. Am Gallen­stein wiederum seien schuld die Arbeiter, die nicht arbei­teten. »Und daran schuld der böse Wind.« Gegen diese Kausal­kette war nichts einzu­wenden. Drittens: Warum fragte der Polizei­offizier, ob die Dame in die Kirche ginge? Was habe das mit dem Ein­bruch zu tun?
»Weil er und der Maire von Geneve Kommu­nisten sind, und wie alle Genfer gegen Aus­länder.« Das verstand sich nicht von selbst, das mußte man glauben.
Ob ihre Mutter­sprache Deutsch sei, wollte Frau Maria Kapdebo wissen. »Ach«, sagte sie, »Deutsch habe ich von der Mutter gelernt, Tsche­chisch von den Dienst­boten und mit dem König spreche ich Fran­zösisch.«
Man trennte sich gedanken­voll. Die abge­schirmte Runde der drei hatte ein Loch bekommen.
Mit sanfter Gewalt nahm sich Frau Maier in den folgenden Tagen der drei Ost­länder an. Aus war es mit der Beschau­lichkeit im Dahin­wandeln und mit der Geruh­samkeit noch mehr: Auf die hei­lige Siesta – den öst­lichen Mittags­schlaf, ein Ritual in jenen Breiten – hieß es immer öfter zu ver­zichten.
So auch an diesem Tag, denn plötzlich kam sanft­lächelnd die Order: »Monsieur Bischof, ich habe für drei Uhr den Bus von der Windisch­grätz-Höhe bestellt, ich lade Sie dorthin zu einer Jause ein, 1600 Meter über dem Meer, dort müßte es kühler sein.« Was dem Kur­pfarrer nicht gelungen war, konnte Frau Theo­dora Amalia Maier auf ihr Konto buchen: Um drei Uhr waren die Aufge­botenen zur Stelle. Frau Maier ließ sich von der Schau­spielerin be­gleiten, deren mar­morne Schönheit allen, deren scheue Konfirman­dinnen­augen nur wenigen aufge­fallen waren: »Machen Sie keine Priesterin aus ihr«, brummelte Frau Maier, »sie ist auch nur ein Mensch.«
Frau Arabella fragte, ob sie als Schau­spielerin es wagen dürfe, in der Gesell­schaft eines Bischofs zu er­scheinen. Der Bischof schwieg. Hatte er die seltsame Frage überhört? Herr Maria Kapdebo gab eine Antwort, die die Dame erröten ließ, ohne daß sie es spielte: »Nicht die Gesunden, die Kranken be­dürfen des Arztes!«
Dann stiegen sie in den Klein­bus, und in hals­brecherischer Fahrt kutschierte die Gast­wirtin die Gäste zur Höhe Windisch­grätz. Der Bischof hatte sich neben die Schau­spielerin gesetzt, ehe seine Bei­stände eine andere Sitz­ordnung vor­schlagen konnten. Auch am späten Nach­mittag, beim Abstieg durch den Wald, als man alles hinter sich hatte, gingen sie neben­einander und konver­sierten, ja, bei einer jähen Stelle ließ der Bischof sich von der Schau­spielerin stützen. Und damit kam die Welt ins Lot für dieses ab­schüssige Stück Weges, denn der Bischof ließ sich weiter­hin höflich von ihrer Hand ge­leiten, damit er nicht aus­rutsche und hinfalle.
Durch Frau Maier erfuhr die Schwarze Madonna, daß der Bischof während dieses abenteuer­lichen Abstiegs souverän Auskunft gegeben hatte über alle Fragen von Frau Ara­bella Thor­wächter: Krank­heit, Tod und ewiges Leben. Gleich zu Anfang, im Bus noch, hatte sich Frau Thor­wächter erkundigt, wie man den Bischof anreden müsse, welches seine Titu­laturen seien. »Alles Relikte der Vergangen­heit«, hatte er geant­wortet. »Nennen Sie mich bei meinem Namen, den höre ich sowieso nie, weil mich alle mit meinem Titel anreden.« Doch Herr Kapdebo hatte sich ungefragt einge­schaltet und in einem Priva­tissimum die Frage geklärt. Das wechsle, erläuterte er. »Inner­kirchlich ›Hoch­würden‹, die Bauern sagen gerne ›Hoher Herr‹, die übrigen Leute ›Herr Bischof‹. Die staat­lichen Stellen sprechen von ›Seiner Exzellenz‹, die anderen Kirchen benutzen den Titel ›Eminenz‹. Die Ortho­doxen treiben es auf die Spitze mit ›Der Hoch­geweihte‹, ›Der Zuhöchst­geheiligte‹. Bei uns schwelgt man in Titeln ebenso wie in Öster­reich. Mit der Zeit vergißt man seinen Namen.« Frau Ara­bella wurde es schwindlig.
Das mit der Kühle bei 1600 Metern – Irrtum. Die Hitze war uner­träglich. Die Sonne glühte durch den Sonnen­schirm wie durch ein Vergrößerungs­glas. Mit Most und Mehl­speisen in der Hand flohen sie in den schmalen Schatten einer Berg­kiefer. Sie saßen hinter­einander wie in einem Bob­schlitten. Am besten hatte man den Erz­bischof platziert: in den Kern­schatten. Doch auch dieser wurde aufge­weicht, wenn ein fiebriger Hauch die Äste ausein­anderbog.
Der Kirchenfürst gab sich menschlich, verscheuchte mit energischen Bewe­gungen die Wespen, vor denen man im Fernsehen gewarnt hatte, und bastelte aus einer Zeitung einen Tschako, einen Sonnenh­ut. »Das hat uns unsere Mutter gelehrt«, sagte er. Man schloß aus der Formu­lierung, daß er nicht nur eine Mutter hatte, sondern auch Ge­schwister.
Frau Maier wurde es gefähr­lich heiß: Puder und Schminke zer­rannen, und die poröse, kränk­liche Haut wurde sichtbar. Frau Maria Kapdebo kauerte zu ihren Füßen im ver­sengten Gras, fahndete nach einem Farn­kraut und fächerte der Echauf­fierten, die ab­wesend lächelte, Luft zu.
Als man durch den Wald zu Tale stieg, fragte Herr Maria Kapdebo Frau Maier, wie sie so lebe. »Ach, ich lebe, damit die Zeit vergeht! Am Morgen bleibe ich lange liegen, damit die Zeit vergeht, dann früh­stücke ich und lese die Zeitung aus­giebig, damit die Zeit vergeht. Früher fuhr ich mit dem Taxi ein­kaufen, bis mich mein Nachbar, der König, warnte: ›Damit weisen Sie sich als reiche Frau aus, locken die Diebe an.‹ So schleppe ich die Sachen einzeln zu mir herauf. Die Zeit vergeht sogar rascher. Nach dem Essen schlafe ich, damit die Zeit vergeht – die Siesta, eine gute Er­findung der k. u. k.-Monar­chie. Am Nach­mittag ergibt es sich manch­mal, daß die Köni­gin und ich Tee trinken – oder ein Plausch über den Zaun vertreibt die Lange­weile. Die Königin ist sehr be­schäftigt, ja geplagt mit den vielen Töchtern, die sie leider nicht standes­gemäß ver­heiraten konnte – Könige sind Mangelware –, mit Enkel­kindern und dem Haus­halt. Die Königin kauft alles selber ein. Sie fährt mit dem Auto! Von ihr weiß ich, daß sie ent­thronte Könige sind und damit arme Hascherl. Bei ihnen haben Diebe nichts ver­loren.«
Man ruhte auf einer Bank im Wald. Spazier­gänger grüßten, wie das hier Orts­brauch war. Man grüßte zurück. Frau Maier gestand, daß sie in ihrem jetzigen Leben eigent­lich nur auf die Anrufe ihrer Kinder warte. Damit bringe sie ihre Tage zu, wenn sie es richtig bedenke und die Frage vom Herrn Maria recht verstanden habe.
Als man am Hotel Schah von Persien vorbei­flanierte, verhielt Frau Maier den Schritt und sagte wehmütig: »Deinem Schicksal entgehst du nicht!« Dann wollte sie vom Erz­bischof darüber aufge­klärt werden, ob ihr ent­schlafener Gatte wisse, was weiter mit seiner Familie ge­schehen sei. So habe zum Beispiel die Tochter Irmgard einen Araber gehei­ratet, was der Vater mit aller Macht und viel List hatte ver­meiden wollen. Hier in diesem Hotel habe sich seinerzeit der Kron­prinz von Abu Dhabi in ihre dreizehn­jährige Tochter verliebt. Wo immer ihre Familie sich nieder­gelassen habe, er habe sich vis-à-vis ge­setzt. Wie listig ihr Seliger die Tochter ver­steckt habe, der Prinz sei wie ein Schatten dem Kind gefolgt. Zuletzt hatten sie das Hotel räumen müssen, das der Scheich mit seiner Suite und seinem Harem sowieso zu Drei­viertel besetzt hatte. »Diese fremden Prinzen und die Asy­lanten sind überall.« Der junge Prinz habe übrigens nichts anders getan, als die Tochter stumm und still mit glut­vollen Augen ange­sehen – stumm und still und glühend vor Liebe. Das habe auch dem väter­lichen Scheich miß­fallen, denn dort in Arabien habe man viele Frauen, nur eine zu haben sei eine Schande. Frau Maier seufzte. Alle be­trachteten mit Mit­gefühl das Haus solch betrüb­licher Erinne­rungen.
Doch Frau Maier schreckte auf. Es hieß, sich beeilen, denn ein Anruf von den Kindern aus Mal­lorca oder Düssel­dorf stand ins Haus. Die Ausflugs­gesellschaft fiel in Lauf­schritt. Frau Maier keuchte: »Zuletzt ist sie dennoch einem Scheich auf den Leim gegangen, unsere Tochter, einem ara­bischen Stu­denten, der in einem unserer vielen Häuser wohnte. All­zuviel ist unge­sund. Da war mein Mann schon tot, gottlob.« Man hastete zur Schwarzen Madonna. Es blieb keine Zeit, um von kompe­tenter Seite zu erfahren, ob die Toten hören und sehen, was wir hören und sehen.
Am Abend hatte Frau Maier zu einem Glas Wein eingeladen. »Man soll Wohl­taten nicht ab­lehnen«, sagte Herr Kapdebo und als Frau Maier fragte, was es sein dürfte, zuvor­kommend: »Das Beste vom Besten.«
Als man sich am Abend in der Laube nahe der Ein­fahrt traf – Frau Maier hatte Wind­lichter auf­stellen lassen –, merkten alle, daß Frau Maier die Wünsche ernst­genommen hatte. Der teuerste Wein wurde kredenzt, fran­zösischer Rotwein, ein erlesener Jahr­gang.
Die Directrice be­fehligte den Anmarsch des kost­baren Tropfens. Ihr blond­gelockter Sohn, der keinen Blick von seiner Mutter im mo­dischen Dirndl­kleid ließ, trug den Eis­kübel herbei. Bloß einmal hatte er den Bischof ange­sehen, gleich zu Anfang, im Eßsaal beim Mittags­tisch, und hatte darauf zu seiner Mutter gesagt: »Ist das ein vornehmer Bischof? Das ist höchstens ein vornehmer Herr!«
Der Kellner Manfred ent­korkte die schlanke Flasche, ließ die Gast­geberin kosten mit dem Vermerk, sofort die Flasche tauschen zu wollen, sollte etwas zu bean­standen sein. Obschon es nicht Champagner war, hatte er behutsam eine Serviette um die Flasche ge­schlungen. Der Wein mundete der Dame des Festes, und so waren alle ge­halten, ihn zu trinken. Es sei dieser Tage ein großer Tag in ihrem Leben, sagte Frau Maier unbe­stimmt, so daß die Kinder an­rufen müßten, daher habe man sich nicht allzu­weit vom Hotel entfernt.
Als man ihr zu­trinken wollte, ohne zu fragen, welcher und was für ein Tag das sein könnte, rauschte es in den Büschen. Pfarrer Bledamm drängte sich in die Runde. Dank seines Rechtes als Kur­pfarrer, überall dabei­sein zu dürfen, stützte er die Fäuste auf den Tisch und schnarrte: »Siehe, wie fein und lieblich ist’s, wenn Brüder ein­trächtig beiei­nander wohnen!, Psalm 133. 1.« Einige Schritte weiter wartete Frau Ulrike und glühte purpurn in der Dämmerung. Die er­hobenen Becher fuhren zurück, und alle wendeten zuvor­kommend das Haupt dem Sprecher zu. Am Sonntag sei Kirche, er­innerte der Pfarrer, und nachdem niemand sich regte, ergänzte er: »Wie ge­wöhnlich um halb zehn!« Ob die Predigt am ver­gangenen Sonntag gut ange­kommen sei; bei so zusammen­gewürfeltem Publikum wäre es schwer, jedem einen Happen zuzu­werfen. Aber er bemühe sich. Die ganze Woche gehe er mit der Predigt schwanger! Man tue, was man kann.
»Und was man nicht kann«, sagte Frau Maria Kapdebo leise, wie das ihrer Natur entsprach. »Wie bitte«, schnupperte der Pfarrer. Doch niemand wieder­holte das kaum Gehörte. Die Lieder seien kundig ausge­wählt worden, sagte Herr Maria Kapdebo. Jeder Gottes­dienst sei an sich er­baulich, meinte der Bischof. Frau Thor­wächter sagte, sie könne sich nicht äußern; als Schau­spielerin sei sie an keine Konfes­sion gebunden, vielmehr trage sie ihren Herr­gott im Herzen. »Gerade Sie«, rügte der Pfarrer, »wo Sie so krank sind!« In dieser Manier er­fuhren die Freunde in fröhlicher Runde, daß die makel­lose Tragödin krank war.
»Und Sie, Frau Maier?« ließ der Kur­pfarrer nicht locker. Frau Maier murmelte, sie gehe in Genf zu oft zur Kirche, so oft, daß bereits die Polizei Anstoß nehme, hier müsse sie sich er­holen. Nachdem nichts weiter geschah, außer daß in den ge­füllten Bechern der Wein perlte, verab­schiedete sich der Pfarrer: »Es möge trotzdem ein gott­gefälliger Abend werden, denn der Wein­geist ist ein zweifel­hafter Geist!« Er trollte sich.
Herr Bledamm hatte ihnen reinen Wein eingeschenkt. Bestürzt über die Eröff­nung des Hotel­seelsorgers und klein­laut, weil keiner etwas geahnt hatte von der Hin­fälligkeit einer so betö­renden Wohl­gestalt, der Frau Ara­bella, ver­steckten sich die Feiernden hinter ihren Bechern, sogen den edlen Duft ein. Sie trauten sich nicht zu fragen. Frau Ara­bella hielt den Kopf nicht gesenkt, vielmehr schaute sie jedem einzeln in die Augen. Bei soviel frei­mütiger Schönheit fanden alle zu der ge­dämpften Fröh­lichkeit des Anfangs zurück und leerten die Becher.
Nach der Unter­brechung stieß man nach Sieben­bürger Sitte an, das heißt, jeder beugte sich zum andern, ließ den Becher an den des Nachbarn klingen und wünschte etwas Gutes: Gesund­heit oder Prosit oder auf gute Freund­schaft. Gesund­heit wünschte der Bischof allent­halben, Gesund­heit und den Frieden der Seele seiner Nach­barin zur Rechten, Frau Ara­bella. Das goldene Bischofs­kreuz pendelte nach vorne, als er sich zu ihr beugte, mit feinem Klirren rührte es an ihren Becher. Doch schien er irdisch gestimmt, denn er steckte es in die Westen­tasche. Allein die goldene Kette blinkte nun im Licht der Kerzen.
Frau Maier wünschte: »Auf gute Freunds­chaft!«, und daß man sich noch in dieser Runde treffen sollte und tunlich hier auf Erden, wiewohl sie ein Jammer­tal sei. Die Dame blickte in ihr Leben, tempi passati. Sie sei das siebenund­vierzigste Mal hier, ohne Unter­brechung Jahr für Jahr; anfangs sei sie allein gekommen, das erste Mal als Achtzehn­jährige. Der Vater, ein renom­mierter Hotelier in Karlovy Vary, habe sie herge­schickt, gewisser­maßen ge­schäftlich.
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