Im Aussiedlerbus

Aus dem Tagebuch einer Reise nach Deutschland im Oktober 1990

von Marius Koity

gemalter Bus auf dem Weg von Rumänien nach Deutschland
Drei Uhr am Nachmittag. Mit fast drei Stunden Verspätung fahren wir in Temeswar/Timișoara los. Wegen Unruhen in Ungarn fahren wir über Jugoslawien und Österreich. Für mich wird das schon deswegen spannend, weil ich kein österreichisches Transitvisum in meinem rumänischen Reisepass habe. Der Busunternehmer nimmt mich trotzdem mit. „Schaun mer mal“, sagt er.
gemaltes Bild eines Mannes
Im Bus sitzen knapp fünfzig Menschen. Es sind Banater Schwaben, Siebenbürger Sachsen, echte Rumänen. Wie es aussieht, reisen alle außer mir entweder mit einem blauen rumänischen Auswanderer- oder einem grünen bundesdeutschen Reisepass.
gemaltes Bild eines deutschen und rumänischen Passes
„So verdreckt!“, sagt ein Mann in meiner Hörweite. Jenseits der frisch gewaschenen Scheiben lösen Eindrücke einander ab, die in keinem Heimatbuch zu finden sind: Männer und Frauen nur vor den Wirtshäusern; Kinder am Straßenrand, in bunter und viel zu großer Kleidung, wohl aus Hilfssendungen stammend; vernachlässigte Äcker. Deutsche Volksmusik dröhnt über die Beschallungsanlage des Busses.
gemaltes Bild eines Akkordeon
Die Jodler und Polkas werden aber kaum wahrgenommen. Man redet laut, um sich alles leichter zu machen.
„Wir kommen nicht da runter, um aufzuschneiden“, höre ich. Es geht um einen grauen Mantel. Für Rumänien passe er ganz gut, heißt es. In Erlangen sei er nie angezogen worden. Und wird er auch nicht. Die Eigentümerin will den Mantel am Ende der Reise einfach im Bus liegen lassen.
gemaltes Bild von drei Bussätzen mit am Fenster hängender Jacke
Man redet über Häuser und Höfe. Über die „Arbeit eines Lebens und mehr“, wie jemand sagt. Alles in den Wochen vor der Reise verschleudert. „Es macht mir nichts aus, nichts aus!“, schreit förmlich eine Frau. Wie sie alle wissen lässt, sei sie auf dem Weg nach „Nürnberg, Durchgangsstelle für Aussiedler“.
gemaltes Bild einer Kassette
Plötzlich keine Musik mehr. Alle verstummen. Recken die Köpfe hoch. Schauen nach vorn. Nur Kassettenwechsel.
gemaltes Bild einer Kassette
Ein vielleicht Fünfzigjähriger in der rechten Stuhlreihe stellt fest: „Ich habe in Deutschland schon mehr gewonnen, als ich in Rumänien verloren habe. Ich hatte mich in Rumänien mit meiner Wirtschaft viel geplagt. Dann hat mir mein Bruder gesagt: ‚Lass alles stehen und liegen und komm raus von dort!‘ Er hat mir gesagt: ‚ In einem Jahr, in nur einem Jahr!, da hast du alles wiedergewonnen.‘ Und so war es… Noch 20 Jahre soll ich gesund bleiben, und dann…“
gemaltes Bild eines Kopfes mit Sternen
Ganz hinten im Bus wird Ähnliches erzählt: „‚Lass alles sein!‘, hat mir mein Sohn gesagt. ‚Hier in Deutschland hast du genug zum Leben‘, hat er mir geschrieben.“
Dann geht es um russische Panzer, die mal im Dorf standen.
gemaltes Bild eines Panzers
Dann wieder frischere Erfahrungen einer Frau, die 68 sei, wie sie erzählt: „Ein Jahr habe ich schwer gekämpft, jawoll!, das muss ich so sagen, aber jetzt…, jetzt…, Gott sei Dank!...“ Sie spricht von ihrem Geburtshaus mit sechs Zimmern, von der großen Küche, dem gefliesten Bad, der Speisekammer, der Sommerküche, den Viehställen. Jetzt wohnt sie „schon seit einem Jahr“, wie sie sagt in einer Ein-Zimmer-Wohnung in einem Hochhaus. „Ja, mein Mann hat mir, als er gestorben ist, auch gesagt, dass ich nicht in Rumänien bleiben soll, ja, so war das“, sagt die frühere Bäuerin. Eine Weile nickt sie mit dem Kopf.
40 Minuten nach der Abfahrt sind wir in Hatzfeld/Jimbolia. Auf der Gegenfahrbahn ein Leichenzug. Ein paar Leute vom Bestattungsverein, drei Ministranten, der Pfarrer, der Kantor, fünf Trauernde. Ein hochgewachsener Schwabe, ist er vierzig? ist er sechzig? oder älter? erzählt, wie er mal in Hatzfeld dem Grenzschutzbataillon Pferde aus seinem Stall verkauft hatte.
gemaltes Bild eines Pferdes
Hinter der Stadt, auf dem Weg zur Grenze, werden wir plötzlich von einem Soldaten angehalten. Seine Maschinenpistole baumelt vor seiner Brust. „Was will er denn!“, flüstert eine Stimme. Nur eine Zigarette. Der Grenzer lässt sich vom Busfahrer auch Feuer geben. Dann rollen wir wieder an. Und die Frage geht um, was man denn davon halten soll. Es entsteht eine Wegelagerei-Debatte. „Warum soll er keine Zigaretten verlangen?“, hält der hochgewachsene Schwabe dagegen. „Das ist ein armer Soldat“, sagt er. „Ein armer Teufel!“ „Egal!“, findet eine ältere Frau. „Er ist im Dienst!“
gemaltes Bild mit Händen und Zigaretten
Wie auch zwei Schafhirten, die ihre Herde landeinwärts über ein Stoppelfeld treiben. Es ist ein trauriger Anblick, so traurig, dass Zoten gerissen werden.
Der Bus hält wieder an. „Sind wir da?“ Nein, nur am Ende der langen Blechschlange vor der Grenze. „150, mindestens“, stöhnt jemand, die Zahl der abzufertigenden Fahrzeuge vor unserem Bus grob schätzend. Andere bieten mehr.
gemaltes Bild einer Autoschlange vor der Grenze
Der Busunternehmer erhebt sich vom Reiseleitersitz, gibt Anweisungen. Sein Fahrer überholt die Blechschlange im Schritttempo von links. Die Fahrer draußen schreien uns an, drohen mit Wagenheberstangen. Unser Fahrer schaut nach vorn, umkurvt wortlos jedes Hindernis. Bis wir vor einer Schranke stehen. Die Zollbaracken und der Schlagbaum sind ein paar hundert Meter weiter vorn.
gemaltes Stoppschild
Der Busunternehmer, ein noch junger Banater Schwabe, der seit Kindheitstagen in Deutschland lebt, steigt aus und spricht den gelangweilt an der Schranke lehnenden Soldaten in seinem Rumänisch an. Der Grenzer beschränkt sich auf Handzeichen: Keine Durchfahrt! Weiter vorn, an der Grenzübergangsstelle, sind andere Uniformierte mit vier weiteren Reisebussen beschäftigt.
gemaltes Stoppschild mit Schnapsflaschen, gläsern und einem Apfel
Der Busunternehmer bleibt ratlos vor seinem Fahrzeug stehen. Im Bus selbst Totenstille. Dann steigen mehrere Männer aus, kaufen beim Fahrer Bier, deutsches Bier, gekühlt, für Deutsche Mark.
gemalte Autos kreuz und quer vor einer Schranke
Der hochgewachsene Schwabe kann das alles nicht fassen. Er steht in der Mitte des Busses und schaut ungläubig in Richtung Grenze. Wo sich nun gar nichts mehr tut. Plötzlich dreht er sich um und wirft sich auf seinen Platz. „Hätten die Kommunisten unsere Leute frei reisen lassen und frei arbeiten, dann wäre kein Deutscher aus Rumänien fortgegangen“, sagt er, zum Fenster hinaus ins Land schauend. Keiner widerspricht ihm. Niemand pflichtet ihm bei. Aber dann einer nach dem anderen atmen die im Bus Gebliebenen tief ein. Und genauso hörbar wieder aus.
Inzwischen dämmert es. Frauen und Kinder sind eingenickt. Die meisten Männer stehen aufgereiht an der Schranke, trinken, rauchen, reden. Fragen im banatschwäbischen Deutsch werden mitunter siebenbürgisch-sächsisch gefärbt beantwortet und umgekehrt.
Vor unserer Schranke, auf der vielleicht acht Meter breiten Fahrbahn und im Matsch daneben, stehen Fahrzeuge aller Art mittlerweile in vier Reihen. Keiner mehr soll schlauer sein können als die Anderen. Plötzlich nähert sich von der anderen Seite ein Scheinwerferpaar. Der Schrankenposten wird nervös. Er verscheucht die Wartenden, kurbelt am Gestänge.
Es ist ein Bus, der an uns vorbei will. Es wird geredet, aber aneinander vorbei. Keiner will auch nur einen Handbreit des irgendwie gewonnenen Landes preisgeben. Hat es gekracht? Keiner weiß es.
Bernhard und Helmut, unsere Fahrer, werden jedenfalls erstmals laut. Es würde doch alles gut sein, wenn wir weiter fahren dürften, schreien sie den Grenzer durch die Windschutzscheibe an. Sie fluchen und schimpfen, der Soldat versteht ja kein Deutsch. Hinter die Schranke, hinter die Schranke, zeigen sie mit allen möglichen Handbewegungen ihren Wunsch und Willen an. Der Soldat schüttelt seinen Kopf, nestelt am Riemen seiner Maschinenpistole, springt buchstäblich herum, weil Motoren angelassen worden sind und Autos scheinbar durchbrechen wollen. Zwischendurch schreit er den landeinwärts wollenden Busfahrer an, doch endlich vom Fleck zu kommen.
Irgendwann hat das geklappt und der dicke Eisenbalken versperrt wieder den Weg. „Bis wir nicht rauskommen, kommt hier keiner mehr rein!“, ruft unser Bernhard dem Grenzer zu. Eine ganze Weile manövriert er mit unserem riesigen Neoplan auf engstem Raum. Am Ende steht der Bus halbquer auf der Fahrbahn und ganz dicht an der Schranke. An dieser lehnt wieder der Soldat und sieht sich Bernhards Schauspiel an, ohne eine Miene zu verziehen.
gemalter Bus quer vor der Schranke stehend
Bernhard schwört, nie wieder im Leben einem rumänischen Soldaten Zigarette und Feuer anzubieten. Männer reden auf ihn ein, die nächsten Bierdosen werden aufgerissen.
Hinten im Bus meldet sich eine ältere Frau zu Wort. „Jaja, die vielen, die jetzt auf einmal nachkommen, tja, das ist nichts!“, urteilt sie. „Das ist nichts!“, wiederholt sie. „Vor zwanzig Jahren, vor zehn Jahren hätten die alle kommen sollen, ja, um Deutschland aufzubauen. Jetzt kommen sie alle, um einfach die Rechte zu genießen und gut zu leben…“ Sie hat Deutschland seit 1978 aufgebaut, in der Küche eines Krankenhauses, lässt sie alle wissen. „Mich zieht es nicht mehr ins Banat“, sagt sie später. „Ich wäre auch jetzt nicht gekommen, hätte ich nicht mit einer Erbschaft zu tun gehabt.“
gemalte Frau mauert eine Mauer
Eine junge Rumänin, sie hat einen deutschen Pass, spricht aber kein Wort Deutsch, beginnt inbrünstig über Gott zu reden. Jemand ruft ihr zu, damit aufzuhören.
gemaltes Bild einer innig betenden Frau
Das Bier ist ausverkauft. Leichte Ratlosigkeit allenthalben. Ein Mann zählt nach, was er an Kleingeld noch übrig hat, und stellt fest, dass er sein Getränk statt mit einer Mark mit einen Leu bezahlt habe. Das habe er nicht gewollt, sagt er seiner Frau. Dem Busunternehmer ist es wohl auch nicht aufgefallen. „Ein prima Geschäft“, sagt der Mann.
Überall im Bus raschelt es. Wer nicht gerade schläft, macht Abendbrot. Speck vom letzten selbst geschlachteten Schwein wird in Scheibchen geschnitten, die letzten Tomaten aus dem eigenen Garten werden geviertelt. Eine senile Frau spricht im Schlaf und bewegt heftig ihre Hände, als würde sie sich gegen etwas wehren. Alle halten eine Weile inne.
gemaltes Obst, Gemüse, Wurst und Brot
Die gottesfürchtige Rumänin versucht es mit einem neuen Thema. „Iar a slăbit Petre Roman. Tot îi adunat în umeri, pîrlitu…“ Petre Roman hat wieder abgenommen. Er ist ganz schön zusammengeschrumpft, der Tropf… Sie schwärmt vom Premierminister und vor allem darüber, dass er mehrere Sprachen beherrscht. „E tare deştept…“ Er ist sehr gescheit…
Mit vollen Mägen erzählen sich Schwaben die vierzigjährige Geschichte des Eisernen Vorhangs nach Jugoslawien. Die eine oder andere gelungene Flucht wird in Erinnerung gerufen. Man erzählt von einem jungen Mann, der Mitte der 80er Jahre an der Grenze verschwunden ist, und darüber, was aus seinen Eltern geworden ist, deren einziges Kind er war. „Hier haben die Hunde und Krähen oft Menschenfleisch gekaut“, sagt jemand in die Dunkelheit.
gemalter Hund und Krähe
Busfahrer Bernd erzählt: Nach dem Mauerfall habe er es nicht mehr ausgehalten in Annaberg im Erzgebirge. Er habe noch Silvester ‘89/‘90 gefeiert und sei dann nach dem Westen gegangen. Jetzt lebe er in einer Wohnung mit sieben Zimmern und bezahle nur 350 Mark Miete, sagt er. Busfahrer Helmut erzählt von Schlesien. Seine Eltern seien von dort ‘44/’45 weg, an den Winter könne er sich noch erinnern. Ein Frührentner schwärmt von der Banater Heide. Ein Sachse wandert gedanklich durch siebenbürgische Weinberge. Vier Männer, vom Zufall zusammengebracht, erzählen von ihrer Heimat, in der sie nicht mehr leben wollen, nicht mehr leben können. Deutschland genießt sich gut. Die Heimat taugt irgendwann nur zum Klagen.
Seit drei Stunden sind wir an der Grenze. Die Kinder sind munter geworden und ungeduldig. Die Fahrer in den ersten Reihen an der Schranke üben sich in einem Hupkonzert. Der Soldat lächelt müde. Kurz danach wird er abgelöst.
gemaltes Bild von drei Hupen
Dialog über den Mittelgang des Busses: „Vun wu seit ihr?“ „Schässburg!“ „Sein dort noch Deitschi?“ „Ach!...“ „Ich sin vun Traunau, Aluniş uf Rumänisch. Dort sin jetzt noch drei Persone. Zwai warte mit‘m Pass in dr Hand uf die Einreise. Eeni Frau bleibt noch, sie hat a rumänische Mann…“ Der Siebenbürger Sachse schweigt. Der Banater Schwabe will reden: „Ich war heit morje nochmols uf’m Friedhof. Wer weeß, ob ich nochmols zurickkumm –, achgott…“
gemaltes Bild von vier Grabsteinen
Um die Zeit zu vertreiben, packt ein Mann wieder den Brotbeutel aus. „Heer eemol uf zu esse!“, herrscht ihn seine Frau an. „Strapazier dei Maa doch net so!“, redet sie auf ihn ein. „Heer uf zu meckre!“, zischt der Mann zurück.
gemaltes Bild eines Ehepaares vor einem Brotbeutel
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