Weihnachten in der Margarethen-Kirche in Mediasch


von Ingrid Fillinger

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Obwohl man in der Vorweihnachts­zeit mit ei­nem Be­such von Herrn Gutt rech­ne­te, so war sein plötz­li­ches Auf­tau­chen doch im­mer wie­der aufs Neue ei­ne Über­ra­schung. Es gab kei­ne Weih­nachts­män­ner aus Scho­ko­la­de, die in den Lä­den stramm stan­den und die ei­nen be­reits im Ok­to­ber an Weih­nach­ten er­in­ner­ten. Folg­lich war es Herr Gutt, der ei­nem die be­vor­ste­hen­den Fei­er­ta­ge ins Ge­dächt­nis rief. Er war für das Kas­sie­ren der Kir­chen­steu­er im Auf­trag der evan­ge­li­schen Kir­che in Me­diasch zu­stän­dig. Des­halb führ­ten ihn sei­ne We­ge im­mer wie­der in die säch­si­schen Haus­hal­te.

Wenn ich an Herrn Gutt zurück­den­ke, so se­he ich ihn vor mir in sei­ner Klei­dung, die mich an ei­nen Ti­ro­ler er­in­nert, weil er meis­tens Le­der­ho­sen, die un­ter­halb des Knies en­de­ten, trug. Da­zu hat­te er die pas­sen­den lan­gen Knie­strümp­fe an und ei­ne ge­strick­te beige Ja­cke mit Zopf­mus­ter und schö­nen Horn­knöp­fen. Weil er un­an­ge­mel­det und wie der Wir­bel­wind in die Kü­che oder in die Woh­nung der Sach­sen stürm­te, wa­ren auch sei­ne Haa­re manch­mal recht zer­zaust. Es muss­te im­mer al­les sehr schnell ge­hen, denn der gu­te Mann muss­te wei­ter und hat­te nicht viel Zeit. Man kann­te ihn in Be­glei­tung sei­ner brau­nen Le­der­ta­sche, die meis­tens prall mit Hef­ten, ei­nem Büch­lein und der Kas­se ge­füllt war und von der man im­mer dach­te, dass sie es bis zur nächs­ten Zah­lung nicht schaf­fen wür­de, weil das Le­der schon so ab­ge­nutzt und alt aus­sah. Doch das täusch­te, denn die Le­der­ta­sche hat­te er im­mer da­bei und sie wur­de ir­gend­wie zu ei­ner Art Gutt`schem Mar­ken­zei­chen.

Wenn Herr Gutt also kam, nahm er schnell am Kü­chen­tisch platz und hol­te ei­nen Din A5 gro­ßen Quit­tungs­block aus sei­ner Le­der­ta­sche he­raus. Vor­sich­tig leg­te er zwi­schen zwei Blät­ter das dun­kel­blaue dün­ne In­di­go­pa­pier und be­gann mit der Kos­ten­auf­stel­lung der Kir­chen­steu­er.

In der Vorweihnachtszeit muss­te er sich et­was mehr Zeit neh­men, weil er noch die Wei­hnachts­tüt­chen für die Kin­der an­spre­chen muss­te.

Jedes Kind, das noch nicht konfirmiert war, hat­te die Mög­lich­keit, bei der Weih­nachts­fei­er in der Kir­che ein klei­nes Ge­schenk zu er­hal­ten. Da­für muss­te man aber ei­ne klei­ne Spen­de zah­len. Folg­lich er­hielt man für das Kind ei­nen win­zi­gen vier­ecki­gen Zet­tel, auf dem ge­ra­de mal der run­de Stem­pel der Kir­che Platz hat­te und der kei­ne wei­te­ren Da­ten ent­hielt. Die­ses war so­zu­sa­gen der Ab­hol­schein des Weih­nachts­tüt­chens.

Als dann die Zeiten immer schlechter wur­den und die wich­tigs­ten Le­bens­mit­tel nur noch per "car­telă" ab­zu­ho­len wa­ren, freu­te sich die Kir­che, wenn man­che Müt­ter ih­nen mit et­was Mehl oder ein paar Ei­ern und Nüs­sen be­hilf­lich sein konn­ten, in­dem sie die­se der Kir­che spen­de­ten. Denn je­des Tüt­chen ver­barg ne­ben ein paar Sü­ßig­kei­ten noch ei­nen rot po­lier­ten Apfel in sich, ein paar Nüs­se und das Be­son­de­re: ein gro­ßes le­cke­res Leb­ku­chen­herz, in des­sen Mit­te ei­ne hal­be Wal­nuss mit­ge­ba­cken wur­de. Und ge­nau da­für be­nö­tig­te man so­wohl die Zu­ta­ten, die es ein­fach nicht mehr zu kau­fen gab, als auch ein paar hel­fen­de Hän­de der Omas, Tan­ten oder Müt­tern, die be­reit wa­ren, sich beim Ba­cken der Leb­ku­chen­her­zen zu be­tei­li­gen. Die­ses Herz wur­de von al­len Kin­dern sehr ge­liebt und je­der zeig­te es auf sei­ne Wei­se. Man­che Kin­der be­wahr­ten es wie ein Ju­wel auf, bis es stein­hart wur­de. An­de­re bohr­ten mit dem Fin­ger­chen zu­erst die Nuss he­raus und aßen das Herz erst nach ein paar Ta­gen auf. Und an­de­re wie­de­rum, aßen es vor­sich­tig rings­um auf und lie­ßen ei­ne an­ge­knab­ber­te klei­ne Leb­ku­chen­in­sel üb­rig, in de­ren Mit­te die Nuss noch trium­phier­te. Doch die­sem Auf­spa­ren konn­te man letzt­end­lich nicht all­zu lan­ge wi­der­ste­hen.

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Die Weihnachtsfeier in der Kir­che fand meis­tens ei­nen Tag vor dem Hei­lig­abend statt. Je­der war herz­lich will­kom­men, doch die­ses Mal war es die Fei­er der Kin­der!

So voll wie an diesen Abende war die Kir­che das gan­ze Jahr über nie. Kam man zu spät, fand man kaum noch ei­nen Platz zum sit­zen. Vor­ne in der Kir­che, wo der Pfar­rer meis­tens sei­ne Pre­digt hielt, stand ein rie­si­ger Tan­nen­baum, der im­mer wun­der­schön ge­schmückt war. Wenn man früh ge­nug an­kam, konn­te man noch ei­nem An­ge­stell­ten der Kir­che zu­se­hen, wie er ge­dul­dig ver­such­te mit ei­nem lan­gen Stock, an des­sen En­de ei­ne klei­ne Flam­me zu er­ken­nen war, die Ker­zen in der obe­ren Rei­hen des ho­hen Tan­nen­bau­mes an­zu­zün­den. Oft sah es für uns Kin­der sehr spa­ßig aus, wie er be­harr­lich sei­nen lan­gen Stock von Ker­ze zu Ker­ze schwenk­te und da­rauf war­te­te, dass sich der Docht end­lich an­zün­de­te. Je nach­dem wie er­folg­reich er war, misch­te sich dem fri­schen Tan­nen­ge­ruch und dem süß­li­chen Leb­ku­chen­hauch noch der ty­pi­sche Ker­zen­duft hin­zu. So man­ches ge­räusch­vol­le Lo­dern der Ker­zen, das sich wie ein Zün­deln der Na­deln an­hör­te, lies uns noch in­te­res­sier­ter auf die Tan­ne star­ren. Denn wel­ches Kind ent­deckt nicht ger­ne als Ers­tes, wenn ei­ne Ker­ze ei­nem Zweig­lein doch zu na­he kommt und die­ses ver­brennt?

Wenn der Pfarrer endlich kam, wurde es all­mäh­lich still und ganz an­däch­tig un­ter den äl­te­ren Leu­ten. Wir Kin­der hör­ten zwar sei­ner Pre­digt und Ge­schich­ten über Beth­le­hem, Ma­ria, Jo­sef und dem Je­sus­kind zu, doch teils war man ein­fach so von dem gro­ßen Tan­nen­baum fas­zi­niert, dass man ihn stän­dig mus­ter­te, um zu se­hen, was für Weih­nachts­schmuck ihn die­ses Mal so be­zau­bernd aus­se­hen ließ. Viel­leicht er­kann­te man ja noch vom letz­ten Jahr die ei­ne oder an­de­re in­te­res­san­te Ku­gel oder Stroh­fi­gur? So war man lan­ge be­schäf­tigt, al­les aus­ein­an­der zu fie­seln und zu rät­seln, ob der Stern an der Spit­ze et­wa ein Neu­er noch Un­be­kann­ter sei, oder wie vie­le Ker­zen der Baum die­ses mal zu tra­gen hat­te usw.  Doch wenn die Or­gel plötz­lich zum "Ihr Kin­der­lein kom­met" ein­stimm­te, zuck­te man er­schro­cken zu­sam­men und griff so­fort ganz ge­gen­wär­tig nach dem Ge­sangs­buch, um ar­tig mit­zu­sin­gen. Als Un­ter­stüt­zung der Ge­sangs­ta­len­te der Ge­mein­de stimm­te zu­sätz­lich noch der Kon­fir­man­den­chor mit ein, der sich oben auf dem Bal­kon am an­de­ren En­de des Kir­chen­schif­fes be­fand.

Schon als ich kleiner war, fiel mir die­ses klei­ne Ober­ge­schoss, in dem sich die gro­ße gol­de­ne Or­gel be­fand, po­si­tiv auf. Mir wur­de da­mals klar, dass ich auch mal von dort oben die Weih­nachts­fei­er er­le­ben möch­te. Es spra­chen näm­lich lau­ter Vor­tei­le da­für! So hat­te man von dort oben mit Si­cher­heit ei­nen viel bes­se­ren Blick auf den ge­sam­ten In­nen­raum und auf den leuch­ten­den Tan­nen­baum. Au­ßer­dem konn­te man gleich der Or­ga­nis­tin beim Or­gel­spiel fas­zi­niert zu­gu­cken, wel­ches ei­ne will­kom­me­ne Ab­wechs­lung zur Beth­le­hem­ge­schich­te war. Na­tür­lich musste man dann im Kin­der­chor mit­sin­gen, wenn man schon dort oben stand. Doch am En­de der Fei­er konn­te man viel schnel­ler in den Be­sitz sei­nes Weih­nachts­tüt­chens kom­men. Schließ­lich führ­te ei­ne kur­ze Wen­del­trep­pe aus Holz ei­nen blitz­schnell zum Aus­gang. Hier stan­den im­mer zwei Hel­fe­rin­nen, die ei­nen Wä­sche­korb vol­ler wei­ßen Pa­pier­tüt­chen hat­ten - und da­rauf hat­te man ja im­mer­hin ein gan­zes Jahr lang war­ten müs­sen!

Neugierig löste man das Band an dem Tüt­chen und spit­ze mal kurz rein, ob viel­leicht die klei­ne Oran­ge wie­der auf­ge­taucht war, die es frü­her in dem Tüt­chen gab. Ob­wohl die Freu­de recht groß war, end­lich das Tüt­chen in den Hän­den zu halten, ver­glich man doch noch vor Ort den In­halt mit sei­nen Ge­schwis­tern. Schließ­lich woll­te man si­cher ge­hen, dass nicht et­was ver­ges­sen wur­de. Doch le­dig­lich der Ap­fel, der zum Platz­hal­ter der Oran­ge wur­de, un­ter­schied sich in Grö­ße oder Schön­heit. Glück­lich und zu­frie­den rutsch­te man auf dem ge­fro­re­nen Schnee zwi­schen lau­ter Kin­der mit wei­ßen Weih­nachts­tüt­chen in den Hän­den aus dem Kirch­hof wie­der hi­naus Rich­tung war­me Stu­be.

Spätestens wenn Herr Gutt ge­gen En­de des nächs­ten Jah­res kam, fing man wie­der an, sich auf die wun­der­schö­ne all­jähr­li­che Weih­nachts­fei­er in der Mar­ga­re­then-Kir­che zu freu­en.

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