Weihnachten in der Margarethen-Kirche in Mediasch

Obwohl man in der Vorweihnachtszeit mit einem Besuch von Herrn Gutt rechnete, so war sein plötzliches Auftauchen doch immer wieder aufs Neue eine Überraschung. Es gab keine Weihnachtsmänner aus Schokolade, die in den Läden stramm standen, und die einen bereits im Oktober an Weihnachten erinnerten. Folglich war es Herr Gutt, der einem die bevorstehenden Feiertage ins Gedächtnis rief. Er war für das Kassieren der Kirchensteuer im Auftrag der evangelische Kirche in Mediasch zuständig. Deshalb führten ihn seine Wege immer wieder in die sächsischen Haushalte.

Wenn ich an Herrn Gutt zurückdenke, so sehe ich ihn vor mir in seiner Kleidung, die mich an einen Tiroler erinnert, weil er meistens Lederhosen, die unterhalb des Knies endeten, trug. Dazu hatte er die passenden langen Kniestrümpfe an und eine gestrickte beige Jacke mit Zopfmuster und schönen Hornknöpfen. Weil er unangemeldet und wie der Wirbelwind in die Küche oder in die Wohnung der Sachsen stürmte, waren auch seine Haare manchmal recht zerzaust. Es musste immer alles sehr schnell gehen, denn der gute Mann musste weiter und hatte nicht viel Zeit. Man kannte ihn in Begleitung seiner braunen Ledertasche, die meistens prall mit Heften, einem Büchlein und der Kasse gefüllt war, und von der man immer dachte, dass sie es bis zur nächsten Zahlung nicht schaffen würde, weil das Leder schon abgenutzt und alt aussah. Doch das täuschte, denn die Ledertasche hatte er immer dabei und sie wurde irgendwie zu einer Art Gutt`schem Markenzeichen.

Wenn Herr Gutt also kam, nahm er schnell am Küchentisch platz, und holte einen DinA5 großen Quittungsblock aus seiner Ledertasche heraus. Vorsichtig legte er zwischen zwei Blätter das dunkelblaue dünne Indigopapier und begann mit der Kostenaufstellung der Kirchensteuer.

In der Vorweihnachtszeit musste er sich etwas mehr Zeit nehmen, weil er noch die Weichnachtstütchen für die Kinder ansprechen musste.

Jedes Kind, das noch nicht konfirmiert war, hatte die Möglichkeit bei der Weihnachtsfeier in der Kirche ein kleines Geschenk zu erhalten. Dafür musste man aber eine kleine Spende zahlen. Folglich erhielt man für das Kind einen winzigen viereckigen Zettel, auf dem gerade mal der runde Stempel der Kirche Platz hatte, und der keine weiteren Daten enthielt. Dieses war sozusagen der Abholschein des Weihnachtstütchens.

Als dann die Zeiten immer schlechter wurden und die wichtigsten Lebensmittel nur noch per "cartelă" abzuholen waren, freute sich die Kirche, wenn manche Mütter ihnen mit etwas Mehl oder ein paar Eiern und Nüssen behilflich sein konnten, indem sie diese der Kirche spendeten. Denn jedes Tütchen verbarg neben ein paar Süßigkeiten noch einen rot polierten Apfel in sich, ein paar Nüsse und das Besondere: ein großes leckeres Lebkuchenherz in dessen Mitte eine halbe Walnuss mitgebacken wurde. Und genau dafür benötigte man sowohl die Zutaten, die es einfach nicht mehr zu kaufen gab, als auch ein paar helfende Hände der Omas, Tanten oder Müttern, die bereit waren sich beim Backen der Lebkuchenherzen zu beteiligen. Dieses Herz wurde von allen Kindern sehr geliebt und jeder zeigte es auf seine Weise. Manche Kinder bewahrten es wie ein Juwel auf, bis es steinhart wurde. Andere bohrten mit dem Fingerchen  zuerst die Nuss heraus und aßen das Herz erst nach ein paar Tagen auf. Und andere wiederum, aßen es vorsichtig ringsum auf und ließen eine angeknabberte kleine Lebkucheninsel übrig, in deren Mitte die Nuss noch triumphierte. Doch diesem Aufsparen konnte man letztendlich nicht all zu lange widerstehen.

Die Weihnachtsfeier in der Kirche fand meistens einen Tag vor dem Heiligabend statt. Jeder war herzlich willkommen, doch dieses Mal war es die Feier der Kinder!

So voll wie an diesen Abende war die Kirche das ganze Jahr über nie. Kam man zu spät, fand man kaum noch einen Platz zum sitzen. Vorne in der Kirche, wo der Pfarrer meistens seine Predigt hielt, stand ein riesiger Tannenbaum, der immer wunderschön geschmückt war. Wenn man früh genug ankam, konnte man noch einem Angestellten der Kirche zusehen, wie er geduldig versuchte mit einem langen Stock, an dessen Ende eine kleine Flamme zu erkenne war, die Kerzen in der oberen Reihen des hohen Tannenbaumes anzuzünden. Oft sah es für uns Kinder sehr spaßig aus, wie er beharrlich seinen langen Stock von Kerze zu Kerze schwenkte und darauf wartete, dass sich der Docht endlich anzündete. Je nachdem wie erfolgreich er war, mischte sich dem frischen Tannengeruch und dem süßlichen Lebkuchenhauch noch der typische Kerzenduft hinzu. So manches geräuschvolle Lodern der Kerzen, das sich wie ein Zündeln der Nadeln anhörte, lies uns noch interessierter auf die Tanne starren. Denn welches Kind entdeckt nicht gerne als Erstes, wenn eine Kerze einem Zweiglein doch zu nahe kommt und dieses verbrennt?

Wenn der Pfarrer endlich kam, wurde es allmählich still und ganz andächtig unter den älteren Leuten. Wir Kinder hörten zwar seiner Predigt und Geschichten über Bethlehem, Maria, Josef und dem Jesuskind zu, doch teils war man einfach so von dem großen Tannenbaum fasziniert, dass man ihn ständig musterte, um zu sehen, was für Weihnachtsschmuck ihn dieses Mal so bezaubernd aussehen ließ. Vielleicht erkannte man ja noch vom letzten Jahr die eine oder andere interessante Kugel oder Strohfigur? So war man lange beschäftig alles auseinander zu fieseln, und zu rätseln, ob der Stern an der Spitze etwa ein Neuer noch Unbekannter sei, oder wie viele Kerzen der Baum dieses mal zu tragen hatte usw.  Doch wenn die Orgel plötzlich zum "Ihr Kinderlein kommet" einstimmte, zuckte man erschrocken zusammen und griff sofort ganz gegenwärtig nach dem Gesangsbuch, um artig mitzusingen. Als Unterstützung der Gesangstalente der Gemeinde stimmte zusätzlich noch der Konfirmandenchor mit ein, der sich oben auf dem Balkon am anderen Ende des Kirchenschiffes befand.

Schon als ich kleiner war fiel mir dieses kleine Obergeschoss, in dem sich die große goldene Orgel befand, positiv auf. Mir wurde damals klar, dass ich auch mal von dort oben die Weihnachtsfeier erleben möchte. Es sprachen nämlich lauter Vorteile dafür! So hatte man von dort oben mit Sicherheit einen viel besseren Blick auf den gesamten Innenraum und auf den leuchtenden Tannenbaum. Außerdem konnte man gleich der Organistin beim Orgelspiel fasziniert zugucken, welches eine willkommene Abwechslung zur Bethlehemgeschichte war. Natürlich musste man dann im Kinderchor mitsingen, wenn man schon dort oben stand. Doch am Ende der Feier konnte man viel schneller in den Besitz seines Weihnachtstütchens kommen. Schließlich führte eine kurze Wendeltreppe aus Holz einen blitzschnell zum Ausgang. Hier standen immer zwei Helferinnen, die einen Wäschekorb voller weißen Papiertütchen hatten - und darauf hatte man ja immerhin ein ganzes Jahr lang warten müssen!

Neugierig löste man das Band an dem Tütchen und spitze mal kurz rein, ob vielleicht die kleine Orange wieder aufgetaucht war, die es früher in dem Tütchen gab. Obwohl die Freude recht groß war endlich das Tütchen in Händen zu halten, verglich man doch noch vor Ort den Inhalt mit seinen Geschwistern. Schließlich wollte man sicher gehen, dass nicht etwas vergessen wurde. Doch lediglich der Apfel, der zum Platzhalter der Orange wurde, unterschied sich in Größe oder Schönheit. Glücklich und zufrieden rutschte man auf dem gefrorenen Schnee zwischen lauter Kinder mit weißen Weihnachtstütchen in den Händen aus dem Kirchhof wieder hinaus Richtung warme Stube.

Spätestens wenn Herr Gutt gegen Ende des nächsten Jahres kam, fing man wieder an sich auf die wunderschöne alljährliche Weihnachtsfeier in der Margarethen-Kirche zu freuen.

© by Ingrid Fillinger
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Informationen über die Margarethenkirche in Mediasch

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