Des Wahrsagers kleine Helfer

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Neulich zeigte mir jemand ak­tuel­le Fo­tos aus Ru­mä­nien. Zwi­schen den vie­len Auf­nah­men be­fand sich ein Fo­to mit dem Ti­tel "Wahr­sa­ge­rin mit Pa­pa­gei".
Im ersten Augenblick war ich et­was ir­ri­tiert und wuss­te nicht so Recht, was da­mit ge­meint sei. Doch all­mäh­lich er­in­ner­te ich mich an ei­ne Sze­ne, die ich als Kind in mei­ner Hei­mat­stadt öf­ters ge­se­hen hat­te. Al­ler­dings ver­schwand die­se Ku­rio­si­tät ganz un­auf­fäl­lig. Wahr­schein­lich hat­te der Tod wie­der mal sei­ne Hand im Spiel...
Gerade bei den Frau­en war es sehr be­liebt, sich wahr­sa­gen zu las­sen. Ab und zu kam ei­ne so ge­nann­te Cor­tu­rari Zi­geu­ne­rin auch zu uns ins Haus, wo sie sich mit Hand- oder Kaf­fe­satz­le­sen mäch­tig ins Zeug leg­te. Die­ses war je­doch nur ei­ne von vie­len Mög­lich­kei­ten, um sich ei­nen klei­nen Blick in die Zu­kunft zu er­mög­li­chen.
Im Zentrum von Mediasch war an man­chen Ta­gen ein äl­te­rer Mann an­zu­tref­fen, der sei­nen Stamm­platz fast im­mer in der Nä­he der Apo­the­ke hat­te. Na­tür­lich fand er hier am ein­fachs­ten sein Klien­tel, näm­lich die Frau­en. Sie muss­ten auf ih­rem Weg zur Apo­the­ke, um Hy­gie­ne­ar­ti­kel zu kau­fen, sei­nen Weg kreu­zen.
Mir fiel plötzlich das fins­te­re Ge­sicht die­ses Man­nes wie­der ein, so als wür­de man ein Fo­to ei­ner al­ten ver­staub­ten Scha­tul­le ent­neh­men.
Der alte Mann besaß ein Art Bauch­la­den auf Rä­dern, auf dem ein klei­nes, höl­zer­nes Ge­stell mit zwei Spros­sen stand. Wir Kin­der, die öf­ters an Mut­ters Sei­te hin­gen, schenk­ten un­se­re gan­ze Auf­merk­sam­keit den bei­den nied­li­chen Nym­phen­sit­ti­che, die auf die­sen Spros­sen sa­ßen. Der ei­ne war gelb, der an­de­re grün, und bei­de sa­ßen brav und fast un­be­weg­lich auf ih­rem win­zi­gen Platz. Ei­ne klei­ne gold­far­be­ne Ket­te führ­te von der Spros­se zum Fuß­ge­lenk des Vö­ge­leins. Ne­ben dem Holz­ge­stell stand noch ein klei­ner Kar­ton, in dem sich hun­der­te von wei­ßen, ge­fal­te­ten Zet­tel­chen be­fan­den. Die­se wa­ren sehr or­dent­lich in Reih und Glied sor­tiert.
Selbstverständlich galt un­ser In­te­res­se we­ni­ger dem Kar­ton, des­sen In­hal­te wir eh noch nicht le­sen und ver­ste­hen konn­ten. Son­dern wir be­wun­der­ten die gan­ze Zeit die klei­nen bun­ten Sit­ti­che. So ent­ging uns bei­na­he, dass sich der fins­te­re Mann in ei­nen auf­merk­sa­men Luchs ver­wan­del­te. Im­mer, wenn sich eine Frau in Be­glei­tung ih­res Kin­des sei­nem Stand nä­her­te, nahm er das Kind rich­tig ins Vi­sier. Denn: Wer hät­te nicht ger­ne mal ei­nen der Vö­gel kurz an­ge­fasst oder so­gar ge­strei­chelt? Aber je­des Mal, wenn ein Kind zag­haft die Hand in Rich­tung Spros­se hob, schnell­te die gro­ße, mah­nen­de Hand des Man­nes da­zwi­schen. Gleich­zei­tig sag­te er mit mür­ri­scher Stim­me, dass das Be­rüh­ren der Vö­gel ver­bo­ten sei. So­wohl das Aus­se­hen des Man­nes, als auch sei­ne tie­fe Stim­me lie­ßen bei Kin­dern wohl kaum noch den Ge­dan­ken auf­kom­men, den Vo­gel ir­gend­wie heim­lich zu be­rüh­ren.
Die Kundschaft musste dem Mann ei­nen klei­nen Be­trag in Lei zah­len. Erst dann griff er zu dem klei­nen Kar­ton mit den vie­len Zet­teln und rüt­tel­te ihn vor dem Schna­bel je­nes Vo­gels, den man vor­her aus­su­chen durf­te. Das ra­scheln­de Ge­räusch, so­wie die Be­we­gung des Kar­tons lie­ßen den Vo­gel auf­merk­sam wer­den. Folg­lich tauch­te sein Köpf­chen kurz in den Kar­ton ein und als er wie­der zum Vor­schein kam, hielt der Sit­tich ei­nen Zet­tel in sei­nem Schna­bel. Der grim­mi­ge Mann nahm ihm vor­sich­tig die Beu­te ab und reich­te sie der Kun­din.
Frau vor Bierkasten
Foto: Rainer Beel
Auf den Zetteln standen im All­ge­mei­nen nur 1 - 2 Zei­len, die wahr­schein­lich mit ei­ner ur­al­ten Schreib­ma­schi­ne ge­tippt wur­den. Das dün­ne Pa­pier war näm­lich von dem Auf­schlag der Let­tern leicht per­fo­riert. Die kur­ze und rät­sel­haf­te Weis­sa­gung er­freu­te oder be­trüb­te die Le­se­rin im wei­te­ren Ver­lauf ih­res Ta­ges.
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