Aberglaube und Wunderheilung

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Wer schon einmal in Ru­mä­nien war, hat viel­leicht be­merkt, dass der Aber­glau­be auf ei­ner Ska­la von er­fri­schend bis skur­ril an­zu­tref­fen ist.
So war mir schon als Kind die Ge­schich­te des "Vo­gel des To­ten" be­kannt. Sie er­zähl­te von ei­nem Käuz­chen, ru­mä­nisch "cu­cu­vea" oder "pa­sa­rea mor­tu­lui" ge­nannt. Wer abends vom Dach sei­nes Hau­ses die Ru­fe des Käuz­chen hör­te, muss­te mit ei­nem To­des­fall im ei­ge­nen oder nach­bar­li­chen Haus rech­nen. Da in fast je­dem Haus jun­ge und al­te zu­sam­men leb­ten, war es für den Vo­gel ei­ne Leich­tig­keit, die Men­schen mit sei­ner ho­hen Tref­fer­quo­te zu be­ein­dru­cken.
Anders als mit der cu­cu­vea, der man macht­los ge­gen­über­stand, war der Glau­be da­ran, dass je­mand "deo­cheat" sein könn­te. Die­ser Be­griff fiel sehr häu­fig, wenn ei­ne Per­son sich schlecht oder krank fühl­te. Es hieß, das Un­be­ha­gen kä­me von ei­nem ma­gi­schem Blick der Be­wun­de­rung oder aus Neid, ja so­gar aus Bos­heit. Ei­ne Hei­lung hat­ten Ro­ma­frau­en oft pa­rat. Sie zün­de­ten ein Streich­holz an und lie­ßen es bren­nend in ein Was­ser­glas fal­len. Ei­nen ge­rin­gen Teil die­ses Was­sers wur­de über ei­nen Tür­rah­men ge­gos­sen, da­mit das Bö­se nun durch die­se Tür die Welt wie­der ver­las­sen konn­te. Den Rest des Was­sers muss­te die be­trof­fe­ne Per­son aus­trin­ken, um ge­heilt zu wer­den.

Eines Tages tat sich für mich et­was ganz Neu­es im Be­reich des Aber­glau­bens auf. Ei­ne Wun­der­hei­le­rin sorg­te plötz­lich für bri­san­ten Ge­sprächs­stoff un­ter den Er­wach­se­nen. Mit gro­ßem In­te­res­se ver­folg­te ich die Ge­rüch­te der Leu­te, die von den Wun­der­ta­ten der Hei­le­rin zu be­rich­ten wuss­ten. Ich konn­te mir da­run­ter nur ein mär­chen­haf­tes We­sen vor­stel­len. Doch es hieß, sie wä­re ei­ne se­ri­öse Frau, ei­ne Un­ga­rin be­haup­te­ten man­che, die kran­ken Men­schen mit ver­schie­de­nen Ölen und Heil­pflan­zen (lea­curi) be­reits ge­hol­fen hät­te.
Die Wunderheilerin wur­de aus­fin­dig ge­macht und für ei­nen be­stimm­ten Preis er­schien sie tat­säch­lich zu ei­nem Ter­min in un­se­rem Haus.

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Sie war einfach gekleidet und sah ganz nor­mal wie je­de Frau ih­res Al­ters aus. Ei­gent­lich wur­de sie we­gen der kran­ken Oma ge­ru­fen, doch sie warf auch ei­nen kri­ti­schen Blick auf mei­ne Kin­der­händ­chen. Die­se wa­ren lei­der von vie­len klei­nen War­zen über­sät. Ich er­war­te­te, dass die Hei­le­rin hoff­nungs­los den Kopf schüt­teln wür­de. Statt­des­sen bat sie um ein knall­ro­tes Stück Garn und star­te­te mit dem Ho­kus­po­kus. Sie rub­bel­te kurz an ei­ner War­ze, mur­mel­te ein paar un­ver­ständ­li­che Wor­te und mach­te ei­nen Kno­ten ins Garn. Dann rub­bel­te sie mur­melnd an der nächs­ten War­ze und wie­der schmück­te ein neu­er Kno­ten das Garn. Am En­de hat­te je­de War­ze ih­re Wun­der­kur und ei­nen Kno­ten im Garn er­hal­ten. Schließ­lich ver­ließ die Wun­der­hei­le­rin den Raum. Nie­mand durf­te ihr fol­gen und ihr auch nicht hin­ter­her se­hen. Als sie wie­der zu­rück kam, rich­te­te sie zwei mah­nen­de Sät­ze an mich: Ers­tens sei es ab­so­lut ver­bo­ten im Hof und in dem Gar­ten nach dem ro­ten Garn zu su­chen und zwei­tens dürf­te ich nie wie­der an die War­zen den­ken.
Selbstverständlich ging ich spä­ter in den Gar­ten und ins­pi­zier­te je­de dunk­le Stel­le auf dem Bo­den, su­chend nach frisch auf­ge­lo­cker­ter Er­de. Aber ich konn­te nichts ent­de­cken. Die kind­li­che Neu­gier­de, die in die­sem Fall fast schon an ein Schatz­su­chen­fie­ber grenz­te, war zwei­fel­los groß, doch mir war auch be­wusst, was auf mich zu­kom­men wür­de, wenn ich we­gen ei­nes Garns den Gar­ten auf­gra­ben wür­de. In den fol­gen­den Wo­chen ach­te­te ich ganz ge­nau auf die ver­zau­ber­te Haut und mit de­tek­ti­visch ge­konn­tem Blick un­ter­such­te ich je­de Po­re auf even­tu­el­le Ver­än­de­run­gen. Aber lei­der war ab­so­lut kei­ne Bes­se­rung in Sicht.
Irgendwann wurde ich der fi­li­gra­nen Kon­trol­le über­drüs­sig und ver­gaß wei­te­re Beo­bach­tun­gen zu un­ter­neh­men. Nach ei­ni­gen Mo­na­ten fiel mir auf, dass ich tat­säch­lich kaum noch War­zen hat­te. Spä­ter wa­ren sie plötz­lich al­le ver­schwun­den und ka­men nie wie­der.

Das Zeitalter des Internets war da­mals noch ent­fern­te Zu­kunfts­mu­sik. Folg­lich wuss­te man nicht viel über die ver­schie­de­nen War­zen­for­men, auch nicht da­rü­ber, dass ei­ni­ge Ar­ten ein­fach von selbst ab­hei­len.
So empfand ich noch ei­ne gan­ze Wei­le, dass der gu­te Ruf der Wun­der­hei­le­rin ge­recht­fer­tigt war.

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