Ionuţ macht sich auf den Weg


von Ingrid Fillinger

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Es war kalt in der Lehm­hüt­te. Ionuţ rück­te die Stei­ne der Feu­er­stel­le nä­her zu­sam­men und leg­te vor­sich­tig ein wei­te­res Stück Holz da­rauf. Ein an­ge­neh­mer Tan­nen­ge­ruch füll­te den Raum. Die De­cke, die sei­ne kran­ke Mut­ter be­deck­te, war leicht ver­scho­ben. Vor­sich­tig zog er sie wie­der hoch und be­rühr­te da­bei Mut­ters Hand. Das Fie­ber schien all­mäh­lich zu sin­ken. Um sie nicht zu we­cken, ging er lei­se zum Tisch, auf dem das letz­te Stück Brot lag. Er ent­fern­te die Krus­te, pack­te die­se in ein al­tes Ta­schen­tuch, das er gut in sei­ne Ho­sen­ta­sche ver­stau­te. Das Brot­stück leg­te er auf ein klei­nes Holz­brett und stell­te es ne­ben sei­ne schla­fen­de Mut­ter. "Ich soll das Was­ser nicht ver­ges­sen", dach­te Io­nuţ und füll­te gleich die Blech­tas­se mit fri­schem Was­ser auf. Da­nach wi­ckel­te er sei­ne Fü­ße in war­me Lum­pen. An­schlie­ßend pack­te er je­den Fuß vor­sich­tig in ein Zie­gen­fell, das er mit ei­nem Band zu­sam­men­schnür­te bis sein win­ter­li­ches Schuh­werk auch un­ter­halb der Wa­de rich­tig fest saß.

Va­ters alter Um­hang hing im­mer noch an der Tür, wo er ihn zu­letzt ver­staut hat­te. Ob­wohl Io­nuţ drei­zehn Jah­re alt war, wirk­te er we­sent­lich klei­ner und zier­li­cher. Erst nach ei­ni­gen Ver­su­chen schaff­te es der Jun­ge, sich in den Um­hang ein­zu­wi­ckeln, so dass auch das Ge­sicht ver­hüllt war und nur sei­ne brau­nen Knopf­au­gen raus­späh­ten.

Noch ein letzter Blick in Rich­tung Feu­er­stel­le, dann öff­ne­te er ganz lei­se die Tür und schlich nach drau­ßen.

Ein eisiger Wind peitschte ihm so­fort ent­ge­gen und drück­te Trä­nen in sei­ne Au­gen, doch er wuss­te, dass er sich bald da­ran ge­wöh­nen wür­de. Mit har­ten Schrit­ten folg­te er dem klei­nen Pfad, den die Dorf­be­woh­ner auf ih­rem Weg zur Kir­che in den Schnee fest­ge­tre­ten hat­ten. Noch war es leicht da­rin zu ge­hen. Doch am En­de des Dor­fes, ab der klei­nen Holz­kir­che en­de­te der Pfad und Io­nuţ muss­te nun durch den Tief­schnee stap­fen. Das nächs­te Dorf war ei­nen gu­ten Ta­ges­marsch ent­fernt. Dort hoff­te der Jun­ge ein paar Ta­ge ar­bei­ten zu kön­nen, weil er sei­ner Mut­ter end­lich ei­ne kräf­ti­ge Mahl­zeit zu Weih­nach­ten auf den Tisch stel­len woll­te.

Stundenlang kämpfte sich Io­nuţ durch den tie­fen Schnee. "Wenn bloß der Wind nach­las­sen wür­de", dach­te der Jun­ge. Er ver­such­te auf je­den Baum zu ach­ten, um sich ja nicht zu ver­ir­ren.

Schneelanfschaft

Am Waldrand angekommen, freute er sich, Schutz vor dem hef­ti­gen Wind ge­fun­den zu ha­ben. Al­ler­dings muss­te er nun ge­schickt dem ge­lo­cker­ten Schnee aus­wei­chen, der wie wei­ße Bau­klöt­ze he­run­ter­fiel, wenn der Wind sich in den ho­hen Baum­kro­nen aus­tob­te. Plötz­lich muss­te Io­nuţ an sei­nen Va­ter den­ken, der schon be­reits die zwei­ten Weih­nach­ten nicht mehr bei ih­nen sein durf­te. Nach­dem der Va­ter von sei­ner letz­ten Jagd nicht mehr zu­rück­kehr­te, er­zähl­ten sich die Dorf­be­woh­ner die ver­schie­dens­ten Ge­schich­ten. Ei­ni­ge be­rich­te­ten von ei­nem gro­ßen Bä­ren, der im Wald sein Un­we­sen trieb. An­de­re mein­ten, dass sein Va­ter eher von ei­nem Ru­del hun­gri­ger Wöl­fe zu To­de ge­jagt wur­de. Auch wenn Io­nuţ an­fangs kei­ner Ge­schich­te Glau­ben schen­ken konn­te, gab er ir­gend­wann die Hoff­nung auf, sei­nen Va­ter je­mals wie­der zu se­hen.

In der abendlichen Däm­me­rung er­kann­te Io­nuţ die ers­ten Hüt­ten in der Fer­ne. Er­leich­tert at­me­te er auf, denn jeg­li­ches Ge­fühl aus sei­nen Fü­ßen war ver­schwun­den. Auch sei­ne zar­ten Fin­ger wa­ren steif vor Käl­te und der Hun­ger quäl­te ihn. Es wa­ren vie­le Stun­den ver­gan­gen, seit­dem er die Krus­te aus dem Ta­schen­tuch her­vor­ge­holt und auf­ge­ges­sen hat­te. Io­nuţ freu­te sich beim Ge­dan­ken an ei­ne gu­te Mahl­zeit bei sei­nem On­kel Tu­dor, dem Schrei­ner des Dor­fes. Doch als er den letz­ten Hü­gel müh­sam hoch ge­stapft war, pack­te ihn das blan­ke Ent­set­zen. Kei­ne Men­schen­see­le war weit und breit zu se­hen. To­ta­le Fins­ter­nis herrsch­te über dem Dorf. Was war ge­sche­hen? Er kann­te die grau­sa­men Ge­schich­ten über die An­grei­fer und Plün­de­rer, die von der an­de­ren Sei­te des gro­ßen Flus­ses ka­men. Doch die Al­ten be­haup­te­ten im­mer, dass man sie im Win­ter nicht fürch­ten müs­se. Io­nuţ stand wie an­ge­wur­zelt auf dem Dorf­platz und konn­te nir­gends ein klei­nes Ker­zen­licht ent­de­cken. Das Dorf war ver­las­sen. Die Plün­de­rer müs­sen wohl al­les mit­ge­nom­men ha­ben. "Ob die Leu­te Zu­flucht in dem Wald ge­sucht ha­ben, oder mit­ge­hen muss­ten?", frag­te sich Io­nuţ. Plötz­lich spür­te er, wie sei­ne Knie weich wur­den und es schien, als woll­ten sie ihm nicht mehr ge­hor­chen. Er ließ sich in den Schnee fal­len, ver­barg sein Ge­sicht im Schoß und be­gann bit­ter­lich zu wei­nen. Er wein­te nicht we­gen dem klei­nen Fest­es­sen, wel­ches er an Weih­nach­ten sei­ner Mut­ter nicht schen­ken konn­te, son­dern we­gen all den Men­schen, die bis vor kur­zem in dem Dorf un­ter­halb der Süd­kar­pa­ten fried­lich le­ben durf­ten. Sie hat­ten al­le, wie auch Io­nuţ, kein leich­tes Le­ben. Doch sie wa­ren den­noch glück­lich. Wie lan­ge der Jun­ge im Schnee lag und wein­te, konn­te er sich am nächs­ten Tag nicht mehr er­in­nern. Auch nicht, wie er letzt­end­lich doch noch die Hüt­te sei­nes On­kels er­reicht hat­te.

Bauernhaus

Am nächsten Morgen kämpf­te Io­nuţ müh­sam mit sei­nen hef­tig schmer­zen­den Glie­dern. Als er sich in der al­ten Hüt­te nach et­was Brenn­holz um­sah, ent­deck­te er in ei­ner dunk­len Ecke die Kis­te des On­kels. Da be­wahr­te der al­te Schrei­ner all sein Werk­zeug auf. Mit ei­nem Freu­den­sprung stand Io­nuţ plötz­lich vor der Kis­te und schob sie vor­sich­tig in sei­ne Rich­tung. Als er noch ein klei­ner Jun­ge war, hat­te ihm sein On­kel bei­ge­bracht, wie man aus ei­nem ein­fa­chen Holz­stück ei­nen klei­nen Vo­gel schnit­zen konn­te. Io­nuţ er­in­ner­te sich auch an das Mes­ser aus der Kis­te wie­der. Ob­wohl er sei­ne Fin­ger vor Käl­te kaum noch spür­te, konn­te er die schar­fe Klin­ge füh­len, als er das Mes­ser lie­be­voll be­rühr­te. Am liebs­ten hät­te er die gan­ze Kis­te mit­ge­nom­men, doch sie war viel zu schwer. Io­nuţ ent­schied sich für das Mes­ser, wi­ckel­te es in sein Ta­schen­tuch und steck­te es vor­sich­tig in den Um­hang. In ei­ner Ho­sen­ta­sche fand er noch et­was Platz für klei­ne­res Werk­zeug. Als der Jun­ge die Tür hin­ter sich zu­fal­len ließ, bat er Gott, al­le Dorf­be­woh­ner wie­der zu­rück­keh­ren zu las­sen.

Inzwischen hatte der Wind auf­ge­hört mit den Schnee­mas­sen zu spie­len, doch es war im­mer noch bit­ter­kalt. Bei je­dem Schritt knirsch­te der Schnee mür­risch un­ter sei­nen Fü­ßen. Oder war es sein Ma­gen, der sich so ver­zwei­felt an­hör­te? Io­nuţ fühl­te sich rich­tig elend und frag­te sich, wie er es wohl zu­rück zu sei­ner Mut­ter schaf­fen wür­de. Hung­rig lenk­ten ihn sei­ne Schrit­te von Hüt­te zu Hüt­te in der Hoff­nung viel­leicht doch noch ein Stück­chen Brot zu fin­den. Er hät­te es gern ver­schlun­gen, wä­re es auch ver­schim­melt ge­we­sen. Doch al­les war weg.

Als er das Ende des Dor­fes er­reich­te, sah er, dass der Wind ei­nen klei­nen Bret­ter­ver­schlag vom Schnee be­freit hat­te. Dort tum­mel­ten sich einst ein paar Hüh­ner, doch jetzt war der win­zi­ge Stall kaum noch zu er­ken­nen. Io­nuţ nahm die we­ni­gen Schrit­te auch noch in Kauf und nä­her­te sich vor­sich­tig dem zer­trüm­mer­ten Stall. Durch ei­ne Rit­ze zwäng­te sich ein Licht­strahl, der auf ein Häuf­lein Stroh fiel. Der Jun­ge rieb sei­ne mü­den Au­gen. Da la­gen tat­säch­lich drei Ei­er. Die Plün­de­rer muss­ten sie wohl über­se­hen ha­ben, oder sie wa­ren nur an den Hüh­nern in­te­res­siert. Io­nuţ über­leg­te nicht lan­ge, schnapp­te sich die Ei­er und schlürf­te ei­nes nach dem an­de­ren has­tig aus. End­lich fühl­te er sich wie­der stark ge­nug, um den Heim­weg an­zu­tre­ten. Den Hang, den Io­nuţ abends nur mühe­voll be­wäl­ti­gen konn­te, lief er nun bei­na­he mit der Leich­tig­keit ei­nes Vo­gels wie­der he­run­ter. Das letz­te Stück schlit­ter­te er ver­spielt auf sei­nem Um­hang berg­ab. Er muss­te bloß auf sein Mes­ser gut auf­pas­sen, denn mit ihm fühl­te er sich bei­na­he reich. Am frü­hen Nach­mit­tag er­reich­te Io­nuţ den ihm wohl ver­trau­ten Wald­rand. Sei­nen leicht ver­weh­ten Spu­ren fol­gend, be­trat er am spä­ten Abend dann sein Heimat­dorf.

Zu Hause angekommen, be­rich­te­te er sei­ner Mut­ter, die sich schon viel bes­ser fühl­te, über die trau­ri­gen Er­eig­nis­se aus On­kel Tu­dors Dorf. Sie ver­such­te ihn zu trös­ten und mein­te, dass gleich nach den Fei­er­ta­gen ein Such­trupp sich all den ver­miss­ten Dorf­be­woh­nern an­neh­men wür­de.

Ei

In den darauf folgenden Ta­gen schnitz­te Io­nuţ wie be­ses­sen drei Ei­er. Mit ei­nem Stück Koh­le be­gann er auf ei­nem Ei ei­ne Win­ter­land­schaft zu ma­len. Die zar­ten Wachs­trop­fen ei­ner Ker­ze hal­fen ihm die Schnee­flo­cken dar­zu­stel­len. Wäh­rend ei­ne Krip­pe mit Hir­ten das zwei­te Ei zier­te, wähl­te er für das letz­te Ei stol­ze Tan­nen­bäu­me aus. An Hei­lig­abend be­fes­tig­te er ei­nen klei­nen Tan­nen­zweig an der Wand der Hüt­te und häng­te die wun­der­schö­nen Ei­er auf.

Von jetzt an schnitz­te Io­nuţ je­des Jahr neu­e Weih­nachts­ei­er und all­mäh­lich fan­den auch die Dorf­be­woh­ner Ge­fal­len da­ran, zu­mal die Ei­er auch teil­wei­se re­li­giö­se Ma­le­rei­en er­hiel­ten.

Die Geschichte von Ionuţ und den drei Ei­ern, die ihn vor dem Hun­ger­tod in der Käl­te ret­te­ten, ver­brei­te­te sich sehr schnell. Im­mer öf­ter hör­te man von die­sem neu­en Brauch, bei dem an Weih­nach­ten Tan­nen­zwei­ge mit bunt be­mal­ten Holz­ei­ern ge­schmückt wer­den sol­len. Frem­de Men­schen die ein­mal in dem Dorf wa­ren, er­zähl­ten mit Be­geis­te­rung von der Weih­nachts­tra­di­tion mit der ova­len Zier­de. Man kann nicht mehr ge­nau nach­voll­zie­hen, ab wann Io­nuţ klei­nes Dorf den Na­men Ouceşti be­kam. Doch man weiß mit Si­cher­heit, wo­her der Na­me stammt. Aus dem Ru­mä­ni­schen über­setzt be­deu­tet "ou" nichts an­ders als "Ei".

Heute noch ist es in Ouceşti und sei­ner Um­ge­bung Brauch, ne­ben dem uns be­kann­ten klas­si­schen Tan­nen­baum­schmuck auch wun­der­schön be­mal­te Weih­nachts­ei­er vor­zu­fin­den.

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ist die Geschichte über Ouceşti, dem Dorf mit den Weihnachts­eiern, wahr oder falsch?
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