Das weihnachtliche Kohlfass


von Nina May

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"Du kannst nicht an Weih­nach­ten al­lei­ne blei­ben", ent­schei­det Mag­da­le­na be­stimmt und kne­tet mein Bauch­fett. Ich pro­tes­tie­re schwach. Mag­da­le­na wischt sich das Öl von den Hän­den, fischt ei­nen Zet­tel aus ih­rer Ta­sche und be­ginnt zu zeich­nen. Ein Wirr­warr aus Li­ni­en und Vier­ecken ent­steht auf dem Pa­pier. Da­run­ter schreibt sie: Block 86, Trep­pe 2, Stock 5, Ap­par­te­ment 65. 25.12., 13:00 Uhr. Und ih­re Te­le­fon­num­mer. Ich blei­be zu­rück mit dem auf­ge­klapp­ten Stadt­plan und dem Zet­tel. Und mit ge­misch­ten Ge­füh­len. Will ich da hin? Muss ich? Ich be­schlie­ße, es als Ex­pe­ri­ment zu be­trach­ten. Wenn ich sie in mei­ne Welt nicht auf­neh­men kann, dann muss ich wohl ei­nen Blick in die ih­re wer­fen.
25. Dezember 2003, 12:30 Uhr. Mei­ne Haus­tür geht kaum auf, die Trep­pe ist ver­eist. Drei Hun­de­tie­re sprin­gen freu­dig an mir hoch. Ich schie­be mich durch wei­ße Mas­sen zum Gar­ten­tor: es ist zu­ge­fro­ren. Da­hin­ter und da­vor un­end­li­che Schnee­ber­ge. Ich zer­re, rütt­le, zwän­ge mich durch den ent­stan­de­nen Spalt. Mein Au­to ist un­ter ei­nem Eis­berg be­gra­ben, den der Schnee­pflug just an die­ser Stel­le an­ge­häuft hat. Nur der Him­mel weiß, wo die Schnee­schau­fel ist. Schließ­lich ge­be ich mich ge­schla­gen, ge­he ins Haus zu­rück und wäh­le die Num­mer von Mag­da­le­na. Ich will mich ent­schul­di­gen, dass ich nicht kom­men kann.
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Magdalena nennt mir ei­nen Bus, doch ich ken­ne die Hal­te­stel­le nicht. Ich schla­ge die U-Bahn vor, mit an­schlie­ßen­dem Fuß­marsch. "Fuß­marsch?" - Ei­ne ent­setz­te männ­li­che Stim­me aus dem Hin­ter­grund. Die Stim­me ruft ei­ne Stra­ßen­bahn­num­mer, die von der U-Bahn­hal­te­stel­le bis vor ihr Haus fährt. Ich stop­fe has­tig ei­nen Rot­wein und ei­nen Sekt in den Ruck­sack, ei­nen Christ­stol­len und ei­ne Schach­tel selbst­ge­mach­ter Pra­li­nen. Pa­cke mich ein wie für ei­ne Po­lar­tour: Ano­rak, Hand­schu­he, 3 Me­ter Schal, Moon­boots. Ei­ne Hand­voll Mün­zen in die Ano­rak­ta­sche, den Rest in den Bauch­gurt da­run­ter.
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Der Rucksack passt kaum durch den zu­vor hart er­kämpf­ten Spalt im Gar­ten­tor. Doch dann stap­fe ich durch knie­ho­he Schnee­we­hen mit­ten auf der Stra­ße. Es ist an­stren­gend, aber ir­gend­wie schön. Am Ein­gang der U-Bahn sitzt ein Mann und bet­telt. Be­vor ich über­le­gen kann, bin ich vor­bei, kau­fe mei­ne Fahr­kar­te. Schwit­ze in der über­heiz­ten U-Bahn­sta­tion, rei­ße mei­ne Ja­cke auf und den Schal he­run­ter. Se­he mich um. Al­le an­de­ren sind bis oben hin an­ge­zo­gen. Wie die das nur aus­hal­ten? Auf der Trep­pe zur Bahn Rich­tung "Bu­cur Obor" wie­der ein Bett­ler. Ge­ra­de als ich vor­bei­ge­he, streckt er sei­ne Hand aus. Ich fas­se in mei­ne Ano­rak­ta­sche und för­de­re ei­ni­ge Mün­zen zu­ta­ge, drü­cke sie in ei­ne rau­he, schmut­zi­ge Hand. Den­ke, Mist, das wa­ren zu­vie­le. Nun muss ich an den Bauch­gurt für die nächs­te Fahr­kar­te. Ei­ne Se­kun­de lang über­le­ge ich, dem al­ten Mann ein­fach den Christ­stol­len zu schen­ken. Was der wohl den­ken wür­de? Zu spät, ich bin schon vor­bei. In der U-Bahn bet­telt ein Ro­ma­jun­ge. Kin­der­bet­te­lei will ich nicht för­dern. Ei­ne jun­ge Frau hält ihm ei­nen zer­knit­ter­ten Schein hin. Schließ­lich ist Weih­nach­ten.
Ich steige aus, fra­ge, wo man Stra­ßen­bahn­ti­ckets kau­fen kann. Der Mann re­det schnell. Bin stolz weil er nicht merkt, dass ich Aus­län­de­rin bin. Wenn ich will, las­se ich es mer­ken. Aber heu­te will ich nicht. Ich fin­de die Stra­ßen­bahn auf An­hieb. Gucke an­ge­strengt durch die ge­well­te Plas­tik­schei­be des Ti­cket­häus­chens. Es ist nie­mand drin. Ei­ne Frau mit Schnaps­na­se eilt vom Nach­bar­stand her­bei und ver­kauft mir schnell zwei Fahr­schei­ne. Ich strip­pe, um an den Bauch­gurt zu kom­men. Die Frau grinst. Nun ha­be ich mich wohl doch als Aus­län­de­rin ent­tarnt.
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Die Straßenbahn ist erstaun­li­cher­wei­se pünkt­lich. Ich ren­ne hin, zwän­ge mich in den vol­len Wa­gen. Wo wol­len sie nur al­le hin, an Weih­nach­ten? Ich drän­ge mich wis­send zum Stem­pel­ge­rät vor. Ste­cke mei­ne Kar­te hi­nein. Hier war­tet man ver­geb­lich auf den au­to­ma­ti­schen Klick. Ich be­tä­ti­ge den me­cha­ni­schen Stem­pel. Es macht kei­nen Ab­druck, of­fen­bar ist die Far­be aus. Ei­ne al­te Frau emp­fiehlt mir, die Kar­te nicht noch­mal hi­nein­zu­ste­cken. Wenn man dop­pelt stem­pelt, gibt's Är­ger. Die Kon­trol­leu­re ken­nen al­le Tricks. Und un­ter­stel­len al­le, die sie ken­nen. Je­der kann schließ­lich ein un­schul­di­ges Ge­sicht ma­chen. Vier Hal­te­stel­len, dann kommt die Brü­cke, die Mag­da­le­na be­schrie­ben hat. Ich drän­ge mich raus, ste­he auf ei­ner vier­spu­ri­gen mat­schi­gen Stra­ße. Um mich he­rum ra­gen graue Be­ton­blocks in die Hö­he. Die Stra­ße ist von zu­ge­schnei­ten Au­tos ge­säumt, da­zwi­schen Eis­ber­ge. Ir­gend­wo muss das Zeug schließ­lich hin, wenn man sein Au­to aus­gräbt. Wie gut, dass ich oh­ne da bin. Ich se­he mich um, ent­de­cke ei­nen Block, auf dem mit Mal­far­be "Nr. 86" ge­schrie­ben steht. Zäh­le zwei Trep­pen­auf­gän­ge. Bin mir nicht si­cher, aber zu stolz, Mag­da­le­na mit dem Han­dy an­zu­ru­fen, da­mit sie he­run­ter­kommt. Drü­cke den Code des In­ter­fons. Wer weiß, wo ich lan­de. Das Ge­rät piept, rat­tert, brummt. Muss ich hi­nein­spre­chen? Aber nein, es hat ja gar kein Mi­kro­fon und kei­nen Laut­spre­cher. Wäh­rend ich rat­los das In­ter­fon be­trach­te, klickt et­was an der ver­git­ter­ten Tür. Ich rütt­le da­ran. Noch­mal, fes­ter, und die Tür geht auf.
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Sie gibt den Weg frei in die über­ir­disch häss­li­chen Ein­ge­wei­de des Wohn­blocks. Ich igno­rie­re den Lift. Nur ein Le­bens­mü­der wür­de an­ders han­deln. Es ist muf­fig und dus­ter. Ich stei­ge tap­fer 5 Stock­wer­ke hoch. Zäh­le die Ap­par­te­ments, denn hier ste­hen kei­ne Na­men an der Tür. Was, wenn jetzt ein Erd­be­ben kommt? Mir fällt die Ge­schich­te ein, die Mag­da­le­na mir er­zählt hat. Wie sie ih­ren ers­ten Mann ver­lor, im Erd­be­ben 1977. Der gan­ze Block war da­mals ein­ge­stürzt. Sie lag im Kran­ken­haus und hat­te ge­ra­de ihr ers­tes Kind ent­bun­den. Ein Mäd­chen, Mo­na. Als sie vom Ein­sturz er­fuhr, rann­te sie im Win­ter mit Ba­de­man­tel und Plas­tik­schlap­pen vom Kran­ken­haus nach Hau­se. Sah den ein­ge­stürz­ten Block und konn­te es im­mer noch nicht glau­ben. Sie hoff­te, dass er mit dem Au­to weg­ge­fah­ren war. Aber das Au­to stand hin­ter dem Schutt­hau­fen des Blocks. Da glaub­te sie es. Ich ver­zäh­le mich mit den Stock­wer­ken. Wo bin ich? Man­che Tü­ren ha­ben Lö­cher, so dass man ins In­ne­re spä­hen kann. Nicht al­les da­rin ist se­hens­wert. Ich fra­ge mich, was mich gleich er­war­tet. Füh­le mich wie ein Au­ßer­ir­di­scher in ei­ner an­de­ren Welt.
Ein Mann mit rundem Metz­ger­ge­sicht streckt sei­nen Kopf aus ei­ner Tü­re. "Ca­sa Mag­da­le­nei?" fra­ge ich vor­sich­tig. Der Mann nickt und grinst breit. Er er­greift mei­ne Hand mit di­cken, rau­hen Fin­gern und gibt mir ei­nen Hand­kuss. "Eu sunt Ni­na" stel­le ich mich vor. Mag­da­le­na um­armt mich, Bus­si links, Bus­si rechts. Ih­re Toch­ter Mo­na tut das­sel­be. Re­lu, ihr Mann, nimmt mir ga­lant den di­cken Ano­rak ab. Ich muss da­ran den­ken, was Mag­da­le­na er­zählt hat. Wie er sie da­mals im Kran­ken­haus be­sucht hat, nach der Ent­bin­dung. Re­lu war ein Kol­le­ge - und der Ver­lob­te ei­ner Freun­din. Kurz nach dem Tod ih­res ers­ten Man­nes hat Mag­da­le­na ihn ge­hei­ra­tet.
Wir gehen in ein winziges, voll­ge­stopf­tes Wohn­zim­mer. Ich wer­de ab­ge­schnup­pert, fas­se in ein kur­zes, glat­tes Fell. Das Fell we­delt mit dem Schwanz und adop­tiert mich auf An­hieb. Ich läch­le, las­se mei­ne Bli­cke schwei­fen. Blin­ken­de Lich­ter­ket­ten ent­lang des Wohn­zim­mer­schranks for­dern un­mit­tel­ba­re Auf­merk­sam­keit. Schließ­lich ist Weih­nach­ten. Die letz­ten 15 Lämp­chen der Ket­te leuch­ten nicht mehr. In der Ecke ein klei­nes, spär­li­ches Bäum­chen, das sich un­ter Glit­zer­gir­lan­den und Glas­ku­geln biegt. Ge­gen­über ei­ne Bal­kon­tür mit ver­glas­tem Mini-Bal­kon. Das Toi­let­ten­fens­ter führt auch auf den Bal­kon. Vor der Türe ein Kla­vier, ver­han­gen von ei­nem blas­sen hol­län­di­schen Web­tep­pich. Ein "Ernst Krau­se" Kla­vier aus Ber­lin, aus dem 18.Jahr­hun­dert, er­zählt Mag­da­le­na stolz.
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Auf dem Tisch steht ein Sam­mel­su­ri­um an un­ter­schied­li­chen Glä­sern für je­de Sor­te Ge­tränk. Au­ßer­dem fünf Ge­de­cke. Re­lu schenkt leicht ro­sa­far­be­nen Tui­ca in die klein­ste Sor­te Glä­ser. Er schmeckt ein we­nig nach Zwetsch­ken­ker­nen. Ich las­se mich be­leh­ren, dass für den Tui­ca auch die Ker­ne ver­ar­bei­tet wer­den. Mei­ne Ge­schen­ke wer­den auf dem Kla­vier auf­ge­baut, ne­ben ei­ner Schach­tel Fer­tig­ku­chen und ein paar Fla­schen ru­mä­ni­schem Wein und Sekt. Die selbst­ge­mach­ten Pra­li­nen lan­den auf dem Tisch.
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Magdalena hat für Mo­na und mich Kraut­wi­ckel mit Reis und Nüs­sen ge­macht. Mo­na ist auch Ve­ge­ta­rie­rin. Die an­de­ren es­sen fleisch­ge­füll­te Kohl­rou­la­den und Bra­ten. Mo­na sitzt ne­ben mir und wir un­ter­hal­ten uns über ge­sun­de Er­näh­rung und Na­tur­heil­kun­de. Mo­na ist win­zig, zier­lich, fast un­ge­schminkt. Sie hat dunk­les, lan­ges Haar und reh­brau­ne Au­gen. Sie wirkt gleich­zei­tig zer­brech­lich und stark, selbst­be­wusst und zu­rück­hal­tend. Wir ver­ste­hen uns auf An­hieb - mit und oh­ne Wor­te.
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Relu fragt, ob ich an der Bot­schaft ar­bei­te, be­ant­wor­tet sei­ne Fra­ge aber gleich selbst. Er hat auch für die Bot­schaft ge­ar­bei­tet, fährt er fort. Er hat die Bo­dy­guards mas­siert. "Wir sind al­so fast Kol­le­gen", be­tont er stolz. Ich freue mich über die mo­men­ta­ne Be­deu­tungs­lo­sig­keit mei­ner Po­si­tion. "Lei­der gibt es jetzt kei­ne Bo­dy­guards mehr", fährt Re­lu fort. Mag­da­le­na holt vom Schrank ei­ne Weih­nachts­kar­te, die ihr ei­ne ehe­ma­li­ge Mas­sa­ge­kun­din von der Bot­schaft aus Deutsch­land ge­schrie­ben hat. Ich le­se höf­lich die Kar­te der un­be­kann­ten Kol­le­gin. Dann zeigt sie mir Pho­tos ih­res Bru­ders aus Ka­na­da. Al­le schnat­tern fröh­lich durch­ei­nan­der. Re­lu schenkt mir "Pu­te­rea Ur­su­lui" ein, die "Kraft des Bä­ren". Der leich­te Rot­wein passt an­ge­nehm zu den Kraut­wi­ckeln. Ich be­gra­be mein Vor­ur­teil über ge­koch­ten Kohl. Zum Nach­tisch gibt es Scho­ko­la­den­ku­chen und Ana­nas­kom­pott. Ich bin froh, dass Mo­na nicht viel isst. So kann ich mei­ne Por­tio­nen auch ein we­nig ein­brem­sen.
Essen
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Gerade als alle fertig sind, stürmt Toch­ter Lau­ra he­rein. Sie um­armt mich strah­lend, oh­ne je­de Scheu. Macht sich fröh­lich schnat­ternd über die mit­ge­brach­ten Pra­li­nen her. Quas­selt oh­ne Un­ter­lass, von ih­rem Weih­nachts­abend mit ei­ner Freun­din und de­ren klei­ner Toch­ter. Er­zählt lus­ti­ge Anek­do­ten, oh­ne Punkt und Kom­ma. Ich muss höl­lisch auf­pas­sen, freue mich aber, dass ich al­les ver­ste­he. Lau­ra ist ein Ener­gie­pa­ket. Ih­rem Va­ter wie aus dem Ge­sicht ge­ris­sen und trotz­dem um­wer­fend hübsch. Wenn sie spricht, tut sie das mit al­len Glied­ma­ßen. Ihr Pfer­de­schwanz hüpft be­stä­ti­gend auf und ab. Lau­ra er­kennt mei­ne Par­füm­sor­te auf An­hieb, zieht mich am Arm in ihr Zim­mer und zeigt mir ih­re Samm­lung: tau­sen­de Par­füm­fläsch­chen, auf al­len er­denk­li­chen Ober­flä­chen auf­ge­baut.
Schließlich befördern mich Mo­na und Lau­ra zu ih­rem Com­pu­ter und zei­gen mir Pho­tos vom Ur­laub, von ih­ren Boy­friends und von der Sil­ber­hoch­zeit der El­tern. Mo­na spielt Mu­sik­da­teien ab, die ihr Freund aus Frank­reich per e-mail ge­schickt hat. Er heißt Man­fred, hat deut­sche Vor­fah­ren, und singt wun­der­schö­ne, ro­man­ti­sche Lie­der mit wei­cher, war­mer Stim­me. Sie hat ihn im In­ter­net ken­nen­ge­lernt. Sie ha­ben sich seit­her zwei­mal ge­se­hen, in Ru­mä­nien. Mo­na hat brau­ne Au­gen, Man­fred blaue. Mo­na hofft da­her, dass ih­re Kin­der grü­ne Au­gen ha­ben wer­den. Ich be­leh­re sie nicht über die Ver­er­bungs­ge­set­ze der Au­gen­far­be. Und fra­ge mich, ob Man­fred auch schon an Kin­der denkt. Spä­ter spielt Mo­na Kla­vier. Auf dem al­ten, ver­stimm­ten "Ernst Krau­se". Sie lernt oh­ne No­ten, ein­fach aus dem Ge­hör. Mag­da­le­na sagt, sie "stiehlt die Mu­sik mit den Oh­ren". Was für ei­ne blu­mi­ge Spra­che! Frü­her hat­te Mo­na ei­ne Mu­sik­schu­le be­sucht, bis zum Gym­na­si­um. Dann hat sie sich für Spra­chen ent­schie­den. Gut für Man­fred, der kein Ru­mä­nisch spricht.
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Magdalena fragt, ob ich das Kohl­fass am Bal­kon be­sich­ti­gen will. Wir ge­hen nach drau­ßen in die Käl­te. Mag­da­le­na rollt ih­re Är­mel hoch und schraubt den De­ckel vom hüft­ho­hen Plas­tik­fass. Es blub­bert ein we­nig. In dem Fass steht ein Rohr, das Gär­ga­se vom Bo­den hoch­lei­tet. Mag­da­le­na ver­senkt ih­re Ar­me und an­gelt in der Salz­la­ke nach ei­nem Kohl­kopf. Sie för­dert ein schwab­be­li­ges et­was zu­ta­ge, dann noch eins, und noch eins. Ob­wohl je­der Kohl­kopf aus­sieht wie der an­de­re. Sie er­in­nern an Was­ser­lei­chen. Ich be­wun­de­re das Kohl­fass ge­büh­rend. Heim­lich be­wun­de­re ich ih­ren Mut. Dann zieht sie ein Bün­del Dill­sten­gel he­raus, an de­nen di­cke, schlei­mi­ge Fä­den hän­gen, wie Al­gen am Grund ei­nes Sees. Sie wirft das Bün­del wie­der hi­nein. Of­fen­bar muss das so sein. Der Kohl wird vor dem Ko­chen zwei bis drei Ta­ge ge­wäs­sert, um das Salz raus­zu­lau­gen. Ich über­le­ge, ob ich die Kohl­rou­la­den hät­te es­sen kön­nen, wenn ich das Schleim­bün­del vor­her ge­se­hen hätte.
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Inzwischen hat Laura meh­re­re Pra­li­nen an­ge­bis­sen auf der Su­che nach der bes­ten Sor­te. Auf dem Tisch lie­gen die Res­te, säu­ber­lich auf­ge­reiht, zum spä­ter es­sen. Ich ver­spre­che ihr das Re­zept. Sie kann nicht fas­sen, dass ich die­se Köst­lich­kei­ten selbst­ge­macht ha­be. Ich ge­ste­he, im­pro­vi­siert zu ha­ben, weil es hier nicht al­le Zu­ta­ten gibt. Re­lu schmun­zelt. "Wie die ru­mä­ni­schen Frau­en", sagt er. "Die müs­sen auch viel im­pro­vi­sie­ren". Ich den­ke da­ran, was Mag­da­le­na mir er­zählt hat. Ih­re gro­ße Lie­be war er nicht, der zwei­te Mann. Aber er ist ein gu­ter Mann und sie hat nichts be­reut. Ich glau­be ihr.
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Laura telefoniert mit zwei Han­dies. Das ei­ne ist ka­putt, aber da sind die Num­mern ge­spei­chert. Das an­de­re hat kei­nen Spei­cher mehr, da­für kann man da­mit te­le­fo­nie­ren. Es ist dun­kel ge­wor­den und ich den­ke ans Heim­fah­ren. Lau­ra wird von ei­nem Freund ab­ge­holt, der sich er­bie­tet, mich zu­hau­se ab­zu­lie­fern. Sie ver­schwin­det in ih­rem Zim­mer, er­scheint wie­der mit Mi­ni­rock und Make­up. Ich um­ar­me und küs­se al­le und fah­re to­des­mu­tig mit Lau­ra im Lift nach un­ten. Mit ih­ren 12 cm Ab­sät­zen kann sie im Schnee kaum bis zur Stra­ße lau­fen. Ich ha­ke sie un­ter. Kom­me mir vor wie ei­ne Oma mit mei­nen prak­ti­schen Moon­boots. Der Freund er­scheint in ei­nem prot­zi­gen Ge­län­de­wa­gen mit Le­der­sit­zen, doch der jun­ge Mann wirkt be­son­nen und nett. Wir plau­dern mun­ter wäh­rend der Fahrt und Lau­ra schwärmt ihm von mei­nen Pra­li­nen vor. Sie er­lau­ben mir nicht, an der Stra­ßen­ecke aus­zu­stei­gen, son­dern fah­ren mich di­rekt vor die Haus­tür. Ich fra­ge mich, was sie wohl den­ken, als sie vor mei­ner Vil­la hal­ten. Lau­ra steigt aus, um mich zum Ab­schied zu um­ar­men. Ich ba­lan­cie­re sie wie ei­ne Eis­tän­ze­rin, da­mit sie mit ih­ren Schu­hen nicht hin­fällt, schie­be sie in den Wa­gen zu­rück. Sie wünscht mir ein fro­hes neu­es Jahr und nimmt mir das Ver­spre­chen ab, sie bald wie­der zu be­su­chen. Die Ein­la­dung klingt echt.
Ich betrete meine "rie­si­ge Vil­la mit den tau­send Zimm­ern und den er­le­se­nen Mö­beln". Zu­min­dest kommt es mir im Au­gen­blick so vor. Im Ver­gleich zu an­de­ren Di­plo­ma­ten­woh­nun­gen ist mei­ne im­mer-noch-IKEA-Erst­aus­stat­tung sehr be­schei­den. Ich le­ge kei­nen Wert auf Sta­tus­sym­bo­le. Osi­ris streicht schnur­rend um mei­ne Bei­ne. Selbst der ed­le Per­ser­ka­ter ist ein Misch­ling. Ich den­ke an den ab­ge­tre­te­nen Tep­pich in Mag­da­le­nas Woh­nung. An die blin­ken­den Lich­ter an der alt­mo­di­schen Schrank­wand. An den Stuhl, der Sä­ge­spä­ne von sich gab, als Mo­na sich drauf­setz­te - und la­chend er­zähl­te, wie ihr Va­ter da­rauf ein­ge­bro­chen war, als er die De­cken­lam­pe re­pa­rier­te. An das Kohl­fass. An den mick­ri­gen Weih­nachts­baum in der Ecke hin­ter der Tür. An Mag­da­le­nas Kü­che, so klein wie mei­ne Gäs­te­toi­let­te. Und an den Hund, der all dies mit vier Per­so­nen teil­te. Ich den­ke da­ran, was wirk­lich wich­tig ist im Le­ben. Und dass al­les, was wir zu be­sit­zen glau­ben, nur für ei­ne Wei­le ge­lie­hen ist. Ich se­he mich um, in mei­nem Leih­haus für 4 Jah­re, und über­le­ge mir, Mo­na und Lau­ra auf je­den Fall mal zum Pra­li­nen ma­chen ein­zu­la­den. So et­was Span­nen­des wie das Kohl­fass kann ich na­tür­lich nicht bie­ten....
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