Der 21. Dezember 1989 in Hermannstadt aus der Sicht eines Soldaten

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Seit einigen Tagen herrscht Un­ru­he im Land. Am Sonn­tag den 17.12.1989 gab es ers­te De­mons­tra­tio­nen in Te­mes­war. Die­se Nach­richt er­reich­te Her­mann­stadt am 18.12.1989.

Ich bin Soldat in einer Mi­li­tär­ein­heit in Her­mann­stadt. Un­se­re Ein­heit ge­hört der DLEN an. (Di­rec­ţia lu­crări in eco­no­mia na­ţio­na­lă/ Ab­tei­lung für Ar­bei­ten in na­tio­na­len Wirt­schaft). Im Volks­mund nennt man sol­che Mi­li­tär­ein­rich­tun­gen "Di­ri­bau", ein Be­griff, der sich aus der ehem. DE-RU-BAU Ge­sell­schaft (Deutsch-ru­mä­ni­sche Bau­ge­sell­schaft) ab­lei­tet. Wir ha­ben nach der drei­mo­na­ti­gen Grund­aus­bil­dung kei­ne Waf­fe mehr an­ge­fasst. Un­se­re "Waf­fen" sind die Schau­fel, die Spitz­ha­cke und der Spa­ten. Wir ar­bei­ten auf Bau­stel­len und als Ern­te­hel­fer -­für ei­nen Sold von 11 Lei am Tag.

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Am Vormittag des 21.12.1989 be­fin­de ich mich in der Stadt. Ich ha­be seit dem 18.12.1989 Ur­laub, bin aber schon seit dem 16.12. auf Wo­chen­end­aus­gang (în­voiire). In der Stadt herrscht un­glaub­li­che Un­ru­he, Leu­te sind un­ter­wegs, es bil­den sich Grup­pen, es wird dis­ku­tiert. Noch gibt es kei­ne gro­ßen De­mons­tran­ten­zü­ge. Ich schlen­de­re durch die Stadt und beo­bach­te das Ge­sche­hen. Ich ent­de­cke vie­le Be­kann­te. We­gen mei­ner Uni­form traue ich mich nicht, mich zu den Grup­pen da­zu zu ge­sel­len. Es winkt mich auch kei­ner he­ran. Ich wer­de arg­wöh­nisch be­trach­tet. Ich ge­he mei­nes We­ges und keh­re bei ei­ner Freun­din ein. Sie wohnt im Zen­trum und wir ha­ben aus dem Fens­ter ei­ne gu­te Sicht auf den gro­ßen Ring.

Die ersten Demonstranten­grup­pen vor dem Ghe­or­ghe La­zăr Ly­ze­um auf dem Gro­ßen Ring wer­den von den Po­li­zei­kräf­ten ein­ge­kes­selt, ver­prü­gelt und fest­ge­nom­men. Es herrscht ge­spens­ti­sche Stil­le. In die­se Stil­le fal­len die ers­ten Schüs­se. Es ist 10:30 Uhr.

Wir hören Radio Europa Li­be­ră und er­fah­ren, dass auch in an­de­ren Städ­ten die De­mons­tra­tio­nen be­gin­nen. Es wer­den To­te und Ver­letz­te aus meh­re­ren Städ­ten ge­mel­det und dass die De­mons­tran­ten von Po­li­zei und Ar­mee ein­ge­kes­selt wer­den. Wir ha­ben Angst.

Am Nachmittag fängt die Menge an, sich er­neut zu ver­sam­meln, Stim­men wer­den laut. Ers­te Spre­cher aus den ver­ein­zel­ten Grup­pen fan­gen an, die an­de­ren Grup­pen an­zu­spre­chen. Die Men­sche­nmen­gen schlie­ßen sich zu­sam­men. Ers­te Chö­re er­klin­gen: "Des­teap­tă-te ro­mâ­ne". Von über­all kom­men De­mons­tran­ten auf den Gro­ßen Ring. 

Das Telefon klingelt. Es ist 16.20 Uhr Am Ap­pa­rat ist mein Bru­der, der mit­teilt, dass mein Kom­man­dant mir aus­rich­ten lässt, dass mein Ur­laub mit so­for­ti­ger Wir­kung be­en­det ist und ich den Be­fehl ha­be, mich so­fort und un­ver­züg­lich in die Ein­heit zu be­ge­ben. Es herrscht ab so­fort Aus­gangs­sper­re für die Sol­da­ten al­ler Ein­hei­ten in Her­mann­stadt. Die Gar­ni­son hat Alarm­stu­fe 1 aus­ge­ge­ben.

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Ich begebe mich auf dem kürz­es­ten Weg zur Ein­heit. Es wird ein Spieß­ru­ten­lauf. Die De­mons­tran­ten, die auf den Gro­ßen Ring strö­men, bli­cken mich bö­se an und be­schimp­fen mich. Die Nach­richt, dass das Mi­li­tär in Te­mes­war ge­gen die De­mons­tran­ten vor­ge­gan­gen ist, ist auch bei den De­mons­tran­ten an­ge­kom­men.

Unsere Einheit befindet sich in der Ca­lea Dum­bră­vii, etwa 15 Mi­nu­ten Fuß­marsch vom Zen­trum ent­fernt. Ich be­we­ge mich im Lauf­schritt durch Ne­ben­stra­ßen und ver­su­che den di­rek­ten Kon­takt zu den De­mons­tran­ten zu ver­mei­den. Ich er­rei­che die Ein­heit und wer­de zum Rap­port be­stellt. Ich er­zäh­le, was ich ge­se­hen ha­be, und wie ich die Stim­mung er­lebt ha­be. Der Kom­man­dant, ein 35 jäh­ri­ger Haupt­mann, be­fiehlt mir, mit den an­de­ren Sol­da­ten nicht über das Ge­se­he­ne zu spre­chen. Ich ha­be Angst.

Auf der Stube herrscht eine gespens­ti­sche Stim­mung. Wir sind 40 Leu­te auf der Stu­be. Ru­mä­nen, Un­garn und Sie­ben­bür­ger Sach­sen. Die Grup­pen sit­zen ge­trennt von­ei­nan­der auf den Bet­ten und tu­scheln mit­ei­nan­der. Es herrscht ei­ne Stim­mung des be­gin­nen­den La­ger­kol­lers und ge­spann­te Er­war­tung. Die Ka­me­ra­den sind seit Be­ginn der Un­ru­hen in Te­mes­war nicht mehr aus der Ein­heit raus­ge­kom­men. Ge­rüch­te wer­den dis­ku­tiert. Neu­gier schlägt mir ent­ge­gen, als ich ein­tre­te. Ich bin schließ­lich der Ein­zi­ge, der "drau­ßen" war. Auf Fra­gen ant­wor­te ich aus­wei­chend. Der Be­fehl vom Haupt­mann war un­miss­ver­ständ­lich.

Es geht ein Gerücht um welches be­sagt, dass die Se­cu­ri­ta­te das Was­ser­re­ser­voir in "Gu­ra Râu­lui" ver­gif­tet ha­ben soll. Der Kom­man­dant teilt uns mit, dass wir ab so­fort kein Was­ser mehr trin­ken dür­fen. Ich wer­de von Ihm in sein Bü­ro be­stellt. Weil ich am nächs­ten zur Ein­heit woh­ne, soll ich nach Hau­se ge­hen und Wein aus dem Kel­ler mei­nes Va­ters ho­len. An­ge­sichts der Ge­fahr soll ich die­se Mis­sion al­ler­dings in Zi­vil­klei­dern aus­füh­ren. Ich ha­be aber kei­ne Zi­vil­klei­der in der Ein­heit. Es war nie not­wen­dig, schließ­lich ha­ben al­le Her­mann­städ­ter von un­se­rem Kom­man­dan­ten je­des Wo­chen­en­de frei be­kom­men und muss­ten nie heim­lich aus der Ein­heit ver­schwin­den.

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Ich soll mir bei den Nicht-Her­mann­städ­tern Zi­vil­klei­dung aus­lei­hen. Schwie­ri­ge Auf­ga­be, aber lös­bar. Die Ver­hand­lun­gen mit ei­nem Ru­mä­nen aus Arad, von dem ich weiß, dass er Zi­vil­klei­dung hat, füh­ren nicht zu dem ge­wünsch­ten Er­geb­nis. Der Kom­man­dant be­glei­tet mich nach der Mel­dung über die fehl­ge­schla­ge­nen Ver­hand­lun­gen auf die Stu­be und spricht zu al­len. Er teilt ih­nen mit, dass er si­cher sei, dass es Zi­vil­kla­mot­ten auf der Stu­be gä­be und dass mir die­se in sei­ner Ab­we­sen­heit un­ver­züg­lich aus­ge­hän­digt wer­den soll­ten. Er will gar nicht wis­sen, wer mir die Zi­vil­kla­mot­ten aus­hän­digt. Falls dies nicht in den nächs­ten 15 Mi­nu­ten er­le­digt sei kün­digt er ei­ne Durch­su­chung des Zim­mers an - mit ent­spre­chend ho­hen Stra­fen für die­je­ni­gen, bei de­nen Zi­vil­klei­der ge­fun­den wer­den.  Es ist 18.45 Uhr. Die Stim­mung ge­gen mich ist auf dem Hö­he­punkt. Ich gel­te als Ver­rä­ter. Mel­de mich um 19:00 Uhr in Zi­vil­klei­dung im Bü­ro des Kom­man­dan­ten, um mei­nen "Son­der­auf­trag" aus­zu­füh­ren.

Ich soll auf dem sichersten und schnells­ten Weg nach Hau­se ge­hen und für die Kom­man­dan­tur Wein brin­gen. Um im Fal­le ei­ner Kon­trol­le durch die Po­li­zei oder Mi­li­tär­pa­trouil­len mei­ne Mis­sion be­wei­sen zu kön­nen, er­hal­te ich ein Pa­pier, ei­ne "în­voiire spe­cia­lă". Da­rin steht, dass ich auf Be­fehl des Kom­man­dan­ten der UM2729, Haupt­mann Ba­las, in "ge­hei­mer" Mis­sion un­ter­wegs bin. Ich er­hal­te die An­wei­sung, mir et­was der Si­tua­tion ent­spre­chen­des ein­fal­len zu las­sen, falls ich an­ge­hal­ten wer­de. Mei­ne Klei­dung ist aben­teu­er­lich: ich tra­ge ei­ne schwar­ze Jeans und ei­ne schwar­ze Le­der­ja­cke, Mi­li­tär­stie­fel, ei­nen gel­ben Schal und auf dem Rü­cken ei­nen Mi­li­tär­tor­nis­ter. Um 19:10 Uhr ver­las­se ich die Ein­heit. In der Stadt sind ver­ein­zel­te Schüs­se zu hö­ren, es herrscht ei­ne an­ge­spann­te Stim­mung. Die Fen­ster sind ver­dun­kelt und vie­le, die sich nicht trau­en raus zu ge­hen, sit­zen an den Fens­tern und beo­bach­ten das Ge­sche­hen.

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Vor unserem Haus, wel­ches an der Durch­gangs­stra­ße liegt, gibt es ei­ne Stra­ßen­sper­re, die von selbst­er­nann­ten "Re­vo­lu­tio­nä­ren" er­rich­tet wur­de. Al­le Fahr­zeu­ge müs­sen hier hal­ten und sich kon­trol­lie­ren las­sen. Zu mei­ner Ver­wun­de­rung se­he ich mei­nen Nach­barn Mi­hăi­ţă, der ei­ne Waf­fe in der Hand hat und ei­ni­ge Hand­gra­na­ten am Gür­tel trägt. Ich nä­here mich der Stra­ßen­sper­re und se­he den Lauf der AK 47 mei­nes Nach­barn auf mei­ne Brust ge­rich­tet. Schweiß perlt mir von der Stirn - und das bei -10° C. Ich ge­be mich zu er­ken­nen, spre­che ihn mit Na­men an und er­klä­re ihm mei­ne "Mis­sion". Die "Re­vo­lu­tio­nä­re" tra­gen als Er­ken­nungs­zei­chen ro­te Arm­bän­der am lin­ken Ober­arm. Mein Nach­bar gibt mir eben­falls ei­ne ro­te Arm­bin­de. Jetzt bin auch "Re­vo­lu­tio­när" und darf wei­ter­ge­hen mei­ne "Mis­sion" er­fül­len. Ich fra­ge mich heu­te noch, wo er die na­gel­neue AK 47 her­hat­te. Es ist 19:45 Uhr.

Zuhause angekommen habe ich Schwie­rig­kei­ten, mei­nen Va­ter von mei­ner "Mis­sion" zu über­zeu­gen und ihn zur He­raus­ga­be von ei­ni­gen Li­tern Wein zu be­we­gen. Wir be­spre­chen die La­ge in Her­mann­stadt. Drau­ßen fal­len Schüs­se. Auf­grund der zen­tra­len La­ge un­se­res Hau­ses ist es für mich nicht an­ge­bracht, zu lan­ge da zu blei­ben, und mein Kom­man­dant hat mir ma­xi­mal zwei Stun­den für die­se Mis­sion zu­ge­stan­den. Mit dem vol­len Tor­nis­ter be­ge­be ich mich auf den Rück­weg. Den Re­vo­lu­tio­nä­ren brin­ge ich auch ei­ne Fla­sche Wein mit. Zu­sätz­lich zu den 10 Li­tern Wein im Tor­nis­ter ha­be ich für mei­ne Ka­me­ra­den ei­ne Fla­sche Schnaps und ei­ne Fla­sche Wein in den Ta­schen. Bei der Stra­ßen­sper­re steht ein Au­to und da­rin liegt ein To­ter. Ich zit­te­re vor Angst. Mi­hăi­ţă wünscht mir viel Er­folg und Glück bei der Rück­kehr in die Ein­heit.

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Der Rückweg verspricht, ge­fähr­li­cher zu wer­den als der Hin­weg. In der Zwi­schen­zeit gibt es an al­len Stra­ßen­ecken Kon­trol­len. In der Stadt fal­len wei­ter ver­ein­zel­te Schüs­se. Der Wein im Tor­nis­ter glu­ckert beim Lau­fen. Die ro­te Arm­bin­de gibt mich als "Re­vo­lu­tio­när" zu er­ken­nen. An je­der Stra­ßen­kon­trol­le muss ich mei­ne "Mis­sion" er­klä­ren. Ich pas­sie­re al­le Stra­ßen­kon­trol­len, aber der Schnaps­vor­rat für mei­ne Ka­me­ra­den nimmt ab. Ich nä­he­re mich der Ein­heit und hö­re Schüs­se. In ei­nem Haus­ein­gang ge­gen­über der Ein­heit fin­de ich Un­ter­schlupf und De­ckung. Ich ha­be Sicht­kon­takt zu dem Sol­da­ten, der den Ein­gang zur Ein­heit be­wacht. Er be­deu­tet mir, los­zu­lau­fen, er gibt mir De­ckung. Im Ku­gel­ha­gel er­rei­che ich die Ein­heit und sprin­ge in De­ckung. Die Ein­heit ist um­ge­ben von Wohn­blocks, von wo aus ver­ein­zelt Schüs­se auf un­se­re Ein­heit ab­ge­ge­ben wer­den. Die Nacht ver­spricht un­ru­hig zu wer­den.

Der Kommandant empfängt mich zum Rap­port. Ich be­rich­te über die "Mis­sion" und die La­ge in der Stadt. Der Wein­tor­nis­ter wech­selt den Be­sit­zer. Der Kom­man­dant ver­bie­tet mir, mit den Ka­me­ra­den über den In­halt mei­ner Mis­sion zu spre­chen und be­deu­tet mir, mich wei­ter be­reit zu hal­ten und die Zi­vil­klei­dung erst­mal nicht ab­zu­le­gen. Ich wer­de nicht wei­ter kon­trol­liert und ge­lan­ge mit dem rest­li­chen Schnaps und der Fla­sche Wein auf die Stu­be. Es ist 20:30 Uhr.

Die Kameraden erwarten mich gespannt und feind­se­lig. Ich er­zäh­le ih­nen trotz Ver­bots über die Mis­sion und ver­si­che­re mich ih­res Still­schwei­gens in­dem ich ih­nen den rest­li­chen Schnaps an­bie­te. Die Stim­mung ent­spannt sich auf der Stu­be. Mei­ne Mis­sion ist das Haupt­ge­spräch. Ich er­zäh­le ih­nen von den Stra­ßen­sper­ren und mei­nen Ge­sprä­chen mit den "Re­vo­lu­tio­nä­ren". Die Idee, an je­der Stra­ßen­sper­re bis­sel Schnaps her­zu­ge­ben, hal­ten al­le für ge­nial. Al­le hal­ten mich für ei­nen Teu­fels­kerl, wäh­rend mir vor Angst im­mer noch die Knie schlot­tern und der Schweiß auf dem Rü­cken mir ein un­an­ge­neh­mes Ge­fühl gibt. Ich le­ge mich an­ge­zo­gen auf das Bett und ver­su­che mich zu be­ru­hi­gen.

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22 Uhr

Der Kommandant bestellt mich wie­der zu sich. Im Haus ge­gen­über wird ein "Ter­ro­ris­ten­nest" ver­mu­tet. In die­sem Haus wohnt ein Fa­mi­lien­freund mei­nes Va­ters. Der Kom­man­dant hat mich an den Wo­chen­en­den, an de­nen er Dienst hat­te und ich auf "în­voi­re" war, da ein- und aus­ge­hen ge­se­hen. Er fragt mich ob ich die Per­son in dem Haus ken­nen wür­de und ob ich ihn für ei­nen "Ter­ro­ris­ten" hiel­te. Im Haus ge­gen­über wohnt die Ver­bin­dungs­per­son, die mei­ne Ver­set­zung nach Her­mann­stadt er­möglicht hat. Ich ver­nei­ne die Fra­ge und sa­ge, dass ich die Per­son gut ken­nen wür­de und sie auf kei­nen Fall ein Ter­ro­rist oder ein Se­cu­ri­ta­te­mit­ar­bei­ter sei. Ob ich ei­ne Te­le­fon­num­mer von ihm hät­te, wer­de ich ge­fragt. Ich ver­nei­ne, aber ich wüß­te den Na­men und wir könn­ten die Te­le­fon­num­mer he­raus­fin­den. Wir ru­fen mei­nen Va­ter an, der die Te­le­fon­num­mer kennt. Am Te­le­fon mel­det sich aber je­mand an­ders als un­ser Be­kann­ter. Das Ge­spräch ist kurz. Er­geb­nis: Hier wohnt nie­mand mit dem von mir an­ge­ge­be­nen Na­men, wird uns mit­ge­teilt. Wir ha­ben uns an­geb­lich ver­wählt. Die Kom­man­dan­ten be­ra­ten sich. Ich soll drau­ßen war­ten. Es wird laut im Bü­ro. Auf dem Tisch ste­hen meh­re­re lee­re und halb­vol­le Glä­ser Wein und an der Wand leh­nen Waf­fen. Die Kom­man­dan­tur un­se­rer Ein­heit be­steht aus vier Leu­ten. Ein Haupt­mann, ein Leut­nant, ein Ober­leut­nant und ein Feld­we­bel. Der Kom­man­dant ruft mich wie­der he­rein und teilt mir mit, dass wir das Haus an­grei­fen wür­den und dass ich in die Waf­fen­kam­mer ge­hen sol­le, um mir Waf­fen und Mu­ni­tion ge­ben zu las­sen und dort auf ihn war­ten sol­le. Ich bin im­mer noch in Zi­vil­klei­dung.

Bei der Waffenkammer stehen vier un­be­kann­te Sol­da­ten in vol­ler Kampf­mon­tur von der be­nach­bar­ten Ein­heit, die den Waf­fen­dienst leis­ten. Von den Sol­da­ten der an­de­ren Ein­hei­ten wur­den die Sol­da­ten der DLEN im­mer mit­lei­dig be­lä­chelt. Ich er­hal­te ei­ne Waf­fe und aus­rei­chend Mu­ni­tion. Ich, der seit März 1989 kei­ne Waf­fe mehr in der Hand hat­te, soll nun an ei­nem be­waff­ne­ten Ein­satz teil­neh­men. Mir ist schlecht und ich ha­be Angst. Mit zit­tern­den, un­ge­len­ken Be­we­gun­gen la­de ich mei­ne AK 47 un­ter den kri­ti­schen Bli­cken der vier Sol­da­ten. Kurz da­rauf er­rei­chen die Kom­man­dan­ten die Waf­fen­kam­mer. Sie sind al­le bis an die Zäh­ne be­waff­net und an­ge­trun­ken.

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Eine seltsame Truppe setzt sich in Be­we­gung, um das ge­gen­über­lie­gen­de Haus an­zu­grei­fen und das "Ter­ro­ris­ten­nest" aus­zu­he­ben. Der Haupt­mann, der Ober­leut­nant, zwei der Sol­da­ten der be­nach­bar­ten Ein­heit und ich. Der Leut­nant, der Feld­we­bel und die an­de­ren bei­den Sol­da­ten be­geb­en sich auf den Dach­bo­den, um uns Feu­er­schutz zu ge­ben, falls wir ihn be­nö­ti­gen. Es ist 22:30 Uhr.

Wir nähern uns dem Haus im Lauf­schritt und su­chen De­ckung. Der Kom­man­dant be­deu­tet mir, an der Tü­re zu läu­ten. Falls die Per­son, die die Tür öff­net, un­ser Be­kann­ter sei, sol­le ich ihn an­spre­chen und die rech­te Hand an mein Ohr füh­ren, um das Sig­nal zur Ent­war­nung zu ge­ben. Falls je­mand an­ders die Tü­re öff­ne­te, sol­le ich so­fort in De­ckung ge­hen, um den an­de­ren die Mög­lich­keit zu ge­ben, das Feu­er zu er­öff­nen.

Da stehe ich nun vor der Türe unseres Be­kann­ten in mei­ner aben­teu­er­li­chen Zi­vil­klei­dung, mit ei­ner ge­la­de­nen und ent­si­cher­ten AK 47 in der Hand und läu­te. Mir wird be­wusst, dass ich selber ei­gent­lich für mein Ge­gen­über als Ge­fahr wahr­ge­nom­men wer­den könn­te. Ich ha­be Angst um mein Le­ben. Was ist, wenn ich mich nicht recht­zei­tig in De­ckung be­ge­ben kann und von den ei­ge­nen Leu­ten ver­letzt wer­de? Was ist, wenn die Tü­re sich öff­net und so­fort das Feu­er auf mich er­öff­net wird? Tau­send Fra­gen in dem Kopf ei­nes 19-jäh­ri­gen Sol­da­ten, der noch nie von sei­ner Waf­fe Ge­brauch ge­macht hat - bis auf die paar spär­li­chen Schieß­übun­gen auf dem Schieß­stand. Mir wird mei­ne La­ge be­wusst und ich schlie­ße ins­ge­heim mit mei­nem Le­ben ab. Die Tü­re öff­net sich. Mir ge­gen­über steht un­ser Be­kann­ter in Schlaf­an­zug und Mor­gen­man­tel und ist sicht­lich ver­wirrt, mich zu se­hen. Ich grü­ße ihn und füh­re mei­ne Hand wie ver­ein­bart an mein Ohr, um den an­de­ren Ent­war­nung zu ge­ben. Die bei­den Sol­da­ten stür­men aus der De­ckung her­vor, ge­folgt von dem Haupt­mann und dem Ober­leut­nant. Sie drin­gen in das Haus ein und be­gin­nen mit der Durch­su­chung, wäh­rend wir ver­wun­dert im Ein­gangs­be­reich ste­hen blei­ben. Die Durch­su­chung er­gibt nichts Ver­däch­ti­ges. Die Ehe­frau un­se­res Be­kann­ten be­fin­det sich im Schock­zu­stand, nach­dem vier schwer be­waff­ne­te Sol­da­ten ihr Schlaf­zim­mer ge­stürmt hat­ten. Wir hat­ten ei­ne fal­sche Te­le­fon­num­mer ge­wählt, stell­te sich nach­her he­raus.

Wir kehren in die Einheit zu­rück. Es ist 23:30 Uhr. Ich ge­be die Waf­fen an der Waf­fen­kam­mer ab und be­ge­be mich auf die Stu­be. Ich ha­be Durst, bin auf­ge­regt und muss mei­nen Ka­me­ra­den er­zäh­len, was los war, wo ich war und wa­rum mich der Kom­man­dant zu sich be­stellt hat­te. Den Schnaps ha­ben die Ka­me­ra­den be­reits ver­nich­tet, ich ha­be aber noch ei­ne Fla­sche Wein, die ich nicht ver­teilt hat­te. Wir öff­nen die Fla­sche und ich er­zäh­le den Ka­me­ra­den, was ich er­lebt ha­be. Ge­gen zwei Uhr nachts schla­fe ich an­ge­zo­gen und leicht be­ne­belt ein.

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22. Dezember.

In der Stadt sind Demonstrationen im Gan­ge. Wir er­hal­ten den Be­fehl, al­le an der Waf­fen­kam­mer zu er­schei­nen und er­hal­ten Waf­fen und Mu­ni­tion. Wir rü­cken aus, um die Mi­li­tär­ein­heit UM 01512, die die De­mons­tran­ten auf dem gro­ßen Ring ein­ge­kes­selt ha­ben, zu ver­stär­ken. Es herrscht an­ge­spann­te Stim­mung. Wir ha­ben ein un­gu­tes Ge­fühl. Die Mehr­zahl von uns ist ei­gent­lich für die Re­vo­lu­tion, kei­ner spricht es of­fen aus und Be­fehl ist Be­fehl.

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9:00 Uhr

Wir stehen am Großen Ring. Auge in Au­ge mit den De­mons­tran­ten. Die De­mons­tran­ten ru­fen "Nie­der mit Ceau­şes­cu, nie­der mit dem Kom­mu­nis­mus!" Ich er­ken­ne vie­le der De­mons­tran­ten, die mir ges­tern ent­ge­gen­ka­men, als ich mich in die Ein­heit be­gab. Ich er­ken­ne Freun­de und Be­kann­te un­ter den De­mons­tran­ten. Wir ha­ben Angst, dass wir den Be­fehl er­hal­ten kön­nen, auf die De­mons­tran­ten zu schie­ßen. Es herrscht ei­ne ge­spen­sti­sche Stim­mung. Die Mi­nu­ten wer­den zu Stun­den. Wäh­rend wir in vol­ler Kampf­mon­tur den größ­ten­teils un­be­waff­ne­ten De­mons­tran­ten ge­gen­über­ste­hen, wird an an­de­ren Stel­len in der Stadt ge­schos­sen und ge­stor­ben.

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10:30 Uhr

Die Nach­richt vom Tod des Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ters Va­si­le Mi­lea dringt durch und die Pa­ro­le "Das Mi­li­tär ist auf Sei­ten der Re­vo­lu­tion!" macht die Run­de. Es herrscht Ver­wir­rung. Wir ha­ben kei­nen ein­deu­ti­gen Be­fehl, die Stel­lun­gen auf­zu­ge­ben. Wir har­ren aus, wäh­rend die De­mons­tran­ten ver­su­chen, uns zu über­zeu­gen, die Waf­fen ab­zu­le­gen und mit zu de­mons­trie­ren, un­se­re Stel­lun­gen auf­zu­ge­ben und die Blo­cka­de auf­zu­he­ben.

12:45Uhr

Wir erhalten den Befehl, wieder zu­rück zu keh­ren zu un­se­rer Ein­heit. Wir wür­den von an­de­ren, bes­ser aus­ge­bil­de­ten Ein­hei­ten er­setzt. Wäh­rend wir in der Ein­heit an­kom­men, bricht in Her­mann­stadt das Cha­os los. Es wird von über­all ge­schos­sen, es ster­ben an die­sem Tag ins­ge­samt 89 Men­schen und hun­der­te wer­den ver­letzt.

In Bukarest hält der Dik­ta­tor Ceau­şes­cu sei­ne letz­te Groß­ver­samm­lung ab, wird aus­ge­buht und ver­lässt flucht­ar­tig den Bal­kon des Pa­las­tes...

Der Autor ist uns bekannt, möchte aber anonym bleiben.
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