Die Korbflechter von Tonciu


von Nina May

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"Turnschuh?" fragt mich Bert un­gläu­big, als ich ihm mei­ne neue Adres­se im Her­zen von Trans­sil­va­nien nen­ne. "Ton-tsch-ju" ver­su­che ich sein tap­fe­res Kampf­ru­mä­nisch zu ver­bes­sern. Nein, es muss ei­nem nicht pein­lich sein, wenn man Ton­ciu nicht kennt! Und doch hat die­ses win­zi­ge Dorf, das räum­lich nur 19 km süd­lich von Bis­tri­ta und zeit­lich fast noch im Mit­tel­al­ter liegt, ein we­nig Auf­merk­sam­keit ver­dient.
Bei einem abend­li­chen Spa­zier­gang durch un­ge­teer­te Sträß­chen bie­tet sich ein zu­tiefst fried­li­ches Bild: auf den Bän­ken vor den al­ten Bau­ern­häu­sern ho­cken meist zwei bis drei schwarz ge­klei­de­te Müt­ter­chen und schä­len kle­bri­ge Schilf­rohr­stan­gen oder flech­ten em­sig Körb­chen. Ne­ben ih­nen spie­len­de Kin­der, ki­chern­de jun­ge Mäd­chen und ein biß­chen Dorf­klatsch un­ter Haus­frau­en. "Was ist das nur für ein furcht­ba­rer Dia­lekt?" dach­te ich er­schreckt am ers­ten Abend in mei­nem mitt­ler­wei­le wahl­hei­mat­li­chen Dorf. Doch dann wur­de mir klar, dass dies un­mög­lich Ru­mä­nisch sein konn­te! Zu vie­le ö's und tief im Kehl­kopf ge­gur­gel­te, dun­kle a's. In der Tat le­ben in Ton­ciu nur ca. 5 Pro­zent "rich­ti­ge" Ru­mä­nen. Denn Trans­sil­va­nien ist ein his­to­risch be­ding­ter Schmelz­tie­gel aus eth­ni­schen Un­garn, deutsch­stäm­mi­gen Sach­sen und Schwa­ben, Ro­ma und na­tür­lich den "übri­gen" Ru­mä­nen, wie auch im­mer man die nun nen­nen mag. Deut­sche gibt es mitt­ler­wei­le nicht mehr in Ton­ciu, da­für aber noch ca. 95 Pro­zent un­ga­risch spre­chen­de ru­mä­ni­sche Staats­bür­ger. Mit de­ren Kin­dern, die noch nicht zur Schu­le ge­hen, be­schränkt sich mei­ne Kon­ver­sa­tion auf fröh­li­ches Win­ken und "Ser­vus" Ru­fen. Un­ter Er­wach­se­nen wird stets höf­lich ins Ru­mä­nische ge­wech­selt, wenn ich hin­zu sto­ße. Mei­ne Nach­ba­rin­nen plap­pern un­be­fan­gen mit mir, denn ihr Ru­mä­nisch ist ja auch nicht bes­ser als meins - be­haup­ten sie je­den­falls.
Eine prächtige Gänse­schar zieht schnat­ternd die ein­zi­ge Stra­ße - die 'Stra­da Prin­ci­pala' - hin­auf. Rings­um pi­cken ein paar frei­lau­fen­de Hüh­ner, so­fern sie noch nicht ins Bett ge­gan­gen sind. Um acht Uhr treibt der Kuh­hir­te un­ter laut mo­ti­vie­ren­den "Niiii-haaa" Ru­fen sei­ne pral­le Eu­ter schwin­gen­den Schütz­lin­ge von der Wei­de zu­rück ins Dorf. Ge­mäch­lich trot­ten sie in Rich­tung Brü­cke, wo­bei die ei­ne oder an­de­re Kuh vor­her selb­stän­dig ab­zweigt und in ihr Hof­tor ein­biegt. Die Kü­he wis­sen selbst, wo sie zu­hau­se sind.
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Auf den ersten Blick wirkt das Dorf ein­fach, ärm­lich, na­he­zu pri­mi­tiv. Doch der Schein trügt. Die Men­schen in Ton­ciu ha­ben al­les, was man zum Le­ben be­nö­tigt - der ei­ne we­ni­ger, der an­de­re mehr. Flie­ßen­des Was­ser gibt es mitt­ler­wei­le in fast je­dem Haus, zu­sätz­lich zu dem an­sons­ten üb­li­chen Zieh­brun­nen. Ein Spül­klo al­ler­dings ist eher Lu­xus. Die Ba­de­zim­mer - so­fern sie denn die­sen Na­men ver­die­nen - wer­den mit Holz­boi­lern ge­heizt, wie auch Holz die vor­herr­schen­de Wär­me­quel­le dar­stellt. Gas­an­schluß und Ka­na­li­sa­tion ha­ben ih­ren Weg noch nicht nach Ton­ciu ge­fun­den - ge­schwei­ge denn ein Sys­tem für Müll­ent­sor­gung. Wer nicht wie­der Ver­wert­ba­res an­ge­sam­melt hat, ver­brennt es im ei­ge­nen Gar­ten oder läßt es mit dem Pfer­de­wa­gen auf die so­ge­nann­te Müll­kip­pe brin­gen - ei­nen Platz am Dorf­rand in frei­er Na­tur, der ab und zu von ei­nem Ge­mein­de­bag­ger um­ge­gra­ben wird... In den aus­ge­dehn­ten Haus­gär­ten pflanzt je­de Haus­frau, was ih­re Fa­mi­lie zum Über­le­ben be­nö­tigt. In gleich zwei Ge­mischt­wa­ren­lä­den gibt es al­les, von der Wä­sche­klam­mer bis zum glanz­ver­pack­ten Schei­blet­ten­kä­se, den hier kein Mensch braucht. Hüh­ner ge­hö­ren selbst­ver­ständ­lich zu je­dem Hof, häu­fig auch ein bis zwei Schwei­ne. Man­che Fa­mi­lie hält sich ein Schaf und läßt es vom Dorf­schä­fer ge­mein­sam mit den an­de­ren auf die Wei­de füh­ren, sche­ren und mel­ken. Aus der fet­ti­gen Schafs­milch wird schmack­haf­ter wei­ßer Lö­cher­kä­se fer­men­tiert. Ei­ne Bau­ers­fa­mi­lie stellt Ho­nig zum Ver­kauf her (das Glas da­für muß man selbst mit­brin­gen), ei­ne an­de­re brennt als Dienst­leis­tung aus den Pflau­men der Kun­den Tui­ca (in die­sem Fal­le muß man das Holz fürs Bren­nen mit­brin­gen). Wenn im Win­ter das ein oder an­de­re aus­geht - ein­ge­leg­ter Kohl, Kar­tof­feln oder selbst­ge­mach­te To­ma­ten­brü­he - wird un­ter­ein­an­der ge­tauscht. Die Men­schen in Ton­ciu hel­fen ein­an­der, wo es nur geht. Auch To­le­ranz ist hier groß­ge­schrie­ben - wahr­schein­lich liegt das an der Ge­schich­te von Trans­sil­va­nien, wo seit Jahr­hun­der­ten Ru­mä­nen, Un­garn und Deut­sche fried­lich zu­sam­men leb­ten. Ver­su­che ge­wis­ser In­te­res­sen­krei­se, ei­ne po­li­ti­sche Po­la­ri­sa­tion zwi­schen Un­garn und Ru­mä­nen an­zu­hei­zen, drin­gen nicht bis in den dörf­li­chen All­tag vor.
Das besondere aber an Ton­ciu ist, dass das gan­ze Dorf seit Jahr­hun­der­ten tra­di­tio­nel­le Kör­be aus Schilf­rohr flicht. Ne­ben Ton­ciu soll es in ganz Ru­mä­nien nur noch zwei wei­te­re Dör­fer mit Schilf­rohr-Flecht­tra­di­tion ge­ben. Ei­nes liegt eben­falls im Land­kreis Bis­tri­ta-Na­saud, ein an­de­res bei Ora­dea an der un­ga­ri­schen Gren­ze. Da­bei ist es nur ei­ne Fra­ge der Zeit, bis das Korb­flech­ten ganz aus­stirbt, denn da­von kann man nicht mehr le­ben. Auf­wand und Preis ste­hen in kei­nem rea­lis­ti­schen Ver­hält­nis. Nur noch Rent­ner und Haus­frau­en sind wil­lens, ihr au­tar­kes Selbst­ver­sor­ger­da­sein durch ein paar Lei aus dem Ver­kauf von in den lan­gen Win­ter­mo­na­ten her­ge­stell­ten Kör­ben auf­zu­bes­sern. Wenn die Löh­ne und Ren­ten in Ru­mä­nien stei­gen, wird Korb­flech­ten auch für die­se kaum noch ein lu­kra­ti­ves Zu­brot sein. Es gibt be­reits heu­te Mo­del­le, die nie­mand mehr flech­ten kann, weil das al­te Wis­sen mit den Flech­tern für im­mer aus­ge­stor­ben ist. Manch­mal wird die bil­li­ge Ar­beits­kraft von Bau­ers­frau­en al­ler­dings ger­ne für die Mas­sen­pro­duk­tion von um­floch­te­ten Fla­schen ge­nutzt. Der in­dus­triel­le Schnaps läßt sich im at­trak­ti­ven Korb­man­tel als tra­di­tio­nel­les Lan­des­pro­dukt wohl bes­ser ver­mark­ten. Der Lö­wen­an­teil des Er­lö­ses lan­det über­all an­ders nur nicht bei den Flech­ter­innen.
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Dabei ist Korb­flech­ten mehr als nur ei­ne net­te Form der Kunst. Die viel­sei­ti­gen Mo­del­le sind nicht nur de­ko­ra­tiv, son­dern auch zweck­mä­ßig und stra­pa­zier­fä­hig. Im Ein­kaufs­korb mei­ner Nach­ba­rin Ibi schlep­pe ich lo­cker 10 glä­ser­ne Was­ser­fla­schen. Die Kar­tof­fel­kör­be hal­ten ein Le­ben lang - auch wenn man tat­säch­lich Kar­tof­feln rein tut und sie nicht wie ich als de­ko­ra­ti­ve Be­hält­nis­se für So­cken, Sei­den­tü­cher und Ba­de­zim­mer-Uten­si­lien be­nutzt. Kat­zen- und Hun­de­kör­be aus Schilf­rohr sind wär­mer, luf­ti­ger und leich­ter sau­ber zu hal­ten als Kis­sen oder Mat­ten - ein­fach um­dre­hen und kräf­tig aus­klop­fen. Kör­be sind per­fek­te Be­hält­nis­se für al­les, was tro­cken, luf­tig und doch gut ge­schützt auf­be­wahrt wer­den soll - sei es Tee, Blatt­ge­wür­ze, Zwie­beln, tro­cke­nes Ka­min­holz, Schmutz­wä­sche, oder eben ein Haus­tier.
Das größte Problem aber ist die man­geln­de In­fra­struk­tur für Ver­mark­tung, Trans­port und Ver­kauf, denn der Ab­satz­markt für Flecht­kör­be liegt de­fi­ni­tiv nicht in der Re­gion. Ton­ciu-Frau­en rei­sen da­her mehr­mals im Jahr mit dem Zug oder Bus nach Un­garn und tin­geln von Schu­le zu Schu­le, um dort vor al­lem Klein­kram wie Blei­stift­be­hält­nis­se, Tro­cken­blu­men­hal­ter und Os­ter­körb­chen feil­zu­bie­ten. Doch An­rei­se und Un­ter­kunft ver­schlin­gen be­reits den Lö­wen­an­teil des Er­lö­ses. Die wirk­lich at­trak­ti­ven, grö­ße­ren Stü­cke wer­den vor al­lem für den Haus­ge­brauch ge­fer­tigt. Oder auf Be­stel­lung über ei­ne Ket­te an Ver­wand­ten und Be­kann­ten. Wer ei­nen der bild­schö­nen Wä­sche- oder Brenn­holz­kör­be, Kat­zen­häus­chen oder Brot­käs­ten er­wer­ben möch­te, oh­ne Teil ei­ner sol­chen Ket­te zu sein, der muss sich wohl selbst nach Ton­ciu be­mü­hen und sich zum Her­stel­ler des ge­wünsch­ten Mo­dells durch­fra­gen.
Die Flechter sind nicht ger­ade ge­schäfts­tüch­tig und ha­ben kei­ne Mit­tel für Wer­bung, ge­schwei­ge denn ei­ne kom­mer­ziel­le In­fra­struk­tur. Mein Rat, sich doch ein­mal mit ei­nem Ge­mein­schafts­stand vor die Mol­dau­klös­ter oder Schloß Bran zu stel­len, wur­de von mei­ner Nach­ba­rin Ka­ty mit ei­nem trau­ri­gen Lä­cheln quit­tiert. Die Be­hör­den ver­lan­gen zwi­schen 500 und 600 Lei für ei­ne Ver­kaufs­li­zenz, die sich neuer­dings strikt auf ei­ne Per­son be­schränkt und nicht mehr wie frü­her für ein gan­zes Dorf gilt. Da­für muss man schon vie­le Kör­be ver­kau­fen... Da­bei könn­te das Dorf an­sehn­li­che Men­gen pro­du­zie­ren. Grob ge­schätzt ver­ar­bei­tet ei­ne Frau im Win­ter ca. 25 Schilf­bün­del, aus de­nen man je 10-15 Kör­be fa­bri­zie­ren kann. Es gab wohl in der Ver­gan­gen­heit In­te­res­sen­ten aus Deutsch­land, Spa­nien und Ame­ri­ka, er­zählt ei­ne Nach­ba­rin stolz, aber die Lie­fe­rung schei­ter­te stets an der Or­ga­ni­sa­tion des Trans­ports. Ei­ne zeit­lang hat dann ei­ne Fir­ma aus Ser­bien Ern­te­kör­be für Obst be­stellt. Wa­rum die Be­stel­lun­gen ir­gend­wann aus­blie­ben, weiß nie­mand. Hal­ten die Kör­be noch im­mer? Ist die Fir­ma längst mo­der­ni­siert - oder plei­te? Da­bei man­gelt es den Ton­cia­nern nicht un­be­dingt an Ideen: so­gar ein Korb­mu­seum wur­de an­ge­dacht, in dem von der Schilf­ern­te bis zur Ver­ar­bei­tung al­le Schrit­te er­klärt und dar­ge­stellt wer­den soll­ten. Die Er­öff­nung des Mu­se­ums schei­ter­te nicht an den Räum­lich­kei­ten, son­dern an ru­mä­ni­scher Bü­ro­kra­tie, am Geld für die Re­no­vie­rung des dörf­li­chen "Kul­tur­hau­ses" und an den EU-Vor­schrif­ten für getrenn­te Toi­let­ten.
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Aus vielen Gesprächen neu­gie­rig ge­wor­den, be­schlie­ße ich, mal ei­nen Blick hin­ter die Ku­lis­sen zu wer­fen und be­glei­te mei­ne Nach­barn zur Schilf­ern­te. Wir fah­ren im spä­ten Au­gust um acht Uhr mor­gens nach Le­chin­ta, dann über die Dör­fer bis Bec­lean und wei­ter auf der Haupt­stra­ße in Rich­tung Cluj. Drei Män­ner kur­ven in Ja­nosch's Rost­lau­be vo­raus, ich fol­ge ih­nen mit Ibi und Ka­ty in mei­nem ge­län­de­gän­gi­gen La­da Ni­va. Hin­ter dem Dorf Ba­ta bie­gen wir plötz­lich in ei­nen Feld­weg, der zum Sumpf führt. Mit mei­nem weis­sen "Kar­tof­fel­bom­ber" kom­me ich pro­blem­los bis di­rekt ans Ufer - Ja­nosch mit sei­nem Da­cia schafft es wun­der­sa­mer­wei­se eben­falls. Ibi's Va­ter steigt aus und sucht den Be­sit­zer des Grund­stücks auf. Dann kommt er mit gu­ter Nach­richt zu­rück: für 100 Lei Ge­bühr darf hier ge­ern­tet wer­den! Wir sprin­gen aus den Fahr­zeu­gen. Ödi ver­teilt Plas­tik­be­cher mit dem tra­di­tio­nel­len Schluck Ton­ciu-Wein, der zu je­der Ern­te ge­hört. Dann set­zen wir uns auf bun­te De­cken in die von Korn­blu­men über­sä­te Wie­se. Jetzt wird erst mal kräf­tig Brot­zeit ge­macht. Ibi er­zählt von frü­her, als noch meh­re­re Fa­mi­lien ta­ge­lang nach Su­cea­va oder ins Do­nau­del­ta zur Schilf­ern­te reis­ten. Sie über­nach­te­ten da­mals im Frei­en in Wig­wam ar­ti­gen Zel­ten aus Schilf­bün­deln. Doch nach­dem das Ben­zin so teu­er wur­de, lohn­ten sich die wei­ten Fahr­ten nicht mehr.
Kurz darauf waten wir in lan­gen Ho­sen und Turn­schu­hen ins hüft­ho­he lau­war­me Was­ser. Gum­mi­stie­fel wür­den hier bloß ste­cken blei­ben. Ich wer­de wie die an­de­ren mit ei­ner ra­sier­mes­ser­schar­fen Si­chel mit lan­gem Stiel aus­ge­stat­tet, die ich weit von mir hal­te. Bloss da­mit nicht aus­rut­schen! Die Bauch­ta­sche mit der Ka­me­ra hän­ge ich si­cher­heits­hal­ber um den Hals - nicht dass sie un­frei­wil­lig ba­den geht. Ibi's Va­ter klopft sich auf die Schen­kel vor La­chen, als ich wie selbst­ver­ständ­lich hin­ter den "Pro­fis" durch das schlam­mi­ge Was­ser sta­ke: die "Dom­ni­soa­ra" aus dem Aus­land! "So et­was gab es hier noch nie!", brüllt er im­mer wie­der er­hei­tert und be­steht da­rauf, dass auch ich pho­to­gra­fiert wer­de.
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Es ist angenehm kühl im Was­ser, denn drau­ßen hat es be­reits über 30 Grad. Der Sumpf muf­felt mo­drig, Was­ser­lin­sen und Al­gen­schlie­ren trei­ben uns ent­ge­gen. Es ist aber al­les Na­tur, gott­lob kein weg­ge­wor­fe­ner Plas­tik­müll wie sonst so häu­fig in Ru­mä­nien. Bis auf Was­ser­spin­nen und klei­ne schlüpf­ri­ge Frö­sche se­hen wir kei­ne Tie­re. Vo­gel­nes­ter sind um die­se Jah­res­zeit nicht be­legt, wir stö­ren nie­man­den und las­sen auch noch ge­nug Schilf für die na­tür­li­chen Sumpf­be­woh­ner zu­rück. Mit der Si­chel wird das Schilf­rohr im oft mehr als hüft­ho­hen Was­ser knapp über der Wur­zel ge­kappt. Die frisch ge­schnit­te­nen Stän­gel wer­den zu lo­sen Bün­deln auf­ein­an­der ge­wor­fen, die hin­ter uns im Was­ser trei­ben und ei­ne Spur bis zum Ufer bil­den. Sie wer­den spä­ter von den Män­nern an Land ge­zo­gen. Das Schnei­den ist nicht all­zu schwer und geht schnell vor­an. Nur die weib­li­chen Pflan­zen wer­den ge­ern­tet, denn nur die­se ha­ben flecht­ba­res Mark. Man er­kennt sie leicht: das sind die oh­ne "Schnie­del­wutz" - al­so oh­ne den zi­gar­ren­för­mi­gen, brau­nen Sa­men­stand. Ich schnei­de trotz­dem ein paar "Männ­chen" als De­ko für mei­ne Bo­den­va­se.
Das Herausziehen und Zusammen­bin­den der Schilf­bün­del in der Hit­ze ist al­ler­dings Schwerst­ar­beit. Am En­de des Ta­ges ha­ben wir stol­ze 23 Bün­del ge­ern­tet. Al­les zu­sam­men stellt un­ge­fähr die Men­ge dar, die ei­ne Frau in Ton­ciu den gan­zen Win­ter über ver­flicht. Vor uns ent­steht ein bi­zar­rer Wald aus auf­ge­rich­te­ten Schilf­bün­deln, zu­sam­men­ge­bun­den mit ei­ner Kor­del aus grü­nem "Pa­pu­ra". Wir set­zen uns zu ei­ner kur­zen Pau­se in den Schat­ten die­ses "Pal­men­hains". Dann wer­den die lan­gen mark­lo­sen Blatt­spit­zen von den Män­nern mit ei­nem Beil ab­ge­hackt. Das Bün­del er­hält so ei­ne trans­por­tab­le Grö­ße. Wir Frau­en ha­ben un­ser Tag­werk ge­gen sie­ben Uhr be­en­det und kön­nen nach Hau­se fah­ren, wäh­rend die Män­ner noch auf den Last­wa­gen war­ten und die kost­ba­re Fracht be­wa­chen. Ich sit­ze schon längst wie­der frisch ge­ba­det zu­hau­se am Lap­top, als ich die Stim­men von Ja­nosch und Ödi auf der Stra­ße hö­re. Um zehn Uhr abends ist der Ern­te­tag end­lich auch für die Män­ner ge­lau­fen.
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Hier ein paar Bilder von der Ernte:
Schilfernte
Bloß nicht im Dreckwasser ins Bein schneiden - die Papura-Sichel ist rasier­messer­scharf!
Schilfernte
Erntekleidung: lange Ärmel und Hosen­beine, gut sitzende Turn­schuhe, Hand­schuhe gegen Schnitte durch scharfe Blatt­kanten, und am besten ein Sonnen­hut (natür­lich aus Schilf geflochten)
Schilfernte
Da muß man durch...
Schilfernte
Männerarbeit? Darüber lachen Katy und Ibi nur
Schilfernte
Der fleißige Vater hat schon Berge im tieferen Wasser geschnippelt
Schilfernte
Ödi ist trotz nasser Hose guter Stimmung
Schilfernte
Lange Spur hinter uns: Schilfbündel, bereit zum späteren Herausziehen
Schilfernte
Aus den grünen Blattspitzen zwirbeln Ibi und Janosch eine Kordel
Schilfernte
Ein bizarrer "Palmenhain" aus zusammen­ge­bundenen Schilfbündeln
Schilfernte
Und so sieht das Endprodukt des Tages aus, dem man die viele Arbeit gar nicht mehr ansieht...
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Nach der Ernte werden die Schilf­bün­del 1-2 Ta­ge leicht über­trock­net. Dann tref­fen sich Frau­en und Mäd­chen auf den Bän­ken vor ih­ren Häu­sern zum ge­mein­sa­men Schä­len. Die schlei­mi­ge Flüs­sig­keit, die da­bei aus­tritt, wird auf den Fin­gern fest wie al­ter Kau­gum­mi und geht mit Was­ser und Sei­fe kaum ab, bil­det aber ei­nen schüt­zen­den Film um die häu­fi­gen Schnit­te, die man sich bei die­ser Ar­beit holt. Am bes­ten reibt man sich die Hän­de da­nach vor dem Wa­schen kräf­tig mit Sand ab.
Schilfernte
Die kleine Izabela hat fleissig beim Schälen geholfen
Das zarte Innenmark des Schilfs ver­ar­bei­ten die Frau­en spä­ter zu lo­cker ge­floch­te­nen Pro­duk­ten wie Ein­kaufs­kör­be, Pa­pier­kör­be, Schreib­be­hält­nis­se und eck­ige Scha­tul­len mit De­ckel. Als Vor­la­ge die­nen höl­zer­ne Voll­for­men, an de­ren Au­ßen­sei­te ent­lang ge­floch­ten wird. Die äu­ße­ren, brei­te­ren Schich­ten des Schilf­rohrs sind vor al­lem für Hen­kel, der­be Fuß­mat­ten und die dich­te­ren Kar­tof­fel-, Brot- oder Holz­kör­be ge­eig­net, die un­ter gro­ßem Kraft­auf­wand von Män­nern mit ei­nem Ha­ken ge­floch­ten wer­den. Ver­ar­bei­tet wird das Schilf vor al­lem im Win­ter, wenn kei­ne Ar­beit mehr in Feld und Hof an­fällt. Meist sitzt hier­zu die gan­ze Fa­mi­lie im ein­zi­gen ge­heiz­ten Raum, der Kü­che.
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Die Endprodukte können sich sehen lassen:
Schilfprodukte
Holzkorb "in Action"...
Schilfprodukte
...und "in Pose" vor dem typischen Kachelofen
Schilfprodukte
Einkaufskorb - oder fürs Picknick im Grünen
Schilfprodukte
Katzenhäuschen - besticht aber auch den Kater
Schilfprodukte
Kein Schweißausbruch unter diesem luftigen Schilfhut
Schilfprodukte
Rustikal trifft edel - auch einfachste Korbware kann man mit allem kombinieren
Schilfprodukte
Eigentlich ein Kartoffelkorb - mit unzähligen anderen Verwendungen
Schilfprodukte
Mehr als nur ein Fußabtreter (... z.B. Sitz­kissen für die harte Biergartenbank oder Liegeplatz für Haustiere)
Schilfprodukte
Layla liebt ihre kuschelige Betthöhle
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Was soll man den Toncianern nun als Weih­nachts­über­ra­schung wün­schen? Viel­leicht, dass ein­mal ein In­nen­ar­chi­tekt vor­bei­schnup­pert und für sei­ne Land­haus­kun­den ei­nen Last­wa­gen lie­be­voll aus­ge­such­ter Korb­mo­del­le be­stellt? Dass ein Un­ter­neh­men Le­bens­mit­tel­kör­be aus Ton­ciu an sei­ne Kun­den ver­schenkt - viel­leicht ge­füllt mit lan­des­ty­pi­schem Wein, Räu­cher­kä­se und Sa­la­mi? Dass der Os­ter­ha­se beim nächs­ten Fest aus ei­nem Ton­ciu-Kör­bchen he­raus­lä­chelt? Aber an wen soll er sich wen­den, der Os­ter­ha­se? Weißt du was, lie­ber Os­ter­ha­se? Wenn du wirk­lich In­te­res­se hast, dann kannst du mir schrei­ben. Ich ge­be dei­ne Wün­sche dann wei­ter. Ganz un­bü­ro­kra­tisch und oh­ne Pro­zen­te. An den Weih­nachts­mann, der - pssst, nicht ver­ra­ten - auch in Ton­ciu wohnt!
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