Für Rumänien sollte man ein Bibelzitat umschreiben, auf dass es von allen Kanzeln schalle: „Aus dem Heu sind wir gekommen, und im Heu werden wir enden“. Ein kräftiges Halleluja auf den Kreislauf der Natur, in den sich der kleine Rumäne mit dem ersten Schluck Milch und dem ersten Löffelchen „Ciorbita de vacuta“ (Rindsüppchen) einklinkt, um ihn Zeit seines Lebens nie wieder zu verlassen - und selbst danach nicht, weil das Gras am Friedhof besonders fett wächst und auch dort gemäht werden muss. Mein persönlicher Aha-Effekt nach einem Jahr Landleben lautet:
Heu ist Leben!
Es lebe der Heukreislauf!
Heu bedeutet Leben für Kuh und Schaf als Milch- und Fleischproduzent autarker Selbstversorgerhöfe - die durchwegs übliche Lebensform hier auf dem Lande. Nur so kann man sich erklären, warum abgepackte Lebensmittel in rumänischen Supermärkten teurer sind als in Deutschland, ohne dass in dem armen Land die Revolution erneut ausbricht, denn außer den Städtern kauft sie niemand. Selbst letztere erfreuen sich oft einer freigiebigen Verwandtschaft auf dem Lande, die ihren Lieben Kartoffeln, Eier und Schweinespeck zukommen läßt. Alles, was der Mensch auf dem Dorf für sich und seine Familie zum Leben benötigt, entstammt in der Regel dem eigenen Feld, Garten, Haus und Hof. So ist jeder Dörfler per se Bauer - der eine in kleinerem Stil für die eigene Sippe, der andere verkauft Überschüsse auf dem Markt oder am Straßenrand an vorbeifahrende Reisende. Für den Winter wird eingemacht, eingekellert, getrocknet und eingesalzen was das Zeug hält. Die Hausfrau fermentiert ihren Käse selbst, der mit Salz in einem Faß den Winter übersteht. Die übrige Milch landet mit Brot oder Kleie vermischt im Bauch der Katze, im Napf des Hofhundes oder im Schweinetrog, zusammen mit gekochten Kartoffeln und Essensresten. Ein Festmahl für das Schwein und eine schlaue Investition des Bauern in seinen eigenen Weihnachtsschmaus.
Heu ist Leben für Pferd, Ochse und Esel, die sich ihr Dasein als Arbeitstiere hart verdienen müssen, indem sie pflügen, ackern und Fuhrwerke ziehen. Romantisch mutet der Anblick der turmhoch beladenen Heuwagen an, die im Sommer gemächlich die Straße entlangzuckeln und mit ihrer Ladung fast zwei Spuren belegen. Die viele Arbeit sieht man dem hoch oben auf dem Juchuu thronenden Jungen dann nicht mehr an, sein strahlendes Gesicht verrät vermutlich Vorfreude auf eine dampfende Kartoffelsuppe und ein weiches Bett. Oder sieht die Welt von da oben einfach schöner aus? Wie gerne würde ich es einmal ausprobieren! Und noch einen heimlichen Wunsch muss ich hier eingestehen: einmal im Leben in einen riesigen Heuhaufen springen! Sei still, du ungestümes inneres Kind, man kann nicht alles haben...
Stolze Heumännchen in allen Formen und Größen säumen einsame Landstraßen, die sich durch sanfte Hügel winden oder in engen Bergtälern am Fluss entlang schlängeln. Sie haben oben lustige Zipfelchen, oft auch kleine Dächer aus Folie oder Blech, damit das Regenwasser seitlich besser abtropft. Man muss sie einzäunen oder in schwindelnden Höhen mühsam auf einem Baum auftürmen, damit ihnen gefräßige freilaufende Haustiere nicht vorzeitig zusetzen.
Wenn das Heu hingegen in einem Heuschober oder einer Scheune gelagert wird, ist Trockenheit oberstes Gebot. Dies nicht nur, damit das kostbare Futter nicht verdirbt, sondern auch wegen der Gefahr der Selbstentzündung, da beim Fäulnisprozeß Hitze freigesetzt wird. Heuschober stehen daher meist mit ihren hölzernen Füßen auf dicken Wackersteinen, damit sie sich nicht von unten mit Wasser ansaufen.
Gemäht wird hier fast überall noch mit der Sense, vor allem aber in den Bergregionen, sowie bei Sommerhitze mitten am Tag, damit das Heu auch wirklich schön trocken ist. Ein Knochenjob, doch der Sensenmann bei uns im Dorf verlangt dafür nur 5 Lei pro Stunde, das ist ein bißchen mehr als ein Euro. Luzerne hingegen muss man morgens mähen, denn wenn sie nicht feucht ist, fallen die zarten, nahrhaften Blättchen ab. Wer sich schon gewundert hat, warum man mancherorts alle paar Meter abgemähte Wiesenflecken findet, während ringsum hohes Gras steht, hier die Erklärung, die mir ein Mäher gegeben hat. Wenn man die ganze Wiese auf einmal schneidet, ist das Gras danach für längere Zeit zu kurz zum mähen. Deswegen bewahrt man stets Portionen mit längerem Gras, die später gemäht werden können, während das kurze in Ruhe nachwächst. Die Methode empfiehlt sich, wenn man frisches Gras als Futter benötigt, anstatt Heu zu machen.
Doch nach dem Mähen ist die Arbeit noch lange nicht getan. Je nachdem für welches Tier das Heu oder Gras als Futter bestimmt ist, müssen bestimmte Kräuter sowie Disteln mit groben Dornen aussortiert werden. Pferde und Kühe bekommen von gewissen Pflanzen Durchfall, z.B. von Schachtelhalm, oder sie verletzen sich das zarte Maul an den Stacheln der Disteln.
Heu hält bei richtiger Lagerung etwa 2-3 Jahre lang, wobei man eher das frische verfüttert und das alte als Einstreu verwendet. Je nachdem, wo man mäht, fällt Heu in verschiedenen Qualitäten an, sodass auch Widerkäuer Unterschiede zwischen „Festessen“ und „Hausmannskost“ kennen. Wenn das deutsche Heilmittelgesetz in Rumänien gültig wäre, dann müsste man rumänisches Heu in kleinen Dosen in der Apotheke kaufen, denn es enthält noch eine unbeschreibliche Fülle an Blumen und Heilkräutern, wie z.B. wilde Minze, Scharfgarbe, Johanniskraut, Steinklee, Spitzwegerich, Enzian, Arnika, wilder Thymian, Schachtelhalm und vieles mehr. Diese Artenvielfalt kann nur entstehen, weil die Wiesen nicht künstlich gedüngt sind und meist nur einmal im Jahr gemäht werden. Geheimtipp: fast alles, was hier blüht, eignet sich zum Aufbrühen als Tee, von Heubädern erst gar nicht zu sprechen. Kühe aufgepasst, jetzt müsst ihr sehen, wo ihr bleibt!
Rinder sind beim Fressen übrigens weniger g‘schleckig als Pferde. Sie ziehen sich gnadenlos alles rein, was ihnen auf den Teller – äh – vor die Füße gerät. Ich musste mal einer dumm-gefräßigen Kuh mit Gewalt eine Plastikfolie aus dem Maul reissen, denn wer weiss, ob die jemals wiedergekommen wäre (wir brauchten sowohl die Folie als auch die Kuh noch...). Das hintere Ende der Folie muss schon recht weit vorgedrungen sein, denn es war halb angedaut, während das Vieh noch geduldig auf dem vorderen Ende herumkaute. Wäre die Folie länger gewesen, hätte man sich überlegen können, ob man sie besser vorne oder hinten herauszieht... Ob sich auf diese Weise mehrere Kühe „auffädeln“ ließen? Eine andere Kuh frass genüßlich krachend verdorbene Eier mitsamt Schale, die wir auf die Wiese geschmissen hatten. Der bestialische Gestank störte sie nicht im geringsten. Ich weiss nicht, wofür Kühe diese riesigen Nasen haben – oder ist das ein gut getarntes zweites Kleinhirn?
Dafür sind Pferde entschieden verfressener als Kühe: in einem Winter vertilgen sie vier von diesen gigantischen Heuwagenladungen, Kühe jedoch nur zwei. Warum das? Nun, Pferde gehen auch nachts „an den Kühlschrank“, während Kühe nach dem Sandmännchen brav schlafen, so wie sich das gehört. Zutiefst ungerecht ist, dass Rinder trotzdem dicker sind...
Kühe sind meine Lieblingstiere, seit ich mich diesen Sommer unfreiwillig als Hirte profilieren musste: Meine Freundin Erszi und ich kehrten nach einer Wanderung zu ihrer Berghütte zurück und bemerkten, dass etwa 20 Kühe in den Garten eingebrochen waren. Erszi schloss die Hütte auf, drehte sich zu mir um und meinte beiläufig: „Ich geh in die Küche, treib du doch bitte inzwischen die Kühe raus“, und weg war sie. Es begann schon zu dämmern und wir wollten im Garten grillen. Naja, ich ging also auf die Eindringlinge zu und baute mich hinter dem erstbesten Rindviech auf - aber wie sagt man zu einer Kuh, wenn man sie antreiben will? „Hüüh“ ist doch eher für ein Pferd gedacht. „Hallo“ wirkt vielleicht zu jovial, „Heureka“ klingt übertrieben intellektuell und „Hurra“ wäre allenfalls nach dem erfolgreichen Heraustreiben der Rindviecher angebracht. Also brüllte ich zu Erszi rein: „Wie spricht man bei euch Kühe an?“ Aus der Hütte ertönte postwendend ein lautstarkes „Njehoo-njäääh“! Ob das ungarisch ist? Egal, ich schnappte mir einen Stock und bezog erneut hinter der Kuh Stellung. Etwas verschämt rief ich leise: „njehoo-njäääh!“ Ob sie wohl meinen ausländischen Akzent versteht? Hoffentlich hört mich sonst keiner. Die Kuh schien mich jedoch verstanden zu haben, denn sie trabte brav vor mir her bis zum Gatter. Es folgte die nächste, dann noch eine und noch eine, ich stolz grinsend hinterdrein, mit immer selbstbewussterer Stimme und eifrig den Stock schwingend. Welch tolles Erfolgserlebnis! In fünf Minuten waren 20 Kühe evakuiert und wir konnten irgendwo zwischen den Kuhfladen den Grill aufbauen. Mein Fazit: Kühe sind super! Zudem kann ich jetzt eine Fremdspache mehr: Kuhsch.
Gelegentlich beobachtet man in Rumänien Leute, die ihr Hausrind an der Leine Gassi führen, immer die Straße auf und ab. Komisch, dachte ich anfangs, ob der Arme keinen Hund hat, der ihn begleiten könnte? Oder wollte er zuhause keine Kuhhäufchen wegputzen? Ging es ihm vielleicht darum, den vorbeifahrenden Autos stolz sein prächtiges Vacuta (Rindchen) vorzuführen? Alles falsch geraten. Es gibt leider auch Menschen, die kein oder zu wenig eigenes Weideland besitzen und ihr Tier auf öffentlichen Wegesrändern grasen lassen müssen, um ein bißchen Milch zu erhalten. Im Sommer mäht der Mann den Straßenrand dann säuberlich mit der Sense, damit die Kuh auch im Winter zu fressen bekommt. Über Bleibelastung in der Milch macht er sich mit Sicherheit keine Gedanken. „Mir geht’s doch gut und ich mache das schon immer“, entgegnen mir Rumänen stets arglos, wenn ich sie vorsichtig über solche Dinge aufzuklären versuche - z.B. dass das hier übliche Verbrennen von Plastikflaschen und -tüten gefährliche Dioxine freisetzt. Nicht einmal der Bürgermeister hatte Verständnis für meinen Wunsch, die asbesthaltigen Eternitstücke, die ich von meinem Vordach entfernt hatte, ordnungsgemäß zu entsorgen. Rumänien ist halt Rumänien, mit all seinen Defiziten und Vorzügen. Ein intensives Land, das einen täglich auf die ein oder andere Weise zum Nachdenken anregt...
Auf dem Lande lebend merkst du bald: Du bist hier Teil der Natur – oder Teil des Heukreislaufs - und du weißt wieder, woher die Dinge kommen. Der banale Markenschmelzkäse mit dem goldbeschichteten Glanzpapier erscheint dir dann wie ein High Tech Produkt aus einer fernen Welt. Die Pappschachtel kann man im Ofen verheizen, aber das Goldpapier flattert durch die Landschaft und bleibt im Geäst irgend eines Strauches hängen. Wie so vieles, was kein Mensch braucht...
Aber was braucht der Mensch wirklich? Ein kleines Häuschen und ein Fleckchen eigenes Land: Menschenwürde, die man in den Wohnblocks der Stadt nicht findet - nicht hier und nicht in Deutschland. Wiesen, Bäume und freie Natur.
Und auf jeden Fall gaaanz viel duftendes, trockenes Heu!