Der rumänische Alltag


Text: Joscha Remus
Fotos Hans-Ulrich Schwerendt

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„Alles was bisher in Rumänien geschaffen wurde,

trägt das Stigma des Fragmentarischen...

Jede rumänische Daseinsform wird

vom Genie des Augenblicks beherrscht.“

(Emil Cioran, rumänischer Philosoph)
Pferdefuhrwerk
Ana und Radu sitzen auf der neu auf­ge­stell­ten Bank, die nur ei­ni­ge Me­ter von der ein­zi­gen Stra­ße im klei­nen Ort Nea­gra ent­fernt auf­ge­stellt wur­de. Kei­nen Stein­wurf ent­fernt fließt die Mu­reş an dicht be­wach­se­nen Ufer­auen da­hin. Das re­flek­tie­ren­de Licht der Som­mer­son­ne tanzt auf den Wel­len. Die grü­nen Wei­den hin­ter dem Fluss sind blu­men­über­sät. Da­hin­ter zie­hen sich satt­grü­ne Tan­nen­wäl­der die Hü­gel hi­nauf. Ru­mä­ni­sche Dorf­idyl­le pur.
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Doch die Sitzbank ist nicht in Blick­rich­tung Fluss, nicht in Rich­tung Wie­sen und Wald auf­ge­stellt! Ana und Ra­du sit­zen und bli­cken in Rich­tung Stra­ße, die sich schnur­ge­ra­de durch den Ort zieht. So, als wür­den sie die zahl­lo­sen vor­bei­rau­schen­den Au­tos zäh­len, be­we­gen sich ih­re Köp­fe hin und her. Auf die Fra­ge, wa­rum der Bür­ger­meis­ter die Bank nicht mit Blick­rich­tung Fluss auf­ge­stellt hat, sagt Ra­du: „Man könn­te doch den Fort­schritt se­hen. Der Fluss ist nichts be­son­de­res, den ken­nen wir schon seit über 70 Jah­ren.“
Frau mit Schafen
Im Agrarland Rumänien ist die Stra­ße mehr als nur ei­ne rei­ne Fahr­flä­che für mo­to­ri­sier­te Men­schen. Hier sind die Stra­ßen Le­bens­räu­me. Wer sich in Ru­mä­nien als ra­sen­der Au­to­mo­bi­list auf­spie­len möch­te, wird nicht sel­ten un­sanft ge­bremst. Die Ur­sa­che könn­ten bei­spiels­wei­se dis­ku­tie­ren­de Frau­en­grup­pen sein, die sich, in Er­man­ge­lung ei­nes Dorf­plat­zes, zum nach­mit­täg­li­chen Stell­dich­ein auf der ein­zi­gen Stra­ße des Or­tes ver­ab­re­det ha­ben. Aber auch Rin­der- und Schaf­her­den, die zu Zei­ten des Alm­auf- oder -ab­triebs die Stra­ße blo­ckie­ren, oder plötz­lich hin­ter Kur­ven auf­tau­chen­de Pfer­de­fuhr­wer­ke und streu­nen­de Hun­de ma­chen ei­nem schnell klar, dass Stra­ßen im länd­li­chen Ru­­mä­nien Haupt­schlag­adern des dörf­li­chen Le­bens sind.
Männer sitzen in Baggerschaufel

Auszug aus „Kulturschock Rumänien“ von Joscha Remus

erschienen im REISE KNOW-HOW Verlag Bielefeld

ISBN-13: 978-3831714964

ISBN-10: 3831714967

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