Es ist schon dunkel, als wir die Cabana Piatra Singuratica erreichen. Über den Hauptkamm des Hasmas-Gebirges sind wir durch knietiefen Schnee aufgestiegen und haben vom 1700 Meter hohen Ascutit der untergehenden Sonne zugeschaut, vor die sich alsbald eine Wolkenwand schob. Der plötzlich einsetzende Schneefall hat uns die Orientierung erschwert und selbst Pál, unser einheimischer Führer, der den Berg wie seine Hosentasche kennt, bekundete Mühe im nächtlichen Flockengestöber die kleine Holzhütte zu finden.
Im Schlafraum mit den eisernen Bettgestellen bollert ein Kanonenofen gegen die Kälte an. Wir sind froh um unsere dicken Schlafsäcke, die Januarnacht ist lang. Am Morgen drückt die Sonne wieder durch, federleichter Neuschnee glitzert im fahlen Licht. Eine warme Frühstückssuppe, die entfernt an Käsefondue erinnert, liefert Kalorien für den Tag.
Wir schnallen unsere Schneeschuhe an, schultern die Rucksäcke und tauchen ein in die weisse Ewigkeit. Wir pflügen durch sanfte Hänge und über windige Kuppen, zwischen knorrigen Kiefern und Tannen hindurch, die, so scheint es, fast doppelt so hoch aufragen wie bei uns zu Hause in der kleinen Schweiz.
Die Einsamkeit ist groß und macht süchtig. Doch Mehrtages-Trecks durch die Karpaten sind – außer man ist bereit, Zelt, Schlafmatten und Kochausrüstung mitzutragen – im Winter schwierig. Viele der traditionellen Berghütten sind verlottert oder gar zerstört, zu Ceaucescus Zeiten leergeräumt von verzweifelten Rumänen auf der Suche nach Baumaterial oder Brennholz. Auch die Cabana Piatra Singuratica ist erst seit kurzem wieder in Betrieb, mit staatlichen Geldern renoviert, als vorderhand einzige Gebirgsunterkunft in der Region Hargita.
So steigen wir am zweiten Tag unserer Schneeschuhwoche wieder hinunter ins Tal. Nach siebenstündiger Wanderung erreichen wir spätnachmittags beim Eindunkeln eines der typischen langgezogenen Dörfer mit bunt gestrichenen Walmdachhäuschen. Autos, Pferdekarren und Fussgänger teilen sich die Hauptstraße. Zwar hat das moderne Europa seit dem Sturz Ceaucescus in Bukarest Einzug gehalten, allein auf dem Land herrscht noch bittere Armut.
Mangels Übernachtungsmöglichkeiten in der Höhe unternehmen wir die weiteren Schneeschuhtouren als Tagesausflüge von Gheorgheni aus. Die drittgrößte Stadt im Landkreis Hargita trägt drei Namen: rumänisch Gheorgheni, ungarisch Gyergyószentmiklós und deutsch Niklasmarkt.
Denn Siebenbürgen oder Transsilvanien, Heimat des Grafen Dracula, gehörte ursprünglich zu Ungarn, wurde im 12. Jahrhundert von deutschen Auswanderern besiedelt und kam erst nach dem Ersten Weltkrieg zu Rumänien. Die Nachkommen der Siebenbürger Sachsen sind fast alle verschwunden, die ungarischen Szekler indes bilden heute noch die größte Volksgruppe in diesem Gebiet und übertreffen die Rumänen zahlenmässig bei weitem.
Auch Pál István, unser Führer, ist Szekler. Er spricht Ungarisch und zu unserem Glück auch Englisch. Jeden Morgen kommt uns Pál mit seinem Auto in Gheorgheni holen und nimmt uns mit zu einer fünf- bis sechsstündigen Tageswanderung, Abenteuer ganz in Weiss. Denn vor unserer Ankunft hat es drei Tage lang ununterbrochen geschneit, knietief liegt der Puder auf den Hügeln – ideale Verhältnisse zum Schneeschuhwandern.
Allerdings: Schneeschuhe sind in Rumänien noch so gut wie unbekannt. Selbst für Pál und seine Kollegen vom Hargita Öko Alpin Klub – alles erfahrene Bergsteiger – gehören die Plastiktatzen nicht zum gängigen Gerät. Pál ist auch im tiefsten Winter lieber zu Fuß unterwegs und wählt die Routen entsprechend der Gangbarkeit, so wie es die Holzfäller tun. Nur ungern lässt er sich zu Beginn unserer Wanderwoche davon überzeugen, seine Schneeschuhe doch noch einzupacken. Wir wollen ja nicht nur Forststraßen folgen, sondern in unberührte Hänge hinaufsteigen, kleine Gipfel erklimmen, kurzum, dorthin waten, wo sonst niemand ist.
Pál erfüllt uns freilich diesen Wunsch. Vom Lacul Rosu, einem durch Murgang gebildeten natürlichen Stausee, aus dessen Eisdecke noch die toten Baumstümpfe ragen, wandern wir am dritten Tag bergan, vorbei an verlassenen Alphütten und vergessenen Heureitern. Hier sömmerten die Bauern einst große Herden, heute werden die Hochweiden der Ostkarpaten nur noch spärlich genutzt. Die Mehrzahl der Hütten und Scheunen sind leer, vom Wind schief gedrückt oder bereits am Verfallen – Bilder mit dem traurigen Charme westamerikanischer Geisterstädte.
Dann steigen wir in felsiges Gelände, bahnen uns den Weg durch dichten Wald, klettern mit unseren verlängerten Füssen über eine Unzahl umgestürzter Baumstämme. Schließlich gelangen wir zu jenem luftigen Punkt, von dem man senkrecht hinunter in die Bicaz-Schlucht blickt, einst natürliche Grenze zwischen Ungarn und Rumänien. Im Sommer sind der Lacul Rosu und die Bicaz-Schlucht beliebte Ausflugsziele; am kleinen See gibt es denn auch ein Hotel und Esslokale.
Jetzt ist alles geschlossen, bis auf einen kleinen Verkaufsstand, der den spärlichen Besuchern leckere Kürtöskalács – über dem Feuer geröstete Teigrollen mit Zuckerglasur – anbietet.
Im Winter sind die Ostkarpaten noch einsamer als im Sommer. Wir begegnen auf unseren Touren keiner Menschenseele, sehen keine menschlichen Spuren im Schnee außer den eigenen. So auch am nächsten Tag beim Aufstieg zum Scaunul Domnului, dem Thron Gottes, einer 1400 Meter hohen Erhebung nördöstlich von Gheorgheni. Der Weg führt vorerst durch dichten Buchenwald, noch hängen die gelben Herbstblätter an den Bäumen, erstarrt und festgefroren, als hätte sie der Karpatenwinter zu früh überrascht.
Die Fernsicht von der Gipfelkuppe ist beeindruckend: Endlose Reihen bewaldeter Hügel und Rücken verlieren sich am Horizont, in der Talsenke ein paar verstreute Bauerngehöfte, sonst nichts.
Der nahezu u-förmige Karpatenkamm misst insgesamt 1500 Kilometer, ist also länger als der Alpenbogen. Die Westkarpaten ziehen sich von Österreich durch Tschechien, Polen und die Slowakei; die Ostkarpaten bilden den Mittelteil, er liegt auf rumänischem Boden und grenzt an die Ukraine; die Südkarpaten ragen nach Serbien hinein und steigen bis auf 2500 m ü. M. an. Die Gipfel der Ostkarpaten erreichen kaum mehr als 2000 m ü. M. und sind oft bis zuoberst bewaldet. Geformt werden die Ostkarpaten von drei parallelen Hügelzügen: im Westen vulkanisches Gestein, in der Mitte kristalliner Schiefer, im Osten Sandstein, Mergel und Kalk.
Die Karpaten gehören den Bären, Wölfen und Luchsen. Nirgends in Europa ist die Population dieser drei Raubtierarten so dicht wie hier, wo wir mit unseren Schneeschuhen stehen und in die blasse Januarsonne blinzeln. In den Karpatenwäldern tummeln sich nach aktuellen Schätzungen 6000 Braunbären, 2500 Wölfe und 1800 Luchse. Wölfe und Luchse sind scheu und bleiben meist unsichtbar. Die Anwesenheit der Bären wiederum lässt sich kaum übersehen.
Am letzten Tag unserer Wanderwoche stapfen wir dem Hauptgrat des Hagota-Vithavas-Gebirges entgegen, einem bewaldeten Rücken unweit des Lacul Rosu. Mit demselben Ziel muss kurz zuvor eine Bärenmutter mit ihrem Jungen aufgebrochen sein, denn die noch frischen Spuren kreuzen unsere Route bis zum Gipfelplateau immer wieder und verlieren sich erst dann im Unterholz. Bären machen keinen Winterschlaf, sie verharren viel mehr in Winterruhe, aus der sie leicht erwachen und dann und wann auf Nahrungssuche gehen.
Die Wahrscheinlichkeit, im Winter einem Karpatenbären zu begegnen, ist allerdings kaum größer als die, einen transsilvanischen Vampir zu treffen. So sehr wir auch Ausschau halten, Meister Petz zeigt sich nicht. Dennoch ist gerade beim geräuschlosen Waten im Schnee Vorsicht geboten: Ein Bär lässt sich bekanntlich ungern hinter einer Wegbiegung oder einer Geländekuppe überraschen. Wer in Gruppen wandert und sich dabei lautstark unterhält, hat aber kaum viel zu befürchten.
Häufiger als Bärensichtungen sind in Siebenbürgen Bärengeschichten. Beim Picknick im Schnee erzählt uns Pál, wie ein jüngerer Bär ihn einst zu Boden warf, nach kurzer Zeit aber, da er sich tot stellte, wieder von ihm abliess. “Er wollte mit mir spielen und war enttäuscht, dass ich nicht sonderlich Lust dazu hatte”, lacht Pál. Die Thermosflasche mit dem kräftig gewürzten Glühwein macht die Runde, um uns herum stehen die karpatischen Nadelbaumriesen in den blassblauen Winterhimmel. Zum letzten Mal sind wir allein mit der großen Natur. Dann folgen wir unseren Schneeschuhspuren zurück in die Zivilisation.
Schneeschuhwandern in den Ostkarpaten
Wandergebiet: Die rumänischen Ostkarpaten sind touristisch wenig erschlossen, es gibt kaum Infrastruktur, und die wenigen markierten Sommerwanderwege sind im Winter schlecht auszumachen. Es empfiehlt sich, Schneeschuhtouren mit einem/r ortskundigen Führer/in zu unternehmen.
Organisation: Hargita Öko Alpin Klub, www.erdelyiturak.ro, Mail office@erdelyiturak.ro, Telefon +40 740 43 23 85. Der Klub wartet mit einer Fülle von Aktivitäten auf. Schneeschuhwandern ist neu im Programm und (noch) ein Geheimtipp. Der Klub organisiert geführte Touren nach Maß.
Anreise: Mit dem Flugzeug nach Bukarest. Die Weiterfahrt mit der Eisenbahn in die Region Hargita ist möglich, aber zeitraubend. Der Klub bietet einen Abholservice am Flughafen an. Ein Zwischenhalt in der transsilvanischen Stadt Brasov lohnt sich.
Unterkunft: In größeren Ortschaften gibt es einfache Hotels. Ein paar wenige Berghütten sind auch im Winter geöffnet, Schlafsack, Essen und Getränke müssen allerdings mitgebracht werden. Der Klub sorgt nach Absprache für Übernachtung und Verpflegung.
Ausrüstung: Warme Kleidung wird empfohlen. Im Hochwinter liegt die Durchschnittstemperatur in den rumänischen Bergen bei minus 15 Grad. Der Klub vermietet einfache Schneeschuhe und Stöcke, besser ist es jedoch, eigenes Material mitzubringen.