Zufall? Vorsehung? Jetzt muss man sagen, dass Rumänien in der Tat ein Erdbeben-Gebiet ist. Es soll schon in den 40ern ein ziemlich heftiges Erdbeben gegeben haben, an das sich meine Eltern noch erinnerten. Aber dass meine Mutter einige wenige Tage vor dem dramatischen Naturereignis genau daran denkt, mag Zufall gewesen sein, kann uns aber das Leben gerettet haben. Denn die wichtigsten Überlegungen hatten meine Architekteneltern bereits getan und konnten blitzschnell reagieren. Als meine Mutter im Vorfeld gefragt hatte, ist mein Vater im Kopf die Bauweise unseres Mehrfamilienhauses durchgegangen… (Pardon: Plattenbaus. Einer der renommiertesten Professoren der Architektur im kommunistischen Bukarest musste per Parteianordnung in einer Platte wohnen, aber das tut gerade nichts zu Sache, das ist nur eine der Absurditäten, mit denen ich aufgewachsen bin). Mein Vater schloss, der einzige sichere Ort sei das Treppenhaus, weil aus Stahlbeton.
In dem Moment, als es losging, wußten meine beiden Eltern genau, wohin. Meine Mutter schnappte mich und eilte aus dem Wohnzimmer. Mein Vater schob noch von hinten. Hinter uns hörte ich es krachen, und zwar massiv. Die Bibliothek meines Vaters, verteilt über drei Regale bis zur Decke, stürtzte runter und zerstörte unseren massiven Esstisch. Wir konnten das nicht mehr sehen, nur noch hören. Es war abends, das elektrische Licht war auch weg.
Ich kann mich nicht erinnern, wie lang alles dauerte. Ich glaube, ich hatte etwas Angst, aber nicht viel. Ich kann mich eigentlich noch erinnern, dass meine Neugier größer war als die Angst. Ich wollte überhaupt kapieren, was da vor sich geht. Mein Vater, ganz der Professor, legte mit Dozieren schon los, bevor das Ganze zu Ende war. Er sprach von Erdplatten und Verschiebungen und erzähle vom Vesuv, den er schon mal aktiv erlebt hatte. Das war so cool, dass ich gar keine Angst mehr hatte.
Bukarest war eine halbe Ruine. 35 Gebäude waren vollends eingestürzt, an vielen anderen gab es massive Schäden. Mit einer Stärke von 7,2 auf der Richterskala und dem Epizentrum im Vrancea-Gebiet, am östlichen Rand der Karpaten, hatte das Erdbeben katastrophale Folgen für Menschen, Wohn- und Wirtschaftsanlagen. Der Verkehr war erlahmt, die Telefonleitungen tot, elektrisches Licht kam auch erst nach 1-2 Tagen, in manchen Bereichen der Stadt war auch die Wasserversorgung ausgefallen. Wir gingen zu Fuß durch die halbe Stadt um zu meiner Großmutter zu gelangen. Wir sahen unterwegs viele Stellen in Schutt und Asche, wo Helfer versuchten, Überlebende zu finden. In den Straßen kochten Leute an Feuerstellen Wasser ab. Irgendwann kamen Bauern in die Stadt und verkauften Milch, Gemüse, Eier direkt in den Straßen, aus den Kofferräumen sozusagen.
Schlimmer war zu erfahren, wer alles gestorben war: Freunde und Bekannte – aber auch Personen des öffentlichen Lebens. Schauspieler und Regisseure, die wir liebten, Schriftsteller, Sänger. Ein ohnehin armes Land war schwer getroffen worden.
Auch wenn der Moment selbst für mich nicht schlimm gewesen ist, mein verspieltes Köpfchen schnallte schon, dass das nichts war, was wir noch mal erleben wollen. Auch in der Schule trainierten wir, was zu tun sei, im Falle eines erneuten Erdbebens, nämlich unter die Schulbänke uns in Sicherheit zu bringen, falls es im Unterricht losgehen würde – ansonsten war auch das Treppenhaus die sicherste Konstruktion. Alle sprachen davon – und einige waren schon ganz schön erschrocken. Vor allem diejenigen, die jemanden aus der Familie verloren hatten – das war zum Glück bei uns nicht der Fall.
Ich erinnere mich mit Respekt und Ehrfurcht an diese Tage, aber ich muss sagen, dass sie mich im Großen und Ganzen nicht traumatisiert haben. Keine Ängste, keine Alpträume, ich bin relativ unbeschadet geblieben. Ich kann in vielen Augenblicken noch auf das Glück-gehabt-Gefühl zurückgreifen.
Es ist ein gutes Gefühl, das mir oft im Leben hilft.