23. Dezember 2017, wir sind ostwärts unterwegs, fahren Richtung Licht. Wollen Weihnachten in Hermannstadt verbringen. Auf der Autobahn durch Ungarn ändert sich das fahle Winterlicht. Anders scheint es durch die Wolken, beinah magisch begleitet es uns auf dem Weg. Ein bisschen wie die heiligen drei Könige, so kommt es mir vor, die einem Stern gefolgt sind. Auch wir sind zu dritt, voller Vorfreude und Erwartung, aber auch müde vom ganzen Jahr. Frieda, die Hündin, liegt vor meinen Füßen und döst.
Spät am Abend sind wir endlich da, die ganze Stadt ist gezuckert mit frischem Schnee, empfängt uns ruhig und schlafend. Auf dem Weg zum Quartier ein erster Blick auf den Weihnachtsmarkt. Wow! Ich jauchze, kann es kaum fassen, so wunderschön ist der Große Ring. Schneebedeckte Tannen auf die Häuserfassaden projiziert, ein weit umspannendes Lichternetz in der Mitte und leise klingt Musik aus einigen Buden, die noch offen sind.
Eingetaucht in ein Winterwonderland, im Herzen von Hermannstadt. Ich bin in einer anderen Welt, so sanft, anmutig und still ist alles, eine verzauberte Stadt. Seit meiner Kindheit, beinahe 30 Jahre, war ich nicht zu Weihnachten hier. Ich mache mich auf zu einem Spaziergang bei Nacht. Und komme aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Der leuchtende Bogen über der Lügenbrücke, wie im Märchen. Fotos davon hatte ich schon gesehen, aber es ist doch etwas anderes, selbst direkt davor zu stehen und darunter hindurch zu gehen.
Ein Traum in Weiß, mit jedem Schritt. Diese unfassbare Ruhe, die jedes Haus, jede Straße, eigentlich die gesamte Stadt ausstrahlt. Und doch nicht nur schläft: Vă vedem, wir sehen euch, die Fenster der Dächer sehen auch nachts aus wie geöffnete Augen. Vă vedem din Sibiu, wir sehen euch aus Hermannstadt – das ist der Slogan einer Protestbewegung. Vor zwölf Tagen haben die silent protests angefangen, gegen Korruption in der Politik und als Zeichen einer aktiven und wachen Zivilgesellschaft Europas. Von 12.00 bis 12.15 Uhr mittags stehen Menschen still mitten in der Stadt, im Rücken das Brukenthal-Gymnasium und die Stadtpfarrkirche. So blicken sie auf das Büro der Regierungspartei, mal halten sie Smartphones mit aktivierter Taschenlampen-App Richtung PSD-Büro, mal Plakate. Auf jeden Fall sehr eindrücklich, beharrlich und kreativ. Das ganze nächste Jahr werden sie dort stehen, an der Ecke Fleischergasse/Strada Mitropoliei und dem Zugang zum Großen Ring/Strada Samuel von Brukenthal. Und sie werden nicht aufhören, wach zu sein.
Zurück am Großen Ring, fällt mir die Krippe auf. Vor allem Maria, in Holz geschnitzt, mit ihrem Blick. Weich, besorgt, versunken in Gedanken – vielleicht denkt sie an die Hirten und was sie alles erzählt haben von den himmlischen Heerscharen, die ihnen draußen auf dem Feld erschienen sind. Oder an Gabriel, den Engel, der ihr all dies ankündigte, doch vieles nicht: „Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.“ (Lukas 2, 19) Ein Trauerschleier liegt über ihrem Gesicht.
Sie sieht ins Nichts, irgendwohin neben das Kind, das vor ihr liegt, putzmunter. Auf der anderen Seite Josef, sehr in Bewegung, wie auf dem Sprung, das hier ist keine Bleibe. Auch er ist besorgt und will weiter.
Eine Bleibe auf Zeit hat ein Zweig auf der Fensterbank im Gästezimmer des Bischofspalais gefunden. Ein Kirschzweig, der am Barbaratag, am 4. Dezember von einem Kirschbaum abgeschnitten wurde und nun zu Weihnachten blühen soll. Aus Wittenberg, über Augsburg und Bratislava ist er mit nach Hermannstadt gekommen. Ob er das noch mitmacht – nach all den Strapazen zu blühen?
An Heiligabend über den Weihnachtsmarkt, der Mond scheint in die transsilvanische Nacht und die Stadt leuchtet in den Himmel hinein. Die Atmosphäre ist entspannt und leicht – anders als in Deutschland, nicht so trubelig, nicht so gedrängt. Ein großer Genuss.
Der Sternenglanz des Winterhimmels hängt auch in der Kirche. Lichtdurchflutet ist die evangelische Stadtpfarrkirche am ersten Weihnachtsfeiertag. Eine wunderbare Idee, Sterne durchs Kirchenschiff zu spannen, golden, silbern, bunt und leicht. Wir können den Blick gar nicht oft genug heben, um das alles aufzunehmen und etwas davon mitzunehmen, von diesem Leuchten, Schwingen und von dieser Leichtigkeit.
Erhellt von Sonnenstrahlen, gewärmt von Heizstrahlern und die Beine in Decken gehüllt, singen wir in der großen gotischen Kirche: „Dies ist die Nacht, da mir erschienen des großen Gottes Freundlichkeit; das Kind, dem alle Engel dienen, bringt Licht in meine Dunkelheit.“ Freundlich ist die Stimmung, zugewandt. Musik erfüllt den Raum, alte Choräle, die kleine und die große Orgel spielen und ein Waldhorn.
Danach wieder draußen, die Sonne glitzert, wärmt das Gesicht. „Jauchzet, frohlocket! Auf, preiset die Tage“ schallt es unüberhörbar aus den Lautsprechern am Weihnachtsmarkt über den Großen Ring. Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium und dazu gibt es bestes Baklava, mit Schokolade, Nüssen und Honig. Den Geschmack des Morgenlands auf der Zunge – mit Johann Sebastian Bach im Ohr. Weihnachten in Siebenbürgen.
Und der Kirschbaumzweig? Stand lange im Wasser und regte sich nicht, wollte partout nicht blühen. Zwei Wochen lang. Am 6. Januar dann, am Vormittag von Epiphanias, der „Erscheinung Gottes“, tut sich etwas, endlich. An „Heilige Drei Könige“, dem letzten Tag der Weihnachtszeit. Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, wollte den Zweig aber nicht wegwerfen. Und dachte, es war eine Schnapsidee, mitten im Winter einen Kirschbaumzweig durch halb Europa mitzunehmen. Im Inneren aber, da hat es gearbeitet im knorrigen Zweig. Plötzlich ploppen Knospen auf und Blüten winden sich mühevoll heraus. Da bricht etwas heraus, zuerst frühlingsgrün, dann blütenweiß wie Schnee und zart
In der Stadtpfarrkirche steht am 6. Januar noch der Weihnachtsbaum, auch im neuen Jahr ist Weihnachten noch nicht vorbei. Mit roten Äpfeln voll von Lebenslust und Lebenssaft. Wie übergroße Kirschen hängen sie da und versprechen ein fruchtbares Jahr.
Am Abend ist es dann doch vorbei. Der Weihnachtsmarkt wird abgebaut, das Lichternetz über dem Platz und die Lichterkette an der Dachtraufe der katholischen Kirche bleiben bis zum Schluss. Sie leuchten in den blauen Abendhimmel und in die Nacht.
Drinnen auf dem Fenstersims macht der Kirschzweig munter weiter, mit Willen und mit Kraft. Die erste Blüte ist voll aufgegangen und eine Knospe nach der anderen schießt heraus. Ganz so, als sei ein großer Knoten geplatzt.
Am nächsten Tag: Das Leuchten am Großen Ring hängt noch, auch ohne Winterwonderland. Langsam verabschiedet sich Weihnachten. Die Tage werden spürbar heller und länger. Bereit fürs neue Jahr.
Vier Blüten sind es jetzt, es geht Schlag auf Schlag. Die ersten Blütenblätter verlieren ihre Kraft und werden schlapp. Sie haben ihre Zeit gehabt und haben geleuchtet, mitten im Winter. So wird es sein in diesem neuen Jahr, wie in jedem Jahr: Manches wird aufblühen, sich herauswinden, auch unter Schmerzen und manch anderes wird vergehen. Es wird seine Zeit gehabt haben. Und wieder anderes wird bleiben.
Zum Abschied sind es sechs Blüten, beinahe sieben und es scheint kein Ende in Sicht. Die Kirschblütensaison ist eröffnet, im Januar in Hermannstadt. Den Zweig lasse ich da, für die Reise nach Berlin nehme ich Baklava und Halva mit und die Melodien von Bach.