Impfen – Tatort Klassenzimmer
von Ingrid Fillinger
Da Impfen sich gerade wieder einen vorderen Platz im Gesprächssaal erkämpft, stelle ich fest, dass dieses polarisierende Thema mein Interesse erneut kreuzt.
Das erste Mal war es Anfang der 90er, als die Arztpraxen in Nürnberg ihre Tische und Wände im Wartezimmer mit Flyern und Broschüren über FSME und Lyme Borreliose regelrecht zupflasterten. Weil ich nie vergessen hatte, wie genießbar mich Zecken in meiner Kindheit in Rumänien fanden, las ich einige dieser Broschüren mit großem Wissensdurst. Doch je länger ich las, umso mehr verwandelte sich die kleine, punktförmige rumänische Zecke aus meiner Erinnerung in das raumgroße Alien des erfolgreichen Blockbusters.
Während meiner ungestümen Jugendzeit in Mediasch (RO), als wir an den Wochenenden der Stadt in Wälder und Wiesen entflohen, war das Abendritual schon fast normal, wenn Mutter mir die 3, 4, 5 blinden Passagiere aus der Haut entfernte. Aber nein, nicht etwa mit einer Zeckenzange, denn die gab es zu jener Zeit bei uns nicht. Sie stocherte mit einer Nadel, die vorher mit einem von blauem Spiritus durchtränkten Wattebausch desinfiziert wurde, so lange rings um das festgebissene Biest, bis es endlich mit allen Körperteilchen draußen war. Danach schlüpfte ich befreit und sorglos ins Bett, da eine gesundheitliche Bedrohung durch etwas, das wie der fette Bruder eines Mohnkorns aussah, kaum vorstellbar war.
Jahre später, als ich mich für eine FSME-Impfung entschied, wollte der deutsche Arzt meinen Impfausweis sehen. Ich erklärte ihm, dass wir in meiner Heimatstadt in Siebenbürgen stets in der Schule geimpft wurden und ich leider einen Nachweis nie zu Gesicht bekommen habe. Seine Frage, wogegen wir alles geimpft wurden, beantwortete ich ihm, indem ich meinen linken Oberarm freimachte und ihm die Male zeigte. Nur die letzte Tetanus-Impfung konnte ich zeitlich vage abschätzen.
Ein weiteres Mal holte mich das Impfthema als frischgebackene Mama ein. Damals las ich zu jeder anstehenden Schutzimpfung alle möglichen Informationen, natürlich auch die Bedenken und Meinungen von Impfgegnern. In dieser Zeit konnte ich sowohl auf die Ratschläge der Kinderärzte als auch auf unbegrenzte Lektüre zurückgreifen, um bestmöglich über die Schutzimpfungen informiert zu sein. Die Wahl, darüber frei zu entscheiden, erschien mir damals schon wie ein kleines Privileg.
Zu guter Letzt ist das erlebte Impfprozedere während der Schulzeit in Rumänien durch die anhaltende Corona-Diskussion an die Oberfläche meiner Erinnerungen aufgetaucht.
In jener kommunistischen Zeit wurden unsere Eltern weder über anstehende Impfungen im Vorfeld informiert, noch wurde ihnen die Wahl überlassen und ihr Einverständnis eingeholt. Wir kamen einfach frisch geimpft von der Schule nach Hause. Entweder erzählten wir ihnen danach davon oder sie erkannten es am noch festklebenden Pflasterstreifen. Wenn beides wegfiel, bekamen sie darüber gar nichts mit. Schließlich wussten selbst wir nicht so richtig, wogegen wir eigentlich geimpft wurden oder hatten es bis wir daheim ankamen auch schon wieder vergessen.
Meistens betrat ein Team aus 2 bis 3 Personen in weißen Kitteln unerwartet das Klassenzimmer und legte ihre mitgebrachten kleinen Edelstahlbehälter, in denen sich die ausgekochten Spritzen noch vor unseren Blicken verbargen, auf das Katheder. Die Lehrkraft musste gar nichts sagen, denn wir kannten den Ablauf bereits. Die Weißkittel erklärten kurz etwas im Fachchinesisch. Doch eigentlich zählte nur eins, dass sie uns beruhigen und klar machen wollten, dass diese Spritze nur etwas pikst, ansonsten absolut schmerzfrei sei.
Doch hatten die Weißkittel einmal das Klassenzimmer betreten, so hatten im Nu einige der Schüler ein kreidebleiches Gesicht und die ersten Schweißtropfen glänzten auf ihrer Stirn. In jeder Klasse kannte man diese Schüler, deshalb blickte man sofort mit einer Mischung aus Neugierde und Sorge in deren Richtung. Aber auch die Lehrkraft hatte es nicht leicht. Wie sollte sie nun vorgehen? Erst die Taffen an die Spitze der Warteschlange stellen, damit die folgenden 30 Schüler sehen, dass es gar nicht weh tat? Oder die Angsterfüllten erst impfen lassen, damit diese nicht noch länger ausharren müssen? Denn es kam auch schon mal vor, dass mancher Schüler in Ohnmacht fiel, noch während er in der Warteschlange stand.
Vielleicht wäre es besser gewesen, zu vermeiden, dass alle 36 oder mehr Schüler das Impfen live miterleben müssen. Hätte man die Warteschlage außerhalb des Klassenzimmers verlegt, so hätte man kaum gewusst, wie schnell sich ein redseliger, selbstbewusster Schüler zum Walking Dead verwandeln kann…
Trotz der ganzen Reihe von Pflichtimpfungen, die man als „sozialistische Prophylaxe“ über sich ergehen lassen musste, herrschte im Klassenzimmer eher Gelassenheit statt Panik, denn ganz ohne Impfen, was wäre das Leben dann – vielleicht eine waghalsige Trapeznummer ohne Sicherheitsnetz?