Schon lange reifte der Wunsch in mir, eine Flussfahrt mit dem eigenen Boot auf dem Siret zu unternehmen, einem der längsten und wasserreichsten Nebenflüsse der Donau. Er entspringt in den östlichen Waldkarpaten in der Ukraine, windet sich in zahlreichen, von Lößwänden begleiteten Mäandern durch die Moldauische Platte im Osten Rumäniens (der Walachei) und mündet nach 726 Kilometern bei Galaţi in die Donau. Auf den ersten 500 Kilometern bis Bacău ist der Fluss noch weitgehend unverbaut. Es gibt nur einen kleinen Stausee, zwei Wehre und wenige Brücken. Die Ortschaften liegen oft weit vom Fluss entfernt. Ein „Wanderfluss der Einsamkeit“, der ganzjährig zu befahren sei, heißt es in einem Bootsführer.
Im Juli 2008 war es soweit. Wir hatten uns einen Kanadier von der Marke „Grabner Adventure“ zugelegt, in dem drei Menschen mit Gepäck Platz finden konnten, und fuhren damit in unserem Renault Kangoo über Polen und die Ukraine nach Rumänien. Es war vorgesehen, vom Dorf Huţani (östlich von Suceava) aus bis nach Bacău zu treiben - eine Strecke von ungefähr 200 Kilometern. Dabei wollte ich alle am Fluss lebenden Vögel erfassen, besonders die in den Lößwänden nistenden Uferschwalben und Bienenfresser und die auf den Sand- und Schotterbänken brütenden Flussseeschwalben, Flussregenpfeifer und Flussuferläufer.
Die Bootsbesatzung: meine Frau Christine, unser Enkel Michele (14) und ich.
Tag 1
15.7. Wir sind in Huţani angekommen bei „Kilometer 420“ oberhalb der Mündung. Es regnet etwas. An der Grenze warnte uns ein Beamter vor drohendem Unwetter. Der wunderbar mäandernde Fluss übertrifft noch meine Erwartungen.
Tag 2
Nachdem ich unser Auto bei einem Bauern im Dorf abgestellt habe, stoßen wir gegen 11 Uhr vom Ufer ab. Es scheint wieder die Sonne. Der Fluss enttäuscht uns nicht. Ein Mäander folgt auf den anderen. Traumhafte Lößwände mit vielen Brutröhren von Uferschwalben und Bienenfressern.
Lustige Hängebrücken verbinden in der Nähe von Dörfern die Ufer.
An vielen Stellen wird Kies und Sand abgebaggert. Auch die Bauern holen sich fruchtbaren Schlamm oder Baumaterial vom Fluss.
Rastplatz über einer Flussbiegung im Gras.
Tag 3
Langsam treiben wir den Fluss hinunter und sind fast überall allein. Der Fluss ist breit und flach und fließt träge. „Zahmwasser“ nennt sich das im Bootsführer. Das ist gut zum Vögel zählen und Genießen. Merkwürdig nur, den Fluss jetzt immer nur „von innen“ zu sehen. Viehherden kommen ans Ufer zum Trinken. Manchmal durchquert ein Pferdefuhrwerk den Fluss.
Beim Dorf Slobozia müssen wir an Land, um frisches Trinkwasser zu holen. Mit Michele klettere ich „von hinten“ über die Gartenzäune ins Dorf. Die Hunde sind außer sich vor Zorn. Im winzigen Dorfladen gibt es vor allem ein reiches Spirituosenangebot. Wir bekommen Kekse, Tomaten und eine Melone. Vor dem Lädchen ein Tisch mit zwei Bänken für die Männer zum Bier trinken.
Eine hübsche kleine Holzkirche hat das Dorf auch.
Gegen Abend taucht die erste große Straßenbrücke bei Vercicani auf.
Unterhalb mündet die Suceava in den Siret. Ihr Wasser stinkt! Schließlich ist dieser Fluss durch die große Stadt Suceava geflossen. Immer mehr Bagger stehen am Fluss, viele Kieswerke und viel Müll. Erst spät am Abend finden wir einen Lagerplatz.
Tag 4
Die Landschaft wird wieder lieblicher. Zu beiden Seiten des Flusses kleine, teils bewaldete Mittelgebirge. Das Wasser stinkt nicht mehr. Nur dort, wo die Angler am Fluss sitzen, häufen sich die leeren Flaschen in den Sträuchern.
An einer besonders schönen Stelle bei Lespezi unterbrechen wir schon am frühen Nachmittag die Tour und lagern vor einer großen Lößwand mit Bienenfresserröhren. Können kochen, baden und die Bienenfresser beim Füttern beobachten – ein erfüllter Tag!
Tag 5
Das erste große Wehr mit zwei Staustufen taucht bei Paşcani auf. Das Umsetzen von Boot und Gepäck bei unerträglicher Hitze kostet zwei Stunden. Hinter dem Wehr tummeln sich Kinder im Fluss.
Idyllischer Lagerplatz auf einer Sandbank mitten im Fluss gegenüber einer großen Uferschwalbenkolonie mit fast 200 Brutröhren. Die Nistplätze sind praktisch weit oben in der Wand angelegt, wo sie vor Hochwasser besser geschützt sind.
Tag 6
Als wir losfahren, geht eine leichte Brise, die sich bald zu einem Sturm entwickelt. Bei starkem Gegenwind kommen wir im Flachwasser kaum noch voran. Manchmal müssen wir zu Fuß das Boot hinter uns her zerren. Das Trinkwasser geht wieder zur Neige.
Dann versperrt uns eine aus Pontons zusammengebundene Brücke für Pferdefuhrwerke den Weg. Ein alter Hirte hilft uns beim Übersetzen und weiß, wo wir Trinkwasser herbekommen, im nächsten Dorf Cozmeşti.
Mit einem Pferdefuhrwerk fahre ich mit Michele ins Dorf. Er darf auf dem Kutschbock sitzen. Dann treiben wir noch ein Stück weiter den Fluss hinunter, bis ein Platz zum Zelten gefunden ist. Gewitterstimmung liegt in der Luft.
Tag 7
Früh ist der Himmel bedeckt, doch hat der Wind nachgelassen. Bald jedoch fängt es zu regnen und zu donnern an. Wir werden nass. Können nicht schnell genug aus dem Wasser kommen, um uns unterzustellen. Das Zelt aufgebaut im Regen. Ein Berg nasser Wäsche liegt vor dem Zelt.
Tag 8
Dunkle Wolken stehen am Himmel. Wir kommen nicht weit, weil es wieder zu regnen anfängt. Einmal suchen wir Schutz unter einer großen Weide und dann in einem Wald. Es gießt wie bei einem tropischen Regenguss. Wir paddeln noch bis nach Butea hinunter, wo wir im Dorf einkaufen können. Biwak etwas flussabwärts auf einem erhöhten Platz.
Tag 9
Wir müssen warten. Nachdem uns um Mitternacht ein starkes Gewitter heimgesucht hat, regnet und donnert es auch tagsüber ununterbrochen weiter. Der Fluss steigt langsam an und die Fließgeschwindigkeit verbessert sich.
Aber werden wir unsere Tour morgen fortsetzen können? Vertreiben uns die Zeit mit Geschichten von Jack London und Edgar Allan Poe, spielen Rommé. Ein Gewitter folgt aufs andere. Donnerschläge und Blitze oft ganz in der Nähe. Nachts läuten die Kirchenglocken schaurig von Butea herüber. Hier gibt es noch den Brauch des Wetterläutens. Ein Dauergewitter von 28 Stunden! Noch nie so etwas erlebt.
Tag 10
Früh ist der Fluss stark angestiegen. Baumstämme treiben im Wasser und Tierkadaver, eine Ziege, ein Hund und sogar ein Pferd, außerdem unglaublich viel Müll. Es hat sich aus den Uferbüschen gelöst. Wir zählen pro Minute durchschnittlich 116 Plastikflaschen und -behälter, also 6.960 in der Stunde und 167.160 am Tag!
Trotzdem beschließen wir, unsere Tour fortzusetzen und schießen in der starken Strömung mit dem Müll flussabwärts. Beim Dorf Tămăşeni gehen wir an Land, um noch einmal einzukaufen, weil das Brot knapp geworden ist. Auf dem Markt bekomme ich sogar Akkus für den Fotoapparat, ohne zu ahnen, dass ich sie nicht mehr brauchen werde.
Am Fluss ziehen Männer mit einem Anker treibende Baumstämme aus dem Wasser. Holz ist hier sicher knapp. Aber sollten wir weiter machen? Die Entscheidung fällt schwer. Bacău ist aber nicht mehr weit und in der Strömung kommen wir schnell voran. Hinter der nächsten Straßenbrücke bei Roman gehen wir an Land.
Tag 11
Am Morgen wieder Regen. Aufbruch erst am Nachmittag. Der Fluss ist gigantisch angewachsen und strömt rechts und links in die Felder, Büsche und Wälder. Manchmal ist kaum noch zu erkennen, wo die Hauptströmung verläuft. Wir halten uns dabei an die Fließrichtung des Mülls.
Am Ufer bauen Männer schon Barrikaden gegen die Flut. Sie schreien und warnen uns. Wovor? Einer zeigt uns den Vogel.
Der Fluss ist jetzt so wild und breit wie ein sibirischer Strom. Keine Menschen mehr am Ufer. Lößwände brechen ab und klatschen ins Wasser wie kalbende Gletscher. Einmal stürzt knapp vor uns eine große Pappel zeitlupenartig ins Wasser.
Dann passiert es doch! Wir sehen das über den Fluss gespannte Eisenseil einer primitiven Fähre zu spät. Es hängt durch den gestiegenen Wasserspiegel so tief, dass wir nicht darunter hindurch treiben können. Mit großer Geschwindigkeit rasen wir darauf zu und kentern. Die hohe Bootspitze, die gegen das Seil gekracht ist, rettet uns das Leben. Während Michele mit einem Paddel weiter den Fluss hinunter treibt, ziehe ich Christine mit dem Boot ans Ufer.
Michele konnte sich in der nächsten Flussbiegung retten. Da unser Gepäck für den Ernstfall wasserdicht ans Boot geschnürt war, ließ sich außer der teuren Optik fast alles bergen, selbst das so genannte Bordbuch mit den Vogelaufzeichnungen. Michele hatte es geistesgegenwärtig aufgefischt und auf das umgekippte Boot gelegt, bevor er abtrieb.
Das kleine, in der Nähe liegende Dorf bei „Kilometer 245“ oberhalb der Mündung hieß Brad und war noch 25 Kilometer von Bacău entfernt. Ein Mann aus dem Dorf (Gabriel Ciobanu) bringt mich die 200 Kilometer zurück nach Huţani, wo unser Auto steht. Erst später, in einer Pension, erfahren wir aus dem rumänischen Fernsehen das ganze Ausmaß dieser Flutkatastrophe. 146 Ortschaften und 27.000 Hektar Ackerland waren in Nord- und Nordostrumänien überschwemmt. 15.000 Menschen mussten evakuiert werden und es gab acht Todesopfer. Noch schlimmer suchte es die Westukraine heim, wo es zur schwersten Hochwasserkatastrophe seit hundert Jahren gekommen war.
Dank Michele, der mein Bordbuch gerettet hatte, konnte ich später meine Vogelaufzeichnungen auswerten. Auf einer Strecke von 175 Kilometern hatten wir 74 Vogelarten festgestellt. In den Lößwänden erfassten wir 86 Brutkolonien der Uferschwalbe mit 1.810 Brutpaaren, außerdem 109 Brutpaare des Bienenfressers und 56 Eisvögel. Auf den Sand- und Kiesbänken siedelten mindestens 30 Paare Flussregenpfeifer, ca. 50 Paare Flussseeschwalben und viele Flussuferläufer. Die natürlichen Flusslebensräume am Siret sind also äußerst schützenswert. Nur noch wenige Flüsse Europas sind unverbaut.