Weihnachten in der alten Heimat


Ausschnitte aus dem Buch »Land. o. Land ...« Er­in­ne­run­gen an die ver­lo­re­ne Hei­mat von Ger­trud Knopp-Rüb (✝) (mit freun­dli­cher Ge­neh­mi­gung der heu­ti­gen Rech­te­in­ha­ber)

Kerzen
Sich an etwas er­in­nern, das mehr als fünf­zig Ja­hre zu­rück­liegt, wie zu­ver­läs­sig kann dies nach so lan­gem Ab­stand noch sein? Sind doch al­le un­se­re Ta­ge und Jah­re, ist doch un­ser gan­zes Le­ben dem Ver­ge­hen und Ver­ges­sen an­heim­ge­ge­ben. Und den­noch wis­sen wir von Din­gen und Be­ge­ben­hei­ten, die sich wie un­aus­lösch­lich, wie un­ver­lier­bar in un­ser Ge­dächt­nis ein­ge­prägt ha­ben und sich ih­re Bild­haf­tig­keit be­wahr­ten. Zu die­sen Din­gen ge­hört für mich Weih­nach­ten in der al­ten Hei­mat. Bis zu mei­nem 15. Le­bens­jahr ha­be ich die­ses Fest dort er­lebt. Es gab in der schlich­ten und ar­beits­rei­chen Welt un­se­rer El­tern für uns Kin­der we­nig Hö­he­punkte. Wir hat­ten nicht viel, das der Sehn­sucht und dem Ver­lan­gen un­se­rer jun­gen Her­zen nach et­was Schö­nem, Glanz­vol­len ent­ge­gen kam.
Oft fan­den wir uns am Sonn­tag­nach­mit­tag, wenn al­les ruh­te und es so still war im Dorf, ir­gend­wo bei je­mand zu­sam­men. Im Som­mer sa­ßen wir zu­meist im Schat­ten zwi­schen den Stroh­scho­bern, wo es so herr­lich nach dem frisch ge­dro­sche­nen Ge­trei­de­stroh roch oder un­ter den tief her­ab­hän­gen­den Äs­ten ei­nes Nuß­bau­mes, wo wir ganz für uns wa­ren. Je­des von uns Mä­dchen brach­te dann sei­ne Schach­tel mit, in der wir je­ne Kost­bar­kei­ten auf­be­wahr­ten, die un­se­ren per­sön­li­chen Be­sitz aus­mach­ten. Es wa­ren dies Glas- und Por­zel­lan­scher­ben so­wie ein Bün­del un­ter­schied­li­cher Stoff­fle­cken, ge­streif­te und bl­umi­ge, ein­far­bi­ge, be­son­ders schön struk­tu­rier­te und auch sol­che von glän­zen­der Sei­de, die wir uns stolz vor­führ­ten. Manch­mal kam auch ein Tausch zu­stan­de, z.B. ei­ne bun­te Glas­scher­be ge­gen ei­ne aus Por­zel­lan mit Blüm­chen oder an­de­rem De­kor.
Ring
Nicht selten er­zähl­ten wir uns bei die­sen Zu­sam­men­künf­ten auch Ge­schich­ten, die wir meist selbst er­fan­den und im­mer neu aus­schmück­ten. Und ab und zu kam es auch vor‚ dass je­mand sag­te: „Re­den wir doch von was Schö­ne­rem, er­zäh­len wir uns doch von Weih­nach­ten.“ Mit dem Stich­wort „Weih­nach­ten“ war plötz­lich al­les an­de­re, das wir un­se­rer Phan­ta­sie ent­lockt hat­ten, hin­weg ge­wischt. Ei­ne selt­sa­me Ver­zau­be­rung nahm von uns Be­sitz, und wir über­leg­ten und lausch­ten in uns hi­nein, wo je­ne gro­ße Glück­se­lig­keit auf­be­wahrt sein muss­te, die wir ein­mal im Jahr er­le­ben durf­ten.
Wann fingen wir ei­gent­lich an, uns auf Weih­nach­ten zu freu­en? Wenn der Frost und der Sturm­wind die Bäu­me ent­laub­ten? Wenn Schlamm und Pfüt­zen auf den Stra­ßen ver­eis­ten, dass man dort ent­lang schlit­tern konn­te? Wenn der ers­te Schnee fiel? Wenn auf den Hö­fen ge­schlach­tet wur­de, dass man es im gan­zen Dor­fe roch? Wenn die Mut­ter Maß an uns nahm für ein neu­es Kleid zu den Fest­ta­gen? Wenn sie abends in ih­rem Re­zept­buch blät­ter­te und auf einem Zet­tel No­ti­zen mach­te? Wenn wir in der Schu­le Weih­nachts­ge­dich­te lern­ten für die Fei­er am Hei­li­gen Abend in der Kirc­he? Es ist schon so lan­ge her, ich weiß es nicht mehr.
Kleid
Von Advent hör­ten wir al­len­falls im Le­se­got­tes­dienst un­se­res Leh­rers, der auch das Küs­ter­amt ver­sah. Zwar hat­ten wir ei­nen Pas­tor am Ort, weil hier der Sitz des Kir­ch­spiels war. Doch die­ser musste au­ßer uns noch wei­te­re acht Ge­mein­den kirch­lich be­treu­en und konn­te da­her nur al­le paar Wo­chen bei uns pre­di­gen.
Aber an ho­hen Fest­ta­gen gab sei­ne An­we­sen­heit un­se­rem be­schei­de­nen Got­tes­haus doch ei­nen be­son­de­ren Glanz. Be­schei­den des­halb, weil es nur ein Bet­haus war. Uns schien es den­noch statt­lich und be­ein­dru­ckend durch sei­ne weit­räu­mi­gen Aus­ma­ße und durch den ho­hen, be­hä­bi­gen Glo­cken­stuhl da­vor. Aber es war eben nur ein Bet­haus und kei­ne Kir­che. Da­her sam­mel­te man schon lan­ge in der Ge­mein­de für ein wür­di­ges Got­tes­haus, für ei­ne rich­ti­ge Kir­che.
In den ersten Jah­ren mei­ner Schul­zeit kann­ten wir noch kei­nen Ad­vents­kranz. Wir wuss­ten nichts vom Ent­zün­den der vier Ker­zen, die uns die Nä­he von Wei­hnach­ten auf­zeig­ten und ein we­nig In­ner­lich­keit und Hel­lig­keit in das De­zem­ber­dun­kel un­se­rer Stu­ben hät­ten brin­gen kön­nen. Trotz­dem gin­gen wir mit ei­ner stil­len Freu­de und ei­ner al­les ein­be­zie­hen­den Er­war­tung dem Fest ent­ge­gen. Mit je­dem Tag ein Stück­chen mehr.
Ich hatte noch ei­ne Schwes­ter, die zwei Ja­hre jün­ger war als ich. Wenn wir jetzt von der Schu­le heim­ka­men, roch es so gut nach al­ler­lei Ge­wür­zen, nach Nel­ken, Zimt, nach Ster­na­nis und an­de­rem mehr. Wir durf­ten Wal­nüs­se auf­ma­chen und zer­klei­nern und manch­mal auch beim Plätz­chen­aus­ste­chen hel­fen. Am Abend wur­de dann das fer­ti­ge Ge­bäck in ho­he Blech­kan­nen ver­staut und im Gie­bel­zim­mer ver­wahrt‚ wo es schön kühl war, weil man dort nicht hei­zen konn­te. So­mit wa­ren die­se gu­ten Din­ge auch un­se­ren Bli­cken und un­se­rem Zu­griff bis zum Fest ent­zo­gen.
Keks
Keks
Keks
Keks
Keks
Als Letztes koch­te Mut­ter noch Ka­ra­mel­bon­bons aus Zu­cker und Milch zu glei­chen Tei­len. Zwei vol­le Stun­den muss­te die Mas­se ganz leicht auf dem Herd kö­cheln und da­bei stän­dig ge­rührt wer­den, da­mit sie nicht an­brann­te. Da war sie meis­tens froh, wenn wir ihr die­se Ar­beit ab­na­hmen, weil ihr die Bei­ne weh ta­ten vom lan­gen Ste­hen. Wenn sich die Mas­se ent­spre­chend ein­ge­dickt hat­te, gab Mut­ter ei­nen in Milch auf­ge­lös­ten Ess­löf­fel Ka­kao hin­zu und zu­letzt noch ein Schüs­sel­chen klein­ge­hack­ter Wal­nüs­se.
Nun kipp­te sie die schon sehr zä­he Flüs­sig­keit auf ein ge­fet­te­tes Per­ga­ment­pa­pier auf dem Tisch. So­bald sie an­fing sich zu här­ten, zer­teil­te sie die­se der Län­ge und Brei­te nach in Strei­fen.
Da­bei gab es na­tür­lich im­mer et­was Bruch und un­se­re klei­nen Fin­ger husch­ten hin und her nach je­dem ab­ge­fal­le­nen Krü­mel­chen. Auch die­se Gau­men­freu­de kam als­bald hin­ter Schloss und Rie­ge und der ge­wohn­te All­tag kehr­te wie­der ein, aber doch nicht mehr so ganz all­täg­lich und ge­wöhn­lich wie vor­dem. Ein weih­nacht­li­cher Duft war zu­rück­ge­blie­ben und hat­te sich im gan­zen Haus ein­ge­nis­tet.
Schneemann
Draußen lag meis­tens schon Schnee und er­stick­te al­les Lau­te, Lär­men­de, wo es noch nicht zur Ru­he ge­kom­men war. Nur nachts hör­te man den Wind aus der Fer­ne über die Step­pe he­ran­stür­men und um die Haus­wän­de heu­len, dass man sich ganz tief un­ter die Bett­de­cke ver­kroch. Und mor­gens muss­ten jetzt im­mer öf­ter die Geh­we­ge frei­ge­schau­felt wer­den, weil sie zu­ge­schneit wa­ren. Nicht al­lein we­gen uns Schul­kin­dern, auch die Er­wach­se­nen wa­ren jetzt viel un­ter­wegs, die­ses und je­nes zu be­sor­gen. Und vor al­lem der Brief­trä­ger hat­te jetzt wie­der Post aus­zu­tra­gen, wohl mehr als sonst das gan­ze Jahr hin­durch. Er brach­te uns vie­le Weih­nachts­kar­ten von den vie­len On­keln und Tan­ten so­wie den Groß­el­tern, die weit weg in Bes­sa­ra­bien leb­ten. Wie be­staun­ten wir doch die­se schö­nen, bun­ten Kar­ten und manch­mal nah­men wir auch ei­ne heim­lich mit in die Schu­le, um sie den an­de­ren zu zei­gen. Die­se Kar­ten wa­ren doch so weit ge­reist und brach­ten ei­nen Hauch der fer­nen, un­be­kann­ten Welt mit ­in un­se­re Ab­ge­schie­den­heit. Auf dem Bahn­hof traf ei­ne La­dung Christ­bäu­me aus den Kar­pa­ten ein. Es wa­ren ech­te, dunk­le Tänn­lein, die dann vor un­se­rem Dorf­la­den im Schnee auf­ge­reiht stan­den. Ab und zu brach­te nun je­mand ein ganz win­zi­ges Zweig­lein Tan­nen­grün mit in die Schu­le. Dann stan­den wir in der ­Pau­se um den gro­ßen Guß­o­fen he­rum und ro­chen mit, wenn es in der Ofen­glut an­ge­sengt wur­de und sei­nen her­ben, wür­zi­gen Duft ver­ström­te. Manch­mal ging auch ei­ne Po­me­ran­zen­scha­le­ von Hand zu Hand und je­der zwack­te sich ein Stück­chen ab und roch ge­nüss­lich da­ran. Das war schon ein biss­chen wie Weih­nach­ten, das nun nicht mehr all­zu fern sein konn­te.
verschneites Dorf
In der letz­ten Wo­che vor dem Fest fuhr Va­ter in die Stadt, um ein­zu­kau­fen. So sehr wir auch acht­ga­ben, wir sa­hen und hör­ten nicht, wie die Sa­chen ins Haus ka­men. Aber von da an glaub­ten wir doch et­was zu rie­chen, das vor­her nicht da­ge­we­sen war und wir über­leg­ten und rät­sel­ten he­rum, was es nur sein könn­te.
„Bock­scho­ten (Jo­han­nis­brot) und Erd­nüs­se“ sag­te ich zu mei­ner Schwes­ter, „die rie­chen so“, und weil ich doch äl­ter war als sie, schien es ihr auch lo­gisch‚ dass ich mehr wis­sen muss­te. Bei Be­ginn der Schul­fe­ri­en trenn­ten uns nur noch we­ni­ge Ta­ge von Weih­nach­ten. Mut­ter buk noch ein­mal Brot, so­wie Süß­brot und auch Hu­tzel­brot aus den ge­trock­ne­ten Früch­ten, die in ei­nem Säck­chen am Quer­bal­ken un­se­res Dach­ge­stühls hin­gen. Ein Teil des Brot tei ges blieb in der Mul de zu rück für den Schin­ken, der, da­rin ein­ge­wi­ckelt, zu­letzt in den Back­ofen kam. Die vom Schin­ken­fett durch­tränk­te Brot­hül­le aßen wir warm be­son­ders gern, meis­tens zu­viel, so dass wir Bauch­weh be­ka­men und Mut­ter aus dem Fass im Kel­ler mit den ge­säu­er­ten To­ma­ten‚ Gur­ken, Me­lo­nen, Pa­pri­ka, Kraut und an­de­rem mehr die Salz­brü­he ab­schöpf­te und uns da­von zu trin­ken gab. Das soll­te es „ver­reißen“ und viel­leicht half es auch.
Endlich war der 24. De­zem­ber he­ran­ge­kom­men. In­zwi­schen konn­ten wir auch nicht mehr in die gu­te Stu­be, weil sie ab­ge­schlos­sen war und wir hat­ten manch­mal das Ge­fühl, über­all im We­ge zu sein. So knie­ten wir jetzt öf­ter auf der Bank un­ter dem Fens­ter und schau­ten auf den Hof un­se­rer tür­ki­schen Nach­barn, die uns nun so leid ta­ten, weil sie kei­ne Weih­nach­ten hat­ten. Aber ir­gend­wann wür­den sie wie­der zu uns he­rü­ber­kom­men, den Christ­baum an­schau­en und von Mut­ter ei­ne Tü­te Back­werk be­kom­men.
Das war in je­dem Jahr so. „Nix Schwein?“ frag­ten sie dann immer et­was zag­haft, denn sie woll­ten wis­sen, ob in dem Ge­bäck Schwei­ne­schmalz ent­hal­ten war. Mut­ter, die die­se Fra­ge­ stets über­hör­te, sag­te nur „gut, gut“, und so ver­lies­sen­ sie uns mit ei­nem zu­frie­de­nen, glück­li­chen Lä­cheln. Nun konn­ten wir es kaum noch er­war­ten, bis wir uns für den Kirch­gang fer­tig ma­chen durf­ten. Un­se­re neu­en Klei­dchen und die neu­en Zopf­bän­der la­gen ge­bü­gelt auf dem Bett, die Schu­he stan­den frisch ge­wichst ne­ben der Tür, Müt­zen und Män­tel hin­gen da­rü­ber am Klei­der­ha­ken.
Mut­ter war si­cher froh, dass wir es so ei­lig hat­ten zur Schu­le zu kom­men, von wo wir dann ge­mein­sam mit dem Leh­rer in ge­schlos­se­nem Zug hi­nü­ber zur Kir­che gin­gen. Er prob­te noch ein­mal die Auf­stel­lung vor dem Al­tar und ließ auch ei­ni­ge von uns ih­re Vers­lein auf­sa­gen.
Schwein
Weih­nach­ten oh­ne Schnee, wie wir es hier oft er­le­ben, viel­leicht hat es das auch in der al­ten Hei­mat ge­ge­ben. Ich kann mich nicht da­ran er­in­nern. In mei­nem Zu­rück­den­ken se­he ich im­mer nur das im Weiß ver­sun­ke­ne Dorf vor mir. Aus der brei­ten Chaus­see­stra­ße, die an die ein­ein­halb Ki­lo­me­ter lang in ge­ra­der Li­nie – von ei­nem En­de zum an­de­ren – mit­ten durch das Dorf lief, hat­ten die Schlit­ten­ku­fen ei­ne fest­ge­fah­re­ne, glän­zen­de Eis­bahn ge­macht. Doch die Leu­te gin­gen wie sonst im Jahr an den wei­ßen Hof­mau­ern ent­lang. Dort war stets bei mo­ras­ti­gen Wege­ver­hält­nis­sen ­Ge­strüpp aus­ge­legt, da­mit die Schu­he nicht so nass und schmut­zig wur­den.
Laut­los senk­te sich die Däm­me­rung auf das Dorf he­rab. Der Schnee auf den Dä­chern drück­te die Häu­ser tie­fer zur Er­de und bald schien al­les mit­ein­an­der zu ver­schmel­zen‚ eins zu wer­den.
Unter den sich ge­ra­de noch ab­he­ben­den dunk­len Äs­ten der Aka­zien­al­lee sah man aus der Fer­ne klei­ne Lich­ter am Bo­den nä­her­ krie­chen. Dröh­nend und durch­drin­gend und wie mit be­son­de­rer Ge­wich­tig­keit fie­len die Glo­cken­schlä­ge in die abend­li­che Stil­le. Zu Zwei­en auf­ge­reiht über­quer­ten wir Schul­kin­der die Stra­ße und gin­gen zum hell er­leuch­te­ten Got­tes­haus hi­nü­ber. Es wa­ren zwar nur Pe­tro­le­um­lam­pen, die da an den Wän­den hin­gen und ihr wei­ches, war­mes Licht in die Dun­kel­heit sand­ten, aber für uns Kin­der war es das ein­zi­ge Mal im Jahr, dass wir un­ser Bet­haus im Lich­ter­schmuck sa­hen. In ei­nem Ne­ben­raum leg­ten wir un­se­re Män­tel ab und dann setz­te sich der fest­li­che Zug durch den Mit­tel­gang des Kir­chen­saa­les fort bis zur vor­de­ren lin­ken Ecke, wo wir auf Al­tar­hö­he ne­ben dem Fuß­har­mo­ni­um Platz neh­men durf­ten.
Glocken
Auf der an­de­ren Sei­te uns ge­gen­über saß der Kir­chen­chor und da­vor – rechts vom Al­tar – stand der bis zur De­cke glän­zen­de und glit­zern­de Christ­baum. Un­se­re stau­nen­den Bli­cke gin­gen zu je­der bun­ten Glas­ku­gel, zu je­dem Glöck­lein und En­gel­chen, zu den vie­len gol­de­nen und sil­ber­nen Gir­lan­den, ja zu je­dem fun­keln­den Et­was, das da von den Zwei­gen der ho­hen, mäch­ti­gen und so wun­der­bar duf­ten­den Tan­ne he­rab hing. Die Bän­ke im Kir­chen­raum – rechts des Ein­gan­ges sa­ßen die Män­ner und links die Frau­en – wa­ren be­reits voll be­legt von den dicht bei dicht sit­zen­den Men­schen in ih­ren dunk­len Fest­tags­ge­wän­dern. Stüh­le und Bän­ke wur­den noch he­rein­ge­tra­gen und im Gang auf­ge­stellt, so dass ge­ra­de noch ein schma­ler Durch­lass für den Pas­tor frei war.
Am Hei­li­gen Abend blieb nie­mand im Dorf zu Hau­se, wenn ihn nicht ir­gend­wel­che Um­stän­de da­zu zwan­gen wie Krank­heit oder ein Dienst wie ihn z.B. die Dorf­wa­che – be­ste­hend aus zwei bis vier jun­gen Män­nern – zu ver­se­hen hat­te, weil es schon vor­ge­kom­men war, dass in der Zeit die­ses Abend­got­tes­diens­tes ein­ge­bro­chen wur­de.
Kugeln
Un­heim­lich, fast ge­spens­tisch, wirk­te die Stil­le im Raum, bei den vie­len Men­schen. Man hör­te das Holz im Ofen knis­tern und ab und zu ein un­ter­drück­tes Hüs­teln. Dann setz­te un­ver­mit­telt drau­ßen im Glo­cken­stuhl mit har­tem An­schlag kraft­voll und ju­bi­lie­rend das Zu­sam­men­läu­ten ein. Die bei­den Kir­chen­vor­ste­her zün­de­ten nun ganz vor­sich­tig die Ker­zen am Baum an. Wo sie nicht hin­reich­ten, nah­men sie ei­nen lan­gen Stab zu Hil­fe, an dem vor­ne ein bren­nen­des Licht be­fes­tigt war.
Nach­dem die letz­ten Glo­cken­tö­ne ver­klun­gen und ver­ebbt wa­ren, kam der Pas­tor durch den schma­len Gang nach vor­ne und mit sei­nem Vor­wärts­schrei­ten er­hob sich die Ge­mein­de und ver­harr­te ehr­er­bie­tig, bis er ne­ben dem Al­tar Platz ge­nom­men hat­te. Am Har­mo­ni­um in­to­nier­te der Küs­ter erst lang­sam und lei­se, dann im­mer stär­ker und ein­dring­licher, das Ein­gangs­lied: „Dies ist die Nacht, da mir er­schie­nen des gro­ßen Got­tes Freund­lich­keit...“. Wie ein Or­kan bran­de­te der kräf­ti­ge Ge­sang durch den vol­len Kir­chen­raum. Al­ler Bli­cke wa­ren auf die im fei­er­li­chen Ta­lar da­ste­hen­de Ge­stalt des Pas­tors ge­rich­tet, der das schwe­re Bi­bel­buch in sei­nen fein­glie­dri­gen Hän­den hielt und nach der Li­tur­gie und dem Ge­bet nun die Weih­nachts­ge­schich­te aus Lu­kas 2 vor­trug: „Es be­gab sich aber zu der Zeit, dass ein Ge­bot aus­ging ...“. Und un­ser Got­tes­haus wur­de plötz­lich zum Hir­ten­feld von Beth­le­hem und die Stim­me des Pas­tors ging ein in die des En­gels, der zu den Hir­ten sprach:
Engel
„Siehe, ich verkündige euch große Freude,
die allem Volk widerfahren wird;
denn euch ist heute der Heiland geboren,
welcher ist Christus, der Herr,
in der Stadt Davids.
Und das habt zum Zeichen:
Ihr werdet finden das Kindlein in Windeln
gewickelt und in einer Krippe liegend.
Und alsbald war da bei dem Engel
die Menge der himmlischen Heerscharen,
die lobten Gott und sprachen:
Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden ’
und den Menschen ein Wohlgefallen!“
Glocken
Mir war, als hät­te ich zu at­men ver­ges­sen, denn nun spür­te ich ganz deut­lich die dum­pfen Schlä­ge mei­nes Her­zens auf­be­geh­ren wie das zu­cken­de Licht der Ker­zen am Baum, hin­ter dem sich jetzt die Chor­sän­ger er­ho­ben und ein­stimm­ten:
„Stille Nacht, heilige Nacht“
Ein Strom über­schäu­men­der Glück­se­lig­keit schwemm­te al­les Ir­di­sche hin­weg und schuf Raum für das Wun­der die­ser Nacht, das sich in je­dem Jahr neu vor uns aus­brei­te­te und in un­se­rer See­le voll­zog. Man moch­te die Au­gen schlie­ßen, um in­ni­ger und tie­fer Got­tes Lie­be zu er­fah­ren.
Zweig
Stern
Zweig
Und wäh­rend nun die Ge­mein­de das al­te Paul-Ger­hardt-Lied sang: „Ich steh’ an dei­ner Krip­pen hier...”, such­te sich mei­ne Phan­ta­sie ein stil­les Plätz­chen bei Ma­ria und Jo­seph und dem Je­su­lein im Stall, wie sie auf ei­nem Bild in un­se­rem Re­li­gions­buch dar­ge­stellt wa­ren. Mit ei­nem Schubs in die Sei­te fiel ich aber schnell wie­der aus dem Bild he­raus. Die ers­ten Schü­ler stell­ten sich am Al­tar auf und ich war bei der zwei­ten Grup­pe, die nach­rü­cken muss­te. Has­tig ging ich in Ge­dan­ken mei­ne Stro­phen durch. Was für ei­ne Schan­de, wenn ich ste­cken­blei­ben wür­de. Das durf­te ich Va­ter und Mut­ter nicht an­tun, die ir­gend­wo in der Men­ge sa­ßen. Die Zeit, bis ich dran war, dehn­te sich un­end­lich. Dann war es schließ­lich so­weit und ich hör­te mich wie mit ei­ner frem­den Stim­me spre­chen und so, als ob ich nicht wirk­lich zu­ge­gen wä­re. Die Wär­me vorn vom na­hen Ker­zen­licht des Bau­mes trieb mir das Blut in die Wan­gen. Gott sei Dank, ich hat­te es ge­schafft und ich sah beim Zu­rück­ge­hen auf mei­nen Platz, dass mir der Leh­rer zu­frie­den zu­nick­te. Aber ich saß trotz­dem noch ei­ne Wei­le ganz still in der Bank und war­te­te da­rauf, dass die Un­ru­he sich ver­flüch­tig­te.
Noten
Nach­dem wir al­le un­se­re Ge­dich­te auf­ge­sagt hat­ten, sang der Kir­chen­chor zum Ab­schluss das schö­ne Weih­nachts­lied „O du fröh­li­che, O du se­li­ge, gna­den­brin­gen­de Weih­nachts­zeit....”. Bei der zwei­ten Stro­phe stimm­ten wir Schü­ler, bei der drit­ten al­le mit ein. Die­ser stimm­ge­wal­ti­ge Aus­klang er­griff noch ein­mal die gan­ze Ge­mein­de, auch je­ne, und viel­leicht ganz be­son­ders sie, die sonst nie zur Kir­che ka­men und sich an die­sem Abend ins hin­ters­te Dun­kel des Kir­chen­rau­mes ge­schli­chen hat­ten. Wäh­rend die Er­wa­chse­nen nun beim Glo­cken­ge­läut das Got­tes­haus ver­lie­ßen und drau­ßen auf uns war­te­ten, be­kam je­der von uns Schul­kin­dern von den Kir­chen­vor­ste­hern ei­ne Tü­te aus­ge­hän­digt. Der In­halt war in den Ja­hren mei­ner Schul­zeit im­mer gleich und be­stand aus ei­nem Re­chen- und Schreib­heft, ei­nem Fe­der­hal­ter mit zwei Fe­dern, ei­nem Ra­dier­gum­mi (Erst­kläs­sler be­ka­men nur ein Grif­fel), da­zu noch Sü­ßig­kei­ten, Nüs­se, Fei­gen, Bock­schoten (Jo­han­nis­brot) und Leb­ku­chen. Für man­che Kin­der war das si­cher die ein­zi­ge Weih­nachts­be­sche­rung, weil es zu Hau­se nur zum Nö­tigs­ten reich­te. Und nicht we­ni­ge muss­ten sich an die­sem Abend mit dem Bild des Christ­baums in der Kir­che be­gnü­gen‚ weil die El­tern nicht das Geld für ei­nen ei­ge­nen Baum hat­ten.
Clip
Clip
Clip
Clip
Clip
Clip
Clip
Clip
Wieder sah man drau­ßen auf der Stra­ße die Lich­ter im Dun­keln wan­dern‚ bis auch die Letz­ten am Dorf­en­de heim­ge­kehrt wa­ren. Wir na­hmen nie ei­ne La­ter­ne mit, weil wir ganz na­he bei der Kir­che wohn­ten. Der Schnee war hart ge­fro­ren und knirsch­te harsch und hart un­ter un­se­ren Soh­len. Ei­ne woh­li­ge Wär­me emp­fing uns zu Hau­se beim Öff­nen der Haus­tür. Im Wohn­zim­mer war der Tisch schon fest­lich ge­deckt mit ei­nem weis­sen Tisch­tuch und dem gu­ten Ge­schirr das zu Mut­ters Aus­steu­er ge­hör­te und das sonst nur wenn Be­such kam vor­ge­holt wur­de. In ei­nem ge­heim­nis­vol­len Al­lein­ge­las­sen­sein mach­ten mei­ne Schwes­ter und ich uns auf dem Fuß­bo­den breit und zähl­ten die Nüs­se und Bon­bons, die wir in un­se­rer Tü­te von der Kir­che vor­fan­den, bis Va­ter­ die Tür öff­ne­te und nach uns rief.
Nüsse
Bonbons
Nüsse
Immer war es ihm wich­tig, ei­nen schö­nen Baum zu ha­ben. Er schmück­te ihn stets selbst und gab sich viel Mü­he da­mit (nach der Um­sied­lung nach Deutsch­land trau­er­ten wir auf­rich­tig um die­sen schö­nen Baum­schmuck, der für uns ein Stück Kind­heit und Hei­mat be­deu­te­te). Zu­wei­len hat­te ich den Ein­druck, dass auch Mut­ter erst mit uns den Baum zu Ge­sicht be­kam. Manch­mal rück­te sie noch et­was da­ran zu­recht und freu­te sich mit uns, dass er wie­der so herr­lich schön ge­wor­den war.
Tannenbaum
Eigent­lich hät­te Va­ter nicht zu fra­gen brau­chen, mit wel­chem Lied wir be­gin­nen woll­ten‚ denn es war im­mer nur „Stil­le Nacht“. Und wir konn­ten es nicht ge­nug sin­gen an die­sem Abend. Denn es war uns so, als wä­re es nur für ihn al­lein be­stimmt, wie ei­ne Blu me, die nur ein­mal im Jahr ih­re Blü­ten­blät­ter öff­nen darf. An­schlie­ßend sag­ten wir dann un­se­re Ge­dich­te auf. Es wa­ren na­tür­lich nicht die glei­chen wie in der Kir­che, das wäre ja zu leicht und zu ein­fach ge­we­sen. Et­was Mü­he und An­stren­gung ge­hör­te schon da­zu, wenn man be­schenkt wer­den woll­te. Ein­mal trug ich zwei Ja­hre hin­ter­ein­an­der Ei­chen­dorffs „Markt und Stra­ßen stehn ver­las­sen...“ vor, nicht weil ich mir das Aus­wen­dig­ler­nen schen­ken woll­te, son­dern weil es mir be­son­ders ge­fiel. Aber ich hat­te doch ein we­nig ein schlech­tes Ge­wis­sen da­bei, ob­wohl es nie­mand merk­te.
Zuletzt sprach Va­ter ein Ge­bet, das meis­tens sehr lang wur­de, da er so vie­le On­kel und Tan­ten und auch die Groß­el­tern mit ein­schlie­ßen muss­te. Weil sie schon alt waren, bat er für sie in be­son­de­rem Ma­ße um Got­tes Hil­fe und Se­gen, aber auch für je­ne, die krank wa­ren und viel­leicht nicht mehr ge­sund wer­den wür­den. Und be­son­ders in­stän­dig war stets sei­ne Bit­te um On­kel Jo­han­nes, sei­ne Frau Ida und ihr Söhn­chen Har­ry. Die­ser, sein Bru­der, war 1917 als Leh­rer nach He­le­nen­dorf in den Kau­ka­sus ge­gan­gen, hat­te dort ei­ne bal­ten­deut­sche Kol­le­gin ge­hei­ra­tet und konn­te durch die Re­vo­lu­tions­wir­ren mit sei­ner Fa­mi­lie nicht mehr zu­rück nach Bes­sa­ra­bien. Seit 1925 wuss­ten wir nun nicht mehr, ob sie noch leb­ten und wie es ih­nen ging. Wir dach­ten in gro­ßer Lie­be an sie und ba­ten Gott da­rum, dass sie nicht hun­gern muss­ten und dass sie auch ein we­nig Wei­hnach­ten fei­ern durf­ten. Mit­un­ter wie­der­hol­te sich Va­ter und wenn er nicht wei­ter wuss­te, ret­te­te er sich mit ei­nem „ha­be Dank, himm­li­scher Va­ter“ da­rü­ber hin­weg, so­dass wir uns manch­mal ge­nier­ten. Wenn man so jung ist, weiß man noch nicht, dass man gar nicht ge­nug dan­ken kann, dass wir in un­se­rem Le­ben viel zu we­nig Dank sa­gen und über man­ches Gu­te so selbst­ver­ständ­lich und ge­dan­ken­los hin­weg­ge­hen.
Bibel
Nach einer an­ge­mes­se­nen Stil­le nach dem Ge­bet teil­te Va­ter dann die Ge­schen­ke aus und Mut­ter mein­te je­des­mal, dass sie in die­sem Jahr nicht so reich aus­ge­fal­len wä­ren. Aber wir hat­ten nie das Ge­fühl, zu ge­ring be­dacht wor­den zu sein und freu­ten uns herz­lich über je­de klei­ne Ga­be, wie z.B. ein Quar­tett­spiel, ein Hand­ar­beits­scher­chen oder ähn­li­ches.
Ring
Paket
Mütze
Als wir noch nicht zur Schu­le gin­gen, kam am Hei­li­gen Abend auch das Christ­kind zu uns im lan­gen, wei­ßen Ge­wand und in ei­nen Schlei­er ge­hüllt. Aber an der Stim­me er­kann­te ich stets un­se­re Nach­bars­toch­ter Lu­ise und o­bwohl ich es nicht ver­riet, brach­te das Christ­kind plötz­lich nur noch „heim­lich“ die Ge­schen­ke, wie sich Va­ter aus­drück­te. Wo Bu­ben wa­ren, kam ge­wöhn­lich der „Pelz­mär­te“. Er sah zu­meist et­was furcht­er­re­gend aus, vor al­lem wenn er sei­ne Ru­te schwang und mit der Ket­te ras­sel­te.
Engel
Mutter war längst wie­der in der Kü­che und bald roch es nach Brat­wurst und Schin­ken, nach sau­rem Al­ler­lei, Ik­ra und Pfef­fer­soß’ (Ik­ra kommt aus dem sla­wi­schen, rus­si­schen und be­zeich­net den Fisch­ro­gen, Ka­vi­ar. Als Ka­vi­arer­satz wer­den je­doch auch Ei und Au­ber­gi­ne als Brei ge­mischt, als Ka­vi­ar des ar­men Man­nes. In der Do­brud­scha und auch Bes­sa­ra­bi­en je­doch Au­ber­gi­nen­sa­lat. Quel­le: „Die Kü­che der do­brud­scha­deut­schen Bäu­er­in“, Irm­gard Ger­lin­de Stil­ler-Le­yer. Pfef­fer­so­ße be­steht zum größ­ten Teil aus Pa­pri­ka, ge­mischt mit To­ma­ten, Zwie­bel, Knob­lauch, Au­ber­gi­nen, ähn­lich dem ru­mä­ni­schen Za­cus­ca.), so­wie nach all den gu­ten Din­gen, die sie für die­sen Abend vor­be­rei­tet hat­te. Und wie gut es uns dann im­mer schmeck­te, wie froh und glück­lich wir wa­ren! Spä­ter spiel­ten wir noch mit den­ Nüs­sen: „paa­rig oder un­paa­rig“, „Do­mi­no“ oder „Schwar­zer Pe­ter“, wo­bei wir es Mut­ter im­mer an­se­hen konn­ten, wenn sie die Un­glücks­kar­te ge­zo­gen hat­te.
Clip
Clip
Clip
Clip
Clip
Viel später als sonst am Abend deck­te sie uns dann die Bet­ten auf, be­te­te mit uns und stopf­te uns die De­cke rings­um an den Kör­per, da­mit wir es warm hat­ten. Und wäh­rend sie uns auf die Stirn küss­te, schlie­fen wir be­reits neu­en Er­leb­nis­sen ent­ge­gen. Weih­nach­ten, die­ses wun­der­ba­re Fest, hat­te ja erst be­gon­nen.
Am ersten Weih­nachts­tag gin­gen wir wie­der al­le zur Kir­che, die fast ge­nau­so voll war wie am Hei­li­gen Abend. Dass auch die­ser Tag sehr hei­lig war, merk­ten wir Kin­der da­ran, dass der Kir­chen­chor sang und das ge­schah nur an ho­hen Fest­ta­gen. Auch am Nach­mit­tag war noch ein­mal Got­tes­dienst, aber da gin­gen nur je­ne hin, die ganz be­son­ders fromm wa­ren, wie wir uns un­ter­ein­an­der er­zähl­ten. Die meis­ten lu­den sich jetzt Be­such ein oder gin­gen „zu Gast“, wie man es nann­te. Mut­ter lud meis­tens ih­re Freun­din mit der gan­zen Fa­mi­lie ein. Die­se Freun­din war aus dem Nach­bar­dorf ih­res Ge­burts­or­tes in Bes­sa­ra­bi­en ge­nau wie sie durch die Hei­rat in die Do­brud­scha ge­kom­men und so hat­ten sie man­che An­knüp­fungs­punk­te. Uns Kin­dern stan­den an solch ei­nem Be­suchs­tag oft meh­re­re Zim­mer zur Ver­fü­gung, wo wir nach Her­zens­lust he­rum­tob­ten, ja so­gar Ver­steck spiel­ten.
Pinsel
Am zwei­ten und drit­ten Weih­nachts­tag wur­de es dann ru­hig und für uns Kin­der manch­mal auch lang­wei­lig. Es gab ja da­mals noch kein Ra­dio und Fern­se­hen und auch kei­ne Bi­blio­thek, wo wir uns hät­ten Bü­cher zum Le­sen ho­len kön­nen. Oft spiel­ten wir stun­den­lang „Da­me und Müh­le“ ir­gend­wo bei Gleich­al­tri­gen in der Nach­bar­schaft und wenn wir kein Spiel da­zu hat­ten, mal­ten wir es uns auf ein Blatt Pa­pier und statt der Stei­ne nah­men wir Mais­kör­ner, Boh­nen oder auch Knöp­fe.
Ende 1934, ich war da­mals ge­ra­de neun Ja­hre alt, kam durch Ver­mitt­lung des evan­ge­li­schen Ober­kir­chen­ra­tes von Ber­lin die Dia­ko­nis­se Ire­ne Gra­bow zu uns ins Dorf, um sich als Ge­mein­de­schwes­ter der Sie­chen und Kran­ken an­zu­neh­men.
Glocken
Aber sie sah wohl auch, wie sehr es uns Kin­dern in geis­ti­ger und geist­li­cher Hin­sicht an Er­bau­li­chem fehl­te. So führ­te sie die Sonn­tags­schu­le bei uns ein (ähn­lich der Kir­chen­leh­re für die Kon­fir­mier­ten) und ver­sam­mel­te uns nach Al­ters­grup­pen ge­trennt ein­mal wö­chent­lich bei sich in der Woh­nung. Wir lern­ten bei ihr nicht nur Spie­le, Bas­teln und Sin­gen, son­dern sie gab uns auch im­mer wie­der Weg­wei­sung durch Got­tes Wort in der Bi­bel. Sie selbst schreibt da­rüber im Jahr­buch der Do­brud­scha­deut­schen 1959, Seite 152: „Viel könn­te ich auch noch von un­se­ren Fes­ten er­zäh­len. Wie war es doch bei je­ner ers­ten Ad­vents­fe­ier in un­se­rem Kirch lein? So et­was war ja noch nie da­ge­we­sen. Da­rum hat­te ich die­se Fei­er auch mit zit­tern­dem Her­zen vor­be­rei­tet. Aber dann hat­te sie so­viel An­klang ge­fun­den, dass wir in je­dem Jahr Ad­vents­fei­er hal­ten durf­ten. Am 1. Ad­vent wan­der­ten wir mit selbst ge­bas­tel­ten Trans­pa­ren­ten zu den Kran­ken, san­gen un­se­re Lie­der und rie­fen ih­nen die köst­li­chen Got­tes­ver­hei­ßun­gen zu. Am Weih­nachts­abend sind wir so­gar mit ei­nem ge­schmück­ten Tan­nen­bäum­chen, das wir vor­sich­tig in ei­nem gro­ßen Korb tru­gen, durchs Dorf ge­zo­gen von ei­nem Kran­ken zum an­dern und es fragt sich, wer da­bei am glück­lichs­ten war, die Em­pfän­ger oder die Ge­ber. Un­se­re lie­be „Tan­te Ire­ne“, wie wir sie nann­ten, öff­ne­te uns die Tür zu ei­ner neu­en Er­leb­nis­welt und wur­de zum Se­gen für un­se­re gan­ze Ge­mein­de. Sie ver­brach­te ih­ren Le­bens­abend im „Rau­hen Haus“ in Ham­burg, wo einst Jo­hann Hin­rich Wi­chern (1808 – 1881) den Ad­vents­kranz er­fand. Mit die­sem Ad­vents­kranz woll­te er den Kin­dern, die er ver­wahr­lost und ver­wil­dert von der Stra­ße hol­te und in ei­nem christ­li­chen Haus er­zog, die Ad­vents­sonn­ta­ge vor dem Weih­nachts­fest durch das Ent­zün­den der vier Ker­zen be­wusst und an­schau­li­cher ma­chen.
Eis
Eis
Eis
Eis
Der 28. De­zem­ber war für die Mäg­de und Knech­te im Dorf der Wan­der­tag, wenn sie ih­ren Platz wech­seln woll­ten. Da­bei wur­de ger­ne ge­fei­ert und nie­mand hat­te et­was da­ge­gen.
An Sil­ves­ter wur­de das al­te Jahr mit ei­nem Got­tes­dienst mit Abend­mahls­fei­er ver­ab­schie­det. Von die­sem Got­tes­dienst wa­ren wir Kin­der aus­ge­schlos­sen, weil er spät am Abend statt­fand. Ge­gen 23:30 Uhr läu­te­ten die Glo­cken das al­te Jahr aus, ei­ne Vier­tel­stun­de lang. Um 24 Uhr kün­de­ten dann zwölf eher­ne Glo­cken­schlä­ge Mit­ter­nacht an. Der Kir­chen­chor stand schon auf der Trep­pe un­se­res Bet­hau­ses be­reit und sang nach dem letz­ten Glo­cken­schlag ei­nes der nach­fol­gen­den Lie­der: „Sin­nend stehn wir an des Jah­res Gren­ze...“, „Des Jah­res letz­te Stun­de...“, „Ach wie­de­rum ein Jahr ver­gan­gen...“ oder auch ein an­de­res Lied, wie es vom Küs­ter­leh­rer, der auch den Kir­chen­chor lei­te­te, be­stimmt wur­de. Nach dem Ge­sang des Cho­res, meis­tens von Vier­tel nach zwölf bis halb ein Uhr, wur­de dann das neu­e Jahr ein­ge­läu­tet. Vie­le Dorf­be­woh­ner, be­son­ders die Ju­gend, fan­den sich bei der Kir­che ein, um den fest­li­chen Jah­res­we­chsel mit­zu­er­le­ben, der von ge­le­gent­li­chem „Neu­jahr­schie­ßen“, mal nä­her, mal wei­ter ent­fernt, be­glei­tet wur­de. Die Al­ten wa­ren sehr ge­gen die­ses „Neu­jahr­schie­ßen“, weil schon man­ches Un­glück durch die meis­tens selbst ge­fer­tig­ten Knall­kör­per ent­stan­den war. Am Neu­jahrs­mor­gen muss­te man je­doch wie­der bei­zei­ten auf den Bei­nen sein, weil nun die Kin­der, meis­tens aus är­me­ren Fa­mi­lien, von Haus zu Haus gin­gen, um mit klei­nen Ver­sen und Sprü­chen Neu­jahr zu wün­schen. Es wa­ren für ge­wöhn­lich klei­ne Grup­pen, wo­bei ei­ner ein Säck­chen um­ge­hängt hat­te für die Nüs­se, Süß­ig­kei­ten und das Back­werk; ein an­de­rer nahm das Geld ent­ge­gen, das sie nach­her un­ter sich auf­teil­ten. Die ge­bräuch­lichs­ten Neu­jahrs­wün­sche wa­ren:
Nüsse
„Weil das neue Jahr ist kommen,
hab’ ich mir es vorgenommen,
euch zu wünschen in der Zeit
Friede, Glück und Seligkeit.
Soviel Flocken in dem Schnee,
soviel Fischlein in dem See,
soviel Tröpflein in dem Regen,
soviel Glück und soviel Segen soll euch Gott
der Höchste geben
in diesem neuen Jahr,
guta Morga.“
„Ich ben en kleiner König,
gib mr net so wenig,
laß mich net so lange stehn
ich muß a Häusle weiter gehn‚
guta Morga.“
„Ich wünsch euch a glückliches neues Jahr,
viel besser wie des vergangene war,
drzu noch a langes Leba,
on dodruf solls Feuer geba.“
(Anschießen)
Bonbons
Während des Got­tes­diens­tes muss­te das Neu­jahr­wün­schen un­ter­blei­ben und meis­tens war es dann auch be­en­det. Die Kin­der un­se­rer mos­le­mi­schen Mit­be­woh­ner nah­men an die­sem Neu­jahr­wün­schen nicht teil, je­doch die Ru­mä­nen. Sie ka­men auch zu uns Deut­schen ins Haus und klopf­ten mit der Sor­co­va, ei­nem Pa­pier­blu­men­ge­bin­de, in schnel­lem Rhyth­mus auf den Arm oder Leib des­je­ni­gen, der sie emp­fing und sag­ten fol­gen­des Vers­lein:
Text
Bild: Silvia Nedelea 2009
Zweig
Zweig
„Sorcova, vesela,
Sa traii, sa-mbatrânii:
Ca un mar, ca un par,
Ca un fir de trandafir.
Tare ca piatra,
Iute ca sageata.
La anul si la multi ani!“
Großmutter
Bild: Silvia Nedelea 2009
Sorcova - siehe auch Sil­vi­as Be­richt vom 24.12 im Ru­mä­nien­ad­vents­ka­len­der 2009
Va­ter sam­melte schon lan­ge vor dem Fest Klein­geld für die vie­len Gra­tu­lan­ten. Manch­mal ka­men auch be­freun­de­te er­wach­se­ne Ru­mä­nen zu uns ins Haus und streu­ten glück­wün­schend Wei­zen auf den Fuß­bo­den, den sie aus ih­rer Ho­sen­ta­sche hol­ten. Mit die­sen trank Va­ter dann ei­nen Pflau­men­schnaps und man ver­sich­er­te sich ge­gen­sei­tig der wei­te­ren Freund­schaft. Im Neu­jahrs­got­tes­dienst sang noch ein­mal der Kir­chen­chor und da­nach konn­te er bis Os­tern pau­sie­ren. Beim Ver­las­sen des Got­tes­hau­ses sah man sich da und dort die Hand rei­chen und ein gu­tes, neu­es Jahr wün­schen.
Eis
Der 6. Januar, das Er­schei­nungs­fest, hat­te bei uns nur ei­ne un­ter­ge­ord­ne­te Be­deu­tung, ganz im Ge­gen­satz zu un­se­rem ru­mä­ni­schen Staats­volk, für das erst jetzt rich­tig Wei­hnach­ten war. Am Vor­abend von Hei­lig­drei­könig, oft schon am Nach­mit­tag, gin­gen die Stern­sin­ger wie­de­rum in klei­nen Grup­pen durchs Dorf. Oft war es so, dass sie sich die Tür­klin­ke in die Hand ga­ben oder manch­mal so­gar war­ten muss­ten, bis sie nach­rü­cken konn­ten. Das Lied, das sie zum Teil san­gen, aber auch in ein­zel­nen Pas­sa­gen im Sprech­chor vor­tru­gen, lau­te­te:
Die heiligen drei Könige mit ihrem Stern,
sie kommen und suchen den lieben Herrn,
sie kommen vor Herodes sein Haus.
Herodes, der schaute zum Fenster heraus:
„Was ist das für ein schwarzer Mann,
der ist so schwarz und unbekannt,
ist das nicht der König von Mohrenland?
Bist du der König von Mohrenland,
so reich mir her deine rechte Hand!“
„Meine rechte Hand, die reich ich dir nicht.
Du bist ja Herodes, drum trau ich dir nicht.“
„Ich bin Herodes, das weiß ich wohl,
drum trag ich das Zepter und die Kron.
Drum trag ich das Zepter und das Schwert,
möcht wissen, wer es mir wehren wird.“
Der Diener geht von Haus zu Haus
und schaut nach dem kleinen Kinde aus.
„Der Engel hat mir im Traum gesagt:
Oh, Herodes, bei Tag und bei Nacht
nach dern Kinde sein Leben tracht.“
Herodes, der Bluthund, wollte alle Kindlein
töten, da sie noch nicht konnten reden.
„Pfui, die Schand der Kinderlein,
das leid ich nicht, das mag ich nicht,
und wenn es kost’ das Leben.“
Engel
Nach dem Emp­fang der Ga­ben san­gen die Stern­sin­ger am Schluss:
„Habt ihr uns eine Verehrung gegeben,
so sollt ihr das Jahr mit Freuden erleben,
ihr und eure Kinder, ihr und eure Gesinder.
Der Stern, der Stern soll rumwärts gehn,
wir müssen heute abend noch weiter gehn.“
Wenn es bei der letz­ten Vers­zei­le hieß: „Der Stern, der Stern soll rum­wärts gehn...“ wur­de der an ei­nem Stab be­fes­tig­te Stern vom Stern­trä­ger mit der Hand­kan­te be­wegt. Je schnel­ler er sich dreh­te, des­to ge­lun­ge­ner war die Vor­füh­rung. Die­ser Stern, in der Grö­ße ei­nes Sup­pen­tel­lers, wur­de von den Sän­gern aus bun­tem Glanz- und Gold­pa­pier, so­wie Kleis­ter aus Mehl und Was­ser selbst ge­bas­telt und stell­te oft ein klei­nes Kunst­werk dar. Auch für die Stern­sin­ger muss­te ge­nü­gend Klein­geld im Hau­se sein und auch sie führ­ten ei­nen Sack mit für die Le­cke­rei­en.
Stern
Wenn Hei­lig­drei­kö­nig vo­rü­ber war, wur­de der Christ­baum in der Kir­che und zu Hau­se ab­ge­schmückt und er durf­te im Schnee des Gar­tens noch ein kur­zes Da­sein fris­ten. Ein paar Ta­ge spä­ter fing auch die Schu­le an und der All­tag im ge­wohn­ten Ja­hres­lauf nahm wie­der sei­nen Fort­gang. Trotz­dem blieb noch für ei­ni­ge Zeit ein Ab­glanz von Weih­nach­ten zu­rück. Schnee, Eis und Käl­te hiel­ten die Men­schen in den war­men Stu­ben ih­rer Häu­ser‚ so­dass man nur zur Ab­füt­te­rung der Haus­tie­re nach drau­ßen muss­te. Manch­mal spann­te man auch an son­ni­gen Win­ter­ta­gen die Pfer­de vor den Schlit­ten, da­mit sie ein we­nig Be­we­gung be­ka­men und ließ sich durch die stil­le, wei­ße Win­ter­land­schaft fah­ren. Aber im gro­ßen und gan­zen ge­noß man die Ru­he und häus­li­che Ge­müt­lich­keit. Im Rauch­fang hing die gu­te Brat-, Le­ber- und Blut­wurst so­wie der be­lieb­te Press­ma­gen und im Kel­ler la­ger­te der neu­e Wein. An den lan­gen Aben­den ging man auch ein­mal zu ei­nem Schwätz­chen in die Nach­bar­schaft oder bekam sel­ber Be­such, wo­bei die Frau­en meis­tens Wol­le zupf­ten oder span­nen. Aber bald be­sann man sich wie­der auf die Ar­beit im Hof, auf dem Spei­cher und an den vie­len Ge­rä­ten, von de­nen man­che schon im März oder auch frü­her zum Ein­satz ka­men, wie sie selbst. Denn, so war ihr Le­ben.
Zweig
Kreuz
Zweig
Zurück-Button