Wo Europa schon immer ge­lebt wird


Temeswar im Wes­ten Ru­mä­ni­ens ist ei­ne der drei Eu­ro­pä­ischen Kul­tur­haupt­stä­dte 2023


von Marius Koity

Flaggen
„Die ganze Stadt ist ei­ne Bau­stel­le“, sag­te Ta­xi­fah­rer Ge­or­ge auf dem Weg vom Te­mes­wa­rer Flug­ha­fen ins Ho­tel Sa­voy. Tat­säch­lich war links ei­ne Stra­ße auf­ge­ris­sen, wäh­rend rechts ge­ra­de ein Grün­der­zeit­ge­bäude ein­ge­rüs­tet wur­de. Und plötz­lich roll­ten wir durch ei­ne Un­ter­füh­rung, die ziem­lich neu war. „Hat al­les mit der Kul­tur­haupt­stadt zu tun, da gibt es gro­ße Er­war­tun­gen“, sag­te der Chauf­feur.
Baustelle
Timişoara, deutsch: Te­mes­war, die 320.000-Ein­woh­ner-Stadt im Wes­ten Ru­mä­ni­ens, ist ge­mein­sam mit Elef­sina in Grie­chen­land und Vesz­prém in Un­garn ei­ne der drei Eu­ro­pä­ischen Kul­tur­haupt­stä­dte 2023. Ei­gent­lich soll­te Te­mes­war schon 2021 ei­ne Dreh­schei­be des Ideen­aus­tauschs auf höchs­tem Ni­veau sein. We­gen Co­ro­na hat­te die Eu­ro­pä­ische Kom­mis­sion al­ler­dings ei­ne Ver­schie­bung des Ganz­jahr­es­fes­ti­vals auf 2023 vor­ge­schla­gen und die Stadt er­griff die­se aus­ge­streck­te Hand.
Hände
Im September 2022, als sich Ver­tre­ter deut­scher und ös­ter­rei­chi­scher Me­dien mit der groß­zü­gi­gen Un­ter­stüt­zung des Deut­schen Kul­tur­fo­rums öst­li­ches Eu­ro­pa aus Pots­dam in Te­mes­war um­se­hen konn­ten, sprach im Stadt­bild al­ler­dings noch nichts vom Groß­er­eig­nis. Die Jour­na­lis­ten wa­ren da recht rat­los.
ratlose Journalisten
„Keine Sorge, wird schon“ lau­te­te da die Hal­tung des aus Deutsch­land stam­men­den Te­mes­wa­rer Bür­ger­meis­ters Do­mi­nic Fritz. Ei­gent­lich woll­te er die Kul­tur­haupt­stadt nicht mit in­nen­po­li­ti­schen De­bat­ten ver­mischt se­hen, kam aber nicht um­hin ein­zu­räu­men, dass ihm das Le­ben im zen­tra­lis­tisch ver­wal­te­ten Ru­mä­nien von über­ge­ord­ne­ten Struk­tu­ren wie dem Kreis Ti­miş und der Re­gie­rung selbst schwer ge­macht wer­de.
Bürgermeister vor Europaflagge
Dominic Fritz (geb. 1983 in Lör­rach) ist ein deutscher Staats­an­ge­hö­ri­ger und seit dem 30. Ok­to­ber 2020 Bür­ger­meis­ter der ru­mä­ni­schen Groß­stadt Ti­mi­șo­ara/Te­mes­war, Kul­tur­haupt­stadt Eu­ro­pas 2023, Part­ner­stadt von Ge­ra.
Das ökoli­berale Stadt­ober­haupt scheint – um den ge­wis­sen Po­lit­kri­mi in ei­nem Satz zu­sam­men­zu­fas­sen – aus Bu­ka­res­ter Sicht in der fal­schen Par­tei zu sein und er will auch kei­ne Sei­ten wech­seln, und falls 2023 ein Er­folg wird, könn­te das zu­min­dest in Te­mes­war ei­ne Vor­ent­schei­dung für das ru­mä­ni­sche Su­per­wahl­jahr 2024 sein.
Wahl
Fritz brennt jeden­falls für das Kul­tur­haupt­stadt­jahr. „Das ist ein Ins­tru­ment, das uns Flü­gel gibt“, sag­te er. Zum ei­nen gel­te es, in der wirt­schaft­lich dy­na­mi­schen Stadt mit Zu­wan­de­rern aus al­len Lan­des­tei­len mit den Mit­teln der Kul­tur ei­ne Ge­mein­schaft zu bil­den, in wel­cher je­der nach sei­ner Fas­son und in Wohl­stand se­lig wer­den kann.
verschiedene Flaggen
Zum anderen sol­len Gäs­te ler­nen, dass im mehr­spra­chi­gen, mul­ti­eth­ni­schen und mul­ti­kon­fes­sio­nel­len Te­mes­war Eu­ro­pa lan­ge vor der gleich­na­mi­gen Un­ion ge­lebt ha­be. Fritz: „Wir glau­ben, dass un­se­re Ge­schich­te Eu­ro­pa ins­pi­rie­ren kann.“
monumentales Gebäude Skulptur Skulptur auf Flussbrücke
Im Kultur­haupt­stadt­jahr-Pro­jekt­zent­rum war dann zu er­fah­ren, dass man auf den ent­spre­chen­den Ver­an­stal­tun­gen nicht we­ni­ger als ei­ne Mil­lion Be­su­cher er­war­te. In die Pro­gramm­kar­ten ließ man sich al­ler­dings nicht schau­en. Ver­wie­sen wur­de auf Ver­ein­ba­run­gen mit Elef­sina und Vesz­prém, wo­nach ge­mein­sam erst ab No­vem­ber De­tails zu ver­öf­fent­li­chen sind.
So fand am 8. No­vem­ber ein ent­spre­chen­der Fest­akt in der Bot­schaft von Ru­mä­nien in Ber­lin statt. Es war der Start der west­eu­ro­pä­ischen Kul­tur­haupt­stadt­of­fen­si­ve und der The­men­abend in ei­nem prop­pen­vol­len Saal vor mehr als 200 Mul­ti­pli­ka­to­ren wur­de Te­mes­war als ei­ne Stadt mit Ver­gangen­heit und Zu­kunft und gro­ßer See­le vor­ge­stellt.
Fußgängerzone mit Regenschirmen
Die Farben­viel­falt der schon 2014 ge­spann­ten Son­nen­schir­me über der Mă­ră­şeş­ti-Stra­ße im Her­zen von Te­mes­war wird mit­un­ter als Sinn­bild der mehr­spra­chig, mul­ti­et­hnisch und mul­ti­kon­fes­sio­nell ge­präg­ten Eu­ro­pä­ischen Kul­tur­haupt­stadt 2023 ge­wer­tet.
Straßenbahn
Skulptur
Timișoara calling...*
* Die Piața Liber­tă­ții, deutsch Frei­heits­platz, ist ei­ner der drei zen­tra­len Plät­ze in der In­nen­stadt der Eu­ro­pä­ischen Kul­tur­haupt­stadt 2023. Die Bron­ze­skul­ptur mit dem in der ru­mä­ni­schen Spra­che wort­spie­le­rischen Ti­tel "De-a te­le­fo­nul" (ver­ein­fach­ter deut­scher Na­me: "Te­le­fo­nie­ren­der Jun­ge") des in­ter­na­tio­nal re­nom­mier­ten ru­mä­ni­schen Bild­hau­ers Bog­dan Ra­ţă wur­de 2015 auf­ge­stellt und ist ein Blick­fang auf dem eins­ti­gen k. u. k. Pa­ra­de­platz.
So sehr viel ist zum Pro­gramm trotz­dem noch nicht be­kannt. Für den 17. bis 19. Fe­bru­ar 2023 ist aller­dings ein ful­mi­nan­tes Er­öf­fnungs­wo­chen­en­de an­ge­kün­digt. Über die gan­ze Stadt ver­teilt sol­len Ver­an­stal­tun­gen al­ler Küns­te mit in- und aus­län­di­schen Mit­wir­ken­den statt­fin­den. Deutsch­land wird bei­spiels­wei­se mit sei­nem wohl be­kann­tes­ten und wir­kungs­mäch­tigs­ten Den­ker der Ge­gen­wart, dem streit­ba­ren Phi­lo­so­phen und Kul­tur­wis­sen­schaft­ler Pe­ter Slo­ter­dijk ver­tre­ten sein, der in der Uni­ver­si­tät des Wes­tens spre­chen soll.
Am 12. Dezem­ber gab Do­mi­nic Fritz auf sei­ner Face­book-Sei­te dann be­kannt, dass das Kul­tur­haupt­stadt mehr als 2500 Künst­ler prä­sen­tie­ren wer­de. Pro Wo­che sol­len durch­schnitt­lich 30 Ver­an­stal­tun­gen statt­fin­den.
Ankündigung
Angekündigt sind al­lein zwölf Mu­sik­fes­ti­vals von Rock bis zu Ba­rock. The­ater und Zir­kus sei­en ei­ni­ger der wei­te­ren Schwer­punk­te. Er­war­tet wer­den die Li­te­ra­tur­no­bel­preis­trä­ger Or­han Pa­muk und Ol­ga To­kar­czuk.
Fußgängerzone
Schild an Hauswand
Gaststätte
Skulptier mit Kathedrale
Die rumä­ni­sche-or­tho­do­xe Ka­the­dra­le ist ei­nes der Wahr­zei­chen der Eu­ro­pä­ischen Kul­tur­haupt­stadt 2023. Im Vor­der­grund ist die 1999 auf­ge­stell­te Edel­stahl­skulp­tur "Cru­ci­fi­care“ (deutsch: "Kreu­zi­gung", im an­gel­säch­si­schen Raum "He­roes Ne­ver Die") des in­ter­na­tio­nal re­no­mier­ten Bild­hau­ers Paul Nea­gu (geb. 1938, Bu­ka­rest - verst. 2004, Lon­don) zur Er­in­ne­rung an die Op­fer der ru­mä­ni­schen Re­vo­lu­tion von 1989 zu se­hen.
Kirche
Im September hatte Do­mi­nic Fritz vor den deut­schen und ös­ter­rei­chi­schen Jour­na­lis­ten ei­ne ein­ma­lige Aus­stel­lung zum Le­ben und Werk des welt­be­rühm­ten ru­mä­ni­schen Bild­hauers Cons­tan­tin Brăn­cuşi in Te­mes­war ver­spro­chen.
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Am Herzen liegt ihm auch ein Pro­jekt „We­ge der Re­vo­lu­tion“, das an den Volks­auf­stand von 1989 er­in­nern soll, wohl aber so schnell nicht fer­tig sein wird. Die wie­de­rum mehr­tä­gi­ge Ab­schluss­fei­er des Kul­tur­haupt­stadt­jah­res soll am 34. Jah­res­tag der Re­vo­lu­ti­on, am 16. De­zem­ber 2023 be­gin­nen.
Ein Vorhaben der neu auf­blü­hen­den Städ­te­part­ner­schaft zwi­schen dem thü­rin­gisch­en Ge­ra und Te­mes­war ist je­den­falls ein Leucht­turm­pro­jekt des Kul­tur­haupt­stadt­jah­res, wie Do­mi­nic Fritz auf Nach­fra­ge des Au­tors die­ser Zei­len be­stä­tig­te. Es geht um ein pa­ri­tä­tisch fi­nan­zier­te, mehr als 700.000 Eu­ro teu­re und auch sonst au­ßer­ge­wöhn­liche Ini­ti­ati­ve.
So studieren das The­ater Al­ten­burg-Gera und die Ba­na­ter Phil­har­mo­nie aus Te­mes­war Ar­nold Schön­bergs äu­ßerst sel­ten auf­ge­führ­te „Gur­re-Lie­der“ ein. Es wir­ken auch die Te­mes­wa­rer Oper so­wie die Kon­zert­chöre der Mu­sik­gym­na­sien Ru­the­neum aus Gera und Ion Vidu aus Te­mes­war mit.
Noten
Rund 200 Sänger und Sänge­rin­nen, ein knapp 150-köpf­iges Or­ches­ter, fünf Ge­sangs­so­lis­ten und ein Spre­cher wer­den zu­nächst am 22. und 23. Sep­tem­ber 2023 im Kul­tur- und Kon­gress­zen­trum Gera und an­schlie­ßend am 28. und 29. Sep­tem­ber 2023 in Te­mes­war auf der Büh­ne ste­hen.
Chor
Opernhaus
Was ist mit Taxi­fah­rer Ge­or­ge, wird er un­ter der Mil­lion Be­su­cher sein? „Ja“, sag­te er. Wenn er Zeit ha­ben und et­was für sei­nen Ge­schmack be­zahl­bar sein wer­de. Kul­tur­haupt­stadt-In­te­res­sier­ten aus Deutsch­land ist je­den­falls das ver­gleichs­wei­se be­zahl­ba­re Ho­tel Sa­voy zu emp­feh­len. Am bes­ten nach ei­nem Zim­mer im ru­hi­gen Hin­ter­haus fra­gen.
Taxi
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