Damit es einfacher wird, verwenden wir im Beitrag das Wort ”ie”(sprich ihje) für die "rumänische Trachtenbluse".
Ich liebe die ”ie”!
Die erste "ie" habe ich mit drei Jahren bekommen.
Die Liebe zur "ie" ist mit der Zeit gewachsen.
Als ich die Tracht meiner Urgroßmutter (ca. 100 Jahre alt) sah, war ich von ihrer Schönheit, ihrem Reichtum und ihrer Handwerkskunst beeindruckt. Ich begriff, wie schwer es war dies anzufertigen.
Meine Großmutter weiß vieles und jede Etappe hat ihre eigene Geschichte, von den in den Boden gesäten Flachs- und Hanfsamen, der Verarbeitung der Pflanze, der Herstellung des Fadens, dem Weben des Stoffes im Haus und dem Besticken der Bluse, dem Verzieren mit metallischen Schmetterlingen (Pailletten) und Glasperlen. Es war eine Menge harter Arbeit. Tausende von Arbeitsstunden benötigte sie für eine "ie", die für die Feiertage bestimmt war. Ihr wahrer Wert lässt sich nur schwer zu berechnen.
Von Oma können wir immer etwas lernen.
Das Glanzstück der Volkstracht ist die ”ie”. So wird die reich bestickte Trachtenbluse, vor allem im Süden Rumäniens, genannt.
Das Wort erinnert an den lateinischen Namen für Leinen, „linum“, das Material, aus dem die direkt auf der Haut getragene Bluse gefertigt wurde.
Der Schnitt ist einfach und sehr alt: vier Rechtecke aus Stoff sind am Hals und manchmal am Ärmelsaum gerafft. Die Stiche auf der ”ie” sind nicht nur dekorativ, sie enthalten Informationen. Die ”ie” war eine Art Personalausweis und Wappen. Auf einen Blick konnte man erkennen, aus welcher Gegend die Frau stammte, welchen sozialen, ehelichen und wirtschaftlichen Status sie hatte.
Die Stichmuster sind sehr vielfältig, die echte ”ie” ist einzigartig. Es war ein Wettbewerb der Geschicklichkeit und Kreativität.
Beachtet die Feinheit der Nähte, welche bei Kerzenlicht gemacht wurden.
Jeder versuchte seine eigene Komposition zu schaffen, indem er Motive und Symbole in seinem persönlichen Stil verwendete und interpretierte. Deshalb gibt es selten zwei Blusen mit identischen Mustern.
Hier ein kleines Motiv- und Symbollexikon:
Die Wellenbewegung symbolisiert den Lebensweg, das Schicksal.
Die Wolfszähne symbolisieren die Verteidigung gegen das Böse.
Der Stern - Führer, Schicksal, Wahrzeichen.
Das Kreuz - Freiheit, Schutz, Glaube, Orientierung im Leben.
Nichts wird dem Zufall überlassen. Alles folgt einer Reihe von Regeln, welche im Laufe der Zeit festgelegt wurden.
Der Ärmel, das sichtbarste und verzierteste Element, spiegelte das Universum der Bauern wieder.
Auf der Schulter befindet sich die ”altița” (altus steht im Lateinischen für hoch, im oberen Teil des Ärmels), die den Himmel darstellt. ”Altița” ist ein reichhaltiger Stich, bestehend aus 5-7 horizontalen Bändern (die Himmel - es gibt im Volksglauben 9 Himmel), mit abstrakten Motiven: Sonne, Luzifer, Kreuz, unterbrochene/wellige Linie, welche den Lauf der Sonne über den Himmel symbolisiert.
Unter ”altița” befindet sich die Falte (das kommt von "in Falten legen"; in alten Zeiten diente sie dem Falten des Ärmels). Die Falte repräsentiert die Erde. Sie ist ein breiter Streifen (3-6 cm) mit einem geometrischen Muster, häufig mit weißem Faden auf Weiß oder in Gelbtönen genäht, mit Motiven wie Raute, Säule, Wolfszähne.
Unterhalb der Falte (der Erde) befinden sich die Flüsse in Form von vertikalen oder schrägen Bändern. Ihr Muster wiederholt sich auf der Brust und manchmal auch auf dem Rücken. In der Regel unterscheidet es sich von der ”altița” oder der Falte.
Wir entdecken auch andere Symbole:
auf der ”altița”, dem Himmel: die ”Streitsüchtige” - zwei ineinander verschlungene S, das Äquivalent zum Ying-Yang-Prinzip;
auf den Falten, der Erde: Rauten - Fruchtbarkeit, Harmonie;
auf den Flüssen: die Säule - die Verbindung mit dem Universum, Charakterstärke, Festigkeit; die Sonne – das Zentrum der Welt, die Quelle des Lebens; Spirale - Unendlichkeit, Unsterblichkeit.
In einer Mischung aus Gottesglauben und Aberglauben, auch geprägt vom Wechsel der Jahreszeiten, wurde die ”ie” genäht. Frauen arbeiteten besonders im Winter, vom frühen Morgen bis Mitternacht, wenn die bösen Geister zu Besuch kamen. Begleitet wurde das Nähen von dem Aussprechen besonderer Formeln, die der ”ie” magische Schutzkräfte verleihen sollen. Diese Schutzkräfte sollen ihren Trägerinnen in besonderen Momenten des Lebens helfen:
die ”ie” für Mädchen, die zum ersten Mal in Gesellschaft zum Tanzen gehen, um sie vor anstößigen Blicken zu bewahren;
die ”ie” der Braut, für eine gute Ehe;
die ”ie” für die Beerdigung und den weiten Weg ins Jenseits.
Fertig zum Tanzen sind die geschmückten Mädchen!
Der Ursprung der ”ie” verliert sich im Nebel der Zeit. Die Bluse, die Leinentunika, die vor mehreren Jahrtausenden geschaffen wurde, entwickelte sich, veränderte sich und wurde immer schöner in der Welt des rumänischen Dorfes und wurde zu diesem erstaunlichen Kleidungsstück.
Bis ins 19. Jahrhundert wurde die ”ie” nur auf dem Dorf getragen. Sie war ein Symbol für die Frau vom Lande. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann die erste Königin Rumäniens, Elisabeta, fasziniert vom Volkshandwerk, die rumänische Volkstracht anzuziehen und beeinflusste damit die Kleidung der Damen am Hof. Königin Maria, die ihr zu Beginn des 20. Jahrhunderts folgte, war ihrerseits beeindruckt von der Eleganz und Schönheit der bäuerlichen Festtagskleider, übernahm und förderte sie, trug sie im Alltag und sogar bei Veranstaltungen der High Society. In kurzer Zeit wurde die "ie" hoffähig.
Königin Elizabeta und Königin Maria, gemalt von George Peter Healy bzw. Albertin Rupprecht, Sammlung des Nationalen Kunstmuseums von Rumänien.
Dadurch stieg die Nachfrage und es entstanden Werkstätten für Maßanfertigungen. Die Stichmuster wurden immer realistischer (Blumen, Vögel), fast fotografisch. Die ”ie” wurde zu einem zunehmend dekorativen, ästhetisch schönen Gegenstand, der mit der gleichen Meisterschaft von den Händen der in die Stadt gebrachten Bäuerinnen bearbeitet wurde.
Durch die damaligen Eliten wurde sie im Ausland bekannt. Eine Reihe von Malern fand Inspiration in der rumänischen ”ie”.
Henri Matisse – La Blouse Roumaine
Zurück im Dorf fügten die Frauen neue Motive aus der Stadt hinzu. Die spirituelle Bedeutung der Symbole verblasste, die Betonung wurde auf Realismus gelegt.
Neue Modelle neben alten Symbolen - Widderhörner, Energie, Mut, Ausdauer.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ging ihre Popularität unter den sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen der kommunistischen Zeit zurück. Nur wenige Frauen nähten noch für den Haushalt, aber es gab Handwerksgenossenschaften, die handgenähte Kleidung herstellten und sich dabei so weit wie möglich an die Regeln der authentischen ”ie” hielten.
Diese wurden in Souvenirläden, hauptsächlich an ausländische Touristen, verkauft. Selbst ein scheinbar armseliger Stich erforderte viele Arbeitsstunden und führte daher zu einem zu hohen Preis für den Durchschnittsbürger.
In den 70er Jahren gab es eine kurze Hippie-Flower-Power-Zeit, als geblümte Hemden bei den jungen Leuten in der Stadt modern waren. So wurden die zwischen den beiden Weltkriegen genähten Trachtenblusen aus den Truhen der Großmütter herausgeholt.
Es folgten Jahrzehnte des scheinbaren Vergessens, aber langsam wurde die ”ie” wiederentdeckt und so durchstöberten wir erneut die vergessenen Kisten.
Mit neuen oder alten Motiven, Schnitten und Dekorationen ist die ”ie” ein vielseitiger Artikel, der zu verschiedenen Kleidungsstilen und Anlässen passt.
Die Bluse hat berühmte Modedesigner inspiriert und sie haben diese in ihre Kollektionen aufgenommen.
In den letzten Jahren hat die Popularität der ”ie” zugenommen und natürlich auch die Nachfrage, so dass sie mittlerweile auch in China maschinell hergestellt wird. Der Preis der so angebotenen Trachten ist durch die Serienproduktion mindestens zehnmal niedriger.
Herausforderung: Die eine ist handgenäht, die andere Made in China. Welche ist welche?
Durch die Bemühungen all derer, die den Wert und die Bedeutung der authentischen ”ie” verstanden, die Hunderte wertvolle "ie" genäht haben, die Zeugnisse, Studien und Dokumente gesammelt und gespendet haben, kam es zu einem Antrag für die Aufnahme der rumänischen Trachtenbluse in das UNESCO-Weltkulturerbe. Über den Antrag wird diesen Dezember entschieden.
Drei Generationen beraten sich. (Auf allen Bildern in diesem Artikel seht ihr unsere eigenen Trachtenblusen, unsere ”ie”.)
Nachtrag: Genau zum Nationalfeiertag am 1. Dezember 2022 fiel die Entscheidung: Die rumänische „Trachtenbluse mit altița“ wurde in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen.