”ie” – die rumä­nische Trachten­bluse


von Silvia Nedelea

Bluse mit Herzen
Damit es ein­facher wird, ver­wenden wir im Bei­trag das Wort ”ie”(sprich ihje) für die "rumä­nische Trachten­bluse".
Ich liebe die ”ie”!
Silvia als Kind mit Tracht
Die erste "ie" habe ich mit drei Jahren be­kommen.
Die Liebe zur "ie" ist mit der Zeit ge­wachsen.
Herz
Als ich die Tracht meiner Ur­groß­mutter (ca. 100 Jahre alt) sah, war ich von ihrer Schön­heit, ihrem Reich­tum und ihrer Hand­werks­kunst beein­druckt. Ich be­griff, wie schwer es war dies anzu­fertigen.
Silvia mit Tracht
Volks­tracht mit olte­nisch-munte­nischem Ein­fluss (Rumänien­advents­kalender 2014)
Meine Groß­mutter weiß vieles und jede Etappe hat ihre eigene Ge­schichte, von den in den Boden gesäten Flachs- und Hanf­samen, der Verar­beitung der Pflanze, der Her­stel­lung des Fadens, dem Weben des Stof­fes im Haus und dem Be­sticken der Bluse, dem Ver­zieren mit metal­lischen Schmet­terlingen (Pail­letten) und Glas­perlen. Es war eine Menge harter Arbeit. Tausende von Arbeits­stunden be­nötigte sie für eine "ie", die für die Feier­tage bestimmt war. Ihr wahrer Wert lässt sich nur schwer zu be­rechnen.
Uhren unsd Nadel
Silvia mit Oma und einer anderen Frau in Trachten
Von Oma können wir immer etwas lernen.
Das Glanz­stück der Volks­tracht ist die ”ie”. So wird die reich be­stickte Trachten­bluse, vor allem im Süden Rumä­niens, genannt.
Das Wort erinnert an den latei­nischen Namen für Leinen, „linum“, das Mate­rial, aus dem die direkt auf der Haut ge­tragene Bluse ge­fertigt wurde.
Der Schnitt ist ein­fach und sehr alt: vier Recht­ecke aus Stoff sind am Hals und manch­mal am Ärmel­saum ge­rafft. Die Stiche auf der ”ie” sind nicht nur deko­rativ, sie ent­halten Infor­mationen. Die ”ie” war eine Art Personal­ausweis und Wappen. Auf einen Blick konnte man er­kennen, aus welcher Gegend die Frau stammte, welchen so­zialen, ehe­lichen und wirt­schaft­lichen Status sie hatte.
Passport
Die Stich­muster sind sehr viel­fältig, die echte ”ie” ist einzig­artig. Es war ein Wett­bewerb der Geschick­lichkeit und Krea­tivität.
verschiedene Trachtenmuster
Beachtet die Fein­heit der Nähte, welche bei Kerzen­licht gemacht wurden.
Jeder ver­suchte seine eigene Kompo­sition zu schaf­fen, indem er Motive und Symbole in seinem persön­lichen Stil ver­wendete und inter­pretierte. Deshalb gibt es selten zwei Blusen mit iden­tischen Mustern.
Noten
Hier ein kleines Motiv- und Symbol­lexikon:
verschiedene Trachtenmuster
Die Wellen­bewegung symbo­lisiert den Lebens­weg, das Schick­sal.
Muster
verschiedene Trachtenmuster
Die Wolfs­zähne symbo­lisieren die Vertei­digung gegen das Böse.
Muster
verschiedene Trachtenmuster
Der Stern - Führer, Schicksal, Wahr­zeichen.
Muster
verschiedene Trachtenmuster
Das Kreuz - Frei­heit, Schutz, Glaube, Orien­tierung im Leben.
Muster
Nichts wird dem Zufall über­lassen. Alles folgt einer Reihe von Regeln, welche im Laufe der Zeit fest­gelegt wurden.
Der Ärmel, das sicht­barste und ver­zier­teste Element, spie­gelte das Uni­versum der Bauern wieder.
Auf der Schulter be­findet sich die ”altița” (altus steht im Latei­nischen für hoch, im oberen Teil des Ärmels), die den Him­mel dar­stellt. ”Altița” ist ein reich­haltiger Stich, beste­hend aus 5-7 hori­zontalen Bän­dern (die Him­mel - es gibt im Volks­glauben 9 Himmel), mit ab­strakten Moti­ven: Sonne, Luzi­fer, Kreuz, unter­brochene/wellige Linie, welche den Lauf der Sonne über den Him­mel symbo­lisiert.
Lauf der Sonne
Unter ”altița” be­findet sich die Falte (das kommt von "in Falten legen"; in alten Zeiten diente sie dem Falten des Ärmels). Die Falte reprä­sentiert die Erde. Sie ist ein breiter Streifen (3-6 cm) mit einem geome­trischen Muster, häufig mit weißem Faden auf Weiß oder in Gelb­tönen genäht, mit Motiven wie Raute, Säule, Wolfs­zähne.
Wolfsgesicht
Unter­halb der Falte (der Erde) be­finden sich die Flüsse in Form von verti­kalen oder schrägen Bän­dern. Ihr Muster wieder­holt sich auf der Brust und manch­mal auch auf dem Rücken. In der Regel unter­scheidet es sich von der ”altița” oder der Falte.
verschiedene Trachtenmuster
Wir ent­decken auch andere Symbole:
Haus mit Schnee
In einer Mischung aus Gottes­glauben und Aber­glauben, auch geprägt vom Wechsel der Jahres­zeiten, wurde die ”ie” genäht. Frauen arbei­teten be­sonders im Winter, vom frühen Morgen bis Mitter­nacht, wenn die bösen Geister zu Besuch kamen. Be­gleitet wurde das Nähen von dem Aus­sprechen be­sonderer For­meln, die der ”ie” ma­gische Schutz­kräfte ver­leihen sollen. Diese Schutz­kräfte sollen ihren Träger­innen in be­sonderen Momen­ten des Lebens helfen:
2 Frauen in Trachten
Fertig zum Tanzen sind die ge­schmückten Mädchen!
Dorf
Der Ur­sprung der ”ie” verliert sich im Nebel der Zeit. Die Bluse, die Leinen­tunika, die vor mehreren Jahr­tausenden ge­schaffen wurde, ent­wickelte sich, ver­änderte sich und wurde immer schöner in der Welt des rumä­nischen Dorfes und wurde zu diesem erstaun­lichen Klei­dungs­stück.
verschiedene Trachtenmuster
Bis ins 19. Jahr­hundert wurde die ”ie” nur auf dem Dorf ge­tragen. Sie war ein Symbol für die Frau vom Lande. In der zwei­ten Hälfte des 19. Jahr­hunderts begann die erste Köni­gin Rumäniens, Eli­sabeta, fas­ziniert vom Volks­handwerk, die rumä­nische Volks­tracht anzu­ziehen und beein­flusste damit die Klei­dung der Damen am Hof. Königin Maria, die ihr zu Beginn des 20. Jahr­hunderts folgte, war ihrer­seits beein­druckt von der Ele­ganz und Schön­heit der bäuer­lichen Fest­tags­kleider, über­nahm und för­derte sie, trug sie im All­tag und sogar bei Veran­staltungen der High Society. In kurzer Zeit wurde die "ie" hof­fähig.
Tracht mit Krone
gemalte Bilder zweier Frauen in Trachten
Königin Eli­zabeta und Köni­gin Maria, ge­malt von George Peter Healy bzw. Alber­tin Rupp­recht, Samm­lung des Natio­nalen Kunst­museums von Rumä­nien.
Wolle
Dadurch stieg die Nach­frage und es ent­standen Werk­stätten für Maß­anfertigungen. Die Stich­muster wurden immer realis­tischer (Blumen, Vögel), fast foto­grafisch. Die ”ie” wurde zu einem zu­nehmend deko­rativen, ästhe­tisch schönen Gegen­stand, der mit der gleichen Meister­schaft von den Händen der in die Stadt ge­brachten Bäuer­innen bear­beitet wurde.
Trachten
Durch die dama­ligen Eli­ten wurde sie im Aus­land be­kannt. Eine Reihe von Malern fand Inspi­ration in der rumä­nischen ”ie”.
gemalte Frau in Tracht
Henri Matisse – La Blouse Roumaine
Wolle
Zurück im Dorf fügten die Frauen neue Motive aus der Stadt hinzu. Die spiri­tuelle Be­deutung der Sym­bole ver­blasste, die Be­tonung wurde auf Rea­lismus ge­legt.
Trachten
Neue Modelle neben alten Symbolen - Widder­hörner, Energie, Mut, Aus­dauer.
Wolle
Nach dem Zweiten Welt­krieg ging ihre Popu­larität unter den sozi­alen und wirt­schaft­lichen Bedin­gungen der kommu­nistischen Zeit zurück. Nur wenige Frauen nähten noch für den Haus­halt, aber es gab Handwerks­genossen­schaften, die hand­genähte Klei­dung her­stellten und sich dabei so weit wie möglich an die Regeln der authen­tischen ”ie” hielten.
Tracht
Diese wurden in Souvenir­läden, haupt­sächlich an auslän­dische Tou­risten, ver­kauft. Selbst ein schein­bar arm­seliger Stich erfor­derte viele Arbeits­stunden und führte daher zu einem zu hohen Preis für den Durch­schnitts­bürger.
Kopf und Geld
In den 70er Jahren gab es eine kurze Hippie-Flower-Power-Zeit, als ge­blümte Hemden bei den jungen Leuten in der Stadt modern waren. So wurden die zwi­schen den beiden Welt­kriegen ge­nähten Trachten­blusen aus den Truhen der Groß­mütter heraus­geholt.
Trachten
Muster
Es folgten Jahr­zehnte des schein­baren Ver­gessens, aber lang­sam wurde die ”ie” wieder­entdeckt und so durch­stöberten wir erneut die verges­senen Kisten.
Trachten
Wolle
Mit neuen oder alten Motiven, Schnitten und Deko­rationen ist die ”ie” ein viel­seitiger Ar­tikel, der zu verschie­denen Kleidungs­stilen und An­lässen passt.
Trachten
Wolle
Die Bluse hat be­rühmte Mode­designer inspi­riert und sie haben diese in ihre Kollek­tionen aufge­nommen.
Trachten
Die Kreationen des Mode­hauses Yves Saint Laurent neben der rumä­nischen ”ie”
Made in China
In den letzten Jahren hat die Popu­larität der ”ie” zuge­nommen und natür­lich auch die Nach­frage, so dass sie mittler­weile auch in China maschi­nell herge­stellt wird. Der Preis der so ange­botenen Trachten ist durch die Serien­produktion mindes­tens zehn­mal niedriger.
Trachten
Heraus­forderung: Die eine ist hand­genäht, die andere Made in China. Welche ist welche?
Durch die Bemü­hungen all derer, die den Wert und die Bedeu­tung der authen­tischen ”ie” ver­standen, die Hun­derte wert­volle "ie" genäht haben, die Zeug­nisse, Studien und Doku­mente ge­sammelt und ge­spendet haben, kam es zu einem Antrag für die Auf­nahme der rumä­nischen Trachten­bluse in das UNESCO-Welt­kultur­erbe. Über den Antrag wird diesen Dezem­ber ent­schieden.
Unescosymbol
Trachten
Drei Genera­tionen be­raten sich. (Auf allen Bildern in diesem Artikel seht ihr unsere eigenen Trachten­blusen, unsere ”ie”.)
Herz
Wolle
Herz
Nachtrag: Genau zum National­feiertag am 1. Dezember 2022 fiel die Ent­scheidung: Die rumä­nische „Trachten­bluse mit altița“ wurde in das UNESCO-Welt­kultur­erbe aufge­nommen.
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