Eine Reise entlang der Strecke von Schäßburg über Agnetheln bis nach Hermannstadt im Spätherbst des Jahres 2000
von Andreas Mausolf
Es stellt ein eigenwilliges Unterfangen dar, von Schäßburg aus über Agnetheln nach Hermannstadt zu gelangen. Wer es eilig hat, nimmt einen anderen Weg. – Doch wir haben es nicht eilig, im Gegenteil. Wir wollen jene Strecke erkunden, auf der einst die Schmalspurbahn von Schäßburg nach Hermannstadt verkehrte. Zum Zeitpunkt unserer Reise konnten wir noch sicher sein, ihr in Agnetheln zu begegnen. Gut ein Jahr lang sollte sie damals noch zwischen der Marktgemeinde und Hermannstadt einmal am Tag hin und zurück verkehren. Noch ahnte niemand, dass im Herbst 2001 alles vorbei sein würde. Zur besseren Einordnung sind hinter den deutschen Ortsbezeichnungen hier noch einmal die rumänischen Namen vermerkt.
Unser Bericht entstammt ziemlich direkt dem Skizzenblock der Fahrt – eine entrückte Welt, scheinbar im Einklang mit Natur und bäuerlichem Alltag, kaum von offensichtlicher Hektik gezeichnet: Vielleicht lernt man auf diesen Wegen am ehesten jene Gegend kennen, in der einst die Schmalspurbahn bei den meisten für Fortschritt und Strukturwandel stand. Die Reiseeindrücke bieten so eine reizvolle Ergänzung zur Dokumentation der eigentlichen Bahngeschichte.
7:00 Uhr früh, Abfahrt aus der Mitte von Schäßburg, Hermann-Oberth-Straße – benannt nach dem großen Gelehrten, der hier in seiner Bergschulzeit erfolgreich Möglichkeiten zur Überwindung der Erdanziehungskraft entwickelte.
An dieser Ecke, in unmittelbarer Nähe zum Marktplatz, rauschte die „Wusch“ vom Bahnhof kommend und den Anstieg der Unteren Baiergasse oft gequält nehmend vorbei, nicht immer zur Freude der Anwohner. Der Qualm verfing sich bei entsprechender Witterung in den geöffneten Fenstern und blieb in der von höheren Häusern gesäumten Straße hängen. Ein altersschwacher Bus kommt herauf. Er ist vollbesetzt, denn bei der Hemdenfabrik beginnt die Frühschicht.
Wir begeben uns auf den Weg, den die Schmalspurbahn aus der Stadt nahm, kommen an der Bahn-Brücke über den Schaaserbach vorbei, die noch steht und als Fußweg dient. Dann passieren wir die Endstelle des Stadtbusses.
Bereits kurz darauf umgibt uns die kaum besiedelte Hügellandschaft, über die äußerst langsam das Licht der im Aufgehen begriffenen Wintersonne herauf kriecht. An einigen Stellen in den Tälern hat sich der Nachtnebel verfangen, aus einzelnen Gehöften steigt Rauch aus den Schornsteinen auf. Nach gut einer Viertelstunde erreichen wir Schaas mit der rumänischen Bezeichnung Şaeș und fahren in der Ortsmitte am ehemaligen Stationsgebäude der Schmalspurbahn vorbei. Es herrscht bereits viel Bewegung auf der Hauptstraße, wir sehen den Atem der am Fahrbahnrand auf eine Mitfahrgelegenheit wartenden Menschen.
Bis 1965 wussten hier Wartende noch, dass in Kürze die Kleinbahn aus Schäßburg kommen würde, heute ist auch ein Pferdefuhrwerk als Fahrgelegenheit angenehm…
Weiter geht es nach Trappold, rumänisch Apold. Bis hierher fährt etwas häufiger ein Bus. Unterwegs begegnen uns Pferdefuhrwerke, Menschen alleine zu Fuß, einige mit geschultertem Werkzeug auf dem Weg zur Arbeit auf den Feldern, die auch im November nicht ruht.
Wir fahren weiter und kommen zu jenem Abschnitt der ehemaligen Bahnstrecke, der beim Bau die meisten Schwierigkeiten bereitete. Zwischen Trappold und Henndorf, rumänisch Bradeni, erkennen wir ohne Schwierigkeiten, wie sehr die Starkregen seinerzeit in dieser Landschaft Bauarbeitern und Baufortschritt zugesetzt haben müssen.
Die Steigung nimmt zu, die Sonne drängt sich an den Horizont. Heute befindet sich am höchsten Punkt dieses Abschnitts die Kreisgrenze zu Hermannstadt. Das beeindruckende Fogarasch-Gebirgsmassiv taucht vor uns auf, vorgelagert kleine Hügelketten. Einige einsame Radfahrer sind auf dem Weg in Richtung Agnetheln, das noch etwa 20 Kilometer entfernt liegt. Wieder überholen wir – äußerst vorsichtig natürlich – Kavalkaden von Fuhrwerken, Fohlen laufen neben den Zugpferden. Zwischendurch weidende Pferde neben der Landstraße, der gebunkerte Mais säumt die Straße und die Sonne beginnt die Eingänge der Gehöfte zu bescheinen.
Wir sehen bereits die Kirche von Neithausen, rumänisch Netuș, davor der kleine Bahnhof – heute eine Tagesbar. Auf dem Hauptplatz sehen wir einige zerfallende Häuser neben schön herausgeputzten. Die Pferde vor den Fuhrwerken schnauben, warten ungeduldig auf die Abfahrt. Die Straße führt kurvenreich weiter, Schafherden stehen bewegungslos in den Hängen. Die Kälte dieser Nacht hat Bäume und Büsche mit einer filigranen Glitzerschicht überzogen.
Wir fahren am verlassenen Empfangsgebäude von Roseln, rumänisch Ruja vorbei, bevor wir die scheinbar unendliche Weite vor Agnetheln durchqueren. Die Sonne taucht die Hügel in ein sanftes Licht und lässt ihren niedrigen Bewuchs wie das Fell eines übergroßen, liegenden Tieres erscheinen.
Die Landstraße wird zur Strada Avram Iancu, benannt nach dem großen rumänischen Rechtsgelehrten und Revolutionär, den jede größere Stadt auf diese Weise ehrt, und das nahezu städtische Leben von Agnetheln beginnt uns zu ergreifen. Bis hierher benötigte der Frühzug der Schmalspurbahn laut erstem Fahrplan vom November 1898 drei Stunden und 43 Minuten, zwei Jahre später ging es mit drei Stunden und 16 Minuten schon etwas schneller!
Wir durchfahren Agnethelns Hauptstraße, in der die Kleinbahn einst mit dreimaligem Seitenwechsel seitlich vor den Häusern verkehrend, regulärer Bestandteil des städtischen Gefüges war. Bis 1969 war es nach Einstellung des Schäßburger Astes noch möglich, die Marktgemeinde mit der Schmalspurbahn zu durchfahren. Dann fiel auch dieser Abschnitt dem Abriss zum Opfer.
Wir passieren kleine Hotels, Gaststätten, am Markt das einstige Hotel „Zur Agnetha“ und stellen fest, dass auch hier der Pkw-Verkehr teils chaotische Formen angenommen hat. Dazwischen immer wieder Pferdefuhrwerke und überfüllte Lastwagen in gefährlich wirkender Schieflage.
Weit hinter dem Ende der Ortschaft entdecken wir linkerhand auf dem Weg nach Hermannstadt abgestellte Güterwagen und einen niedrigen Zweckbau: Das Bahnhofsgebäude von Agnetheln, wobei man den Eindruck gewinnt, es gehöre schon zur nächsten Ortschaft! Es ist bereits besetzt! Auch wenn der Zug noch lange nicht erwartet wird.
Ein Ärgernis bildet die Tatsache, dass uns mehrere Busse mit dem Richtungsanzeiger „Sibiu – Agnita“ entgegen kommen. Sie seien billiger, würden öfter fahren und seien noch dazu schneller, wird uns vom Stationsvorstand mit Bedauern erläutert.
Uns wird einmal mehr deutlich, dass es hier gar nicht darum geht, ein Verkehrsmittel, das ökologisch klar im Vorteil ist, auch entsprechend anzubieten und zu einem verlässlichen Bestandteil der regionalen Infrastruktur zu machen. Die vielschichtigen Erklärungen für das Missverhältnis zwischen Schiene und Straße beschäftigen uns hier nicht zum ersten Mal!
Unser Zug – so hören wir vom Stationschef in Agnetheln – ist pünktlich um 8:05 Uhr in Hermannstadt abgefahren. Das bedeutet, wir haben genügend Zeit, ihm bis Härwesdorf, dessen rumänischer Name Cornăţel lautet, entgegenzufahren und in der Nähe einen schönen Fotostandpunkt auszusuchen.
Wir fahren weiter und sehen zunächst einmal nichts mehr von unserer Strecke. Hinter Agnetheln verläuft sie weit von der Straße entfernt. Auf den Feldern ist hier noch niemand bei der Arbeit, Menschen sind kaum auf der Straße unterwegs.
Auf dem Scheitel eines Hügels ist eine endlos erscheinende Kette von Schafen zu sehen. Bei Bägendorf (Benești) haben wir die Bahnlinie wieder erreicht. Erneut taucht linkerhand das Fogarasch-Massiv mit seiner beeindruckenden schroffen Gipfelkette – meistens schneebedeckt – auf.
Auf der weiteren Fahrt wird es den Eindruck der Landschaft immer wieder prägen. Die Gipfel scheinen durch eine schmale, aber kontrastreiche Nebelschicht vom Fuß des Gebirges getrennt – eine gespenstige Ansicht! Rechterhand von uns stehen große Schafherden noch im Gatter. Die Silhouette der Kirchen von Alzen (Alţîna) taucht auf, die Wäsche neben den Häusern am Ortseingang ist gefroren.
Alte Männer ziehen kleine Handwagen mit Milchkannen, ansonsten sind die Straßen leer. Alzen hat einen hübschen kleinen Bahnhof, idyllisch hinter den Häusern gelegen. Trotz des kalten Morgens sitzen bereits ältere Menschen vor den Häusern. Ob sie ans Reisen mit der Bahn denken, vielleicht noch an jene Zeiten, als sie hier mehrmals am Tag vorbeifuhr? Viele der Bewohner dieser kleinen Orte erzählten uns immer wieder, sie seien nur selten mit dem Zug gefahren – es sei eigentlich nie Zeit dafür gewesen!
Wir fahren weiter, passieren Leschkirch (Nocrich) und kommen nach Holzmengen (Hosman), einem zierlichen Ort mit einer sehenswerten Kirchenburg, alles vom Fogarasch-Gebirge – der Moldoveanu, sein höchster Gipfel, misst 2.544 Meter Höhe – in einiger Entfernung überragt.
Dann fahren wir in Härwesdorf (Cornaţel) ein, wo noch immer die Flügelbahn nach Burgberg (Vurpӑr) abzweigt. Doch befahren wird sie schon lange nicht mehr. Wir haben uns Zeit gelassen, auf unserem Weg hierher. Haben immer wieder angehalten und den Blick auf das Gebirge genossen.
Nun ist es bald soweit, dass unser Zug aus Hermannstadt in Hörweite kommen müsste. Wir haben noch kurz Gelegenheit, die Bahnmeisterei-Draisine, die hier stationiert ist, in Augenschein zu nehmen und dann hören wir ihn: Das Horn immer wieder betätigend, nähert sich „unser“ Schmalspurzug.
Wir sind ein wenig weiter in Richtung Hermannstadt gefahren und haben uns einen idealen Fotostandort ausgesucht: Der Zug kommt und scheint bis auf den letzten Platz besetzt zu sein!
Die Diesellok blankgeputzt, ein Heizwagen und drei Personenwagen – das ist schon der ganze Zug. Da er in gemächlicher Fahrt Härwesdorf ansteuert, können wir ihn überholen, um im Bahnhof und dessen Umgebung noch das eine oder andere Foto einrichten zu können.
Um Viertel nach neun soll der Zug dort sein – das dürfte passen! Er verlässt den Bahnhof pünktlich, als wir schon ein wenig weiter in Richtung Agnetheln auf ihn warten.
Bemerkenswertes passiert, als der Zug auf die gerade Strecke einschwenkt. Wir haben den Landwirt nicht bemerkt, der plötzlich aus den Weiten des Raumes auftaucht und eben noch vor dem herannahenden Zug eine Jungstier-Herde über die Gleise treiben will.
Offenbar lassen sie sich nicht mehr stoppen und so passiert es: Der Lokführer betätigt das Signalhorn im Dauermodus, Anstalten anzuhalten braucht er nicht mehr zu unternehmen, das würde nichts mehr nützen.
Radfahrer und Pferdefuhrwerke haben auf der Straße angehalten, um ebenfalls dem Schauspiel beizuwohnen. Es sind keine dreißig Meter mehr zwischen der Lok, dem letzten über die Gleise stolpernden Stier und dem hinterdrein trabenden Landwirt! Dann rauscht der Zug über den völlig ungesicherten Bahnübergang: Lokführer und Bauer würdigen einander keines Blickes!
Für uns heißt es an diesem Vormittag Abschied nehmen von der Schmalspurbahn, die nun wieder gemächlich das Signal ertönen lässt und in Richtung Holzmengen und Agnetheln am Horizont verschwindet.
Wir fahren weiter in Richtung Hermannstadt. Kurz hinter Härwesdorf geht die Bahnstrecke „eigene Wege“ und trifft bei Moichen (Mohu) bald auf die Hauptstrecke der CFR nach Râmnicu Vâlcea bzw. Kronstadt (Brașov), die zwischen Moichen und Hermannstadt für die Mitbenutzung der Schmalspurbahn dreischienig ausgeführt ist.
Es ist nur noch eine kurze Pkw-Fahrt, bis Hermannstadt vor uns im Tal liegt. Wir freuen uns auf den Rückweg, den wir nach unserem Besuch wieder entlang der Schmalspurbahn nehmen werden.
Nachdem unsere Verabredung in Hermannstadt beendet ist, brechen wir gegen drei Uhr auf. Gegen 16:00 Uhr wollen wir den nachmittäglichen Rückzug, der Agnetheln um 15:20 Uhr verlässt, in Alzen für ein paar Fo­ ;tos erwarten. Das gelingt und wir beschließen, ihm bis Holzmengen zu folgen. Ein Bild vor der Kirchenburg im Abendlicht ist reizvoll – mal sehen, ob es funktioniert! Er kommt spät dort an, wahrscheinlich einige unerwartete Halte, vielleicht wieder Jungstiere, wer weiß!
Das Licht ist inzwischen derartig schwach geworden, dass ich am Erfolg des Bildes zweifle! Recht schnell für die Schmalspurbahn setzt der Lokführer dann seine Fahrt nach Hermannstadt fort, dort möchte er dann doch pünktlich ankommen!
Ein Betriebstag der letzten Schmalspurbahn der CFR geht langsam dem Ende entgegen, als der Zug im verblassenden Abendrot in Richtung Hermannstadt im Dunst verschwindet.
Das Buch "Kleinbahn im Karpatenbogen" zeichnet die Geschichte der Schmalspurbahn von Schäßburg über Agnetheln nach Hermannstadt (Sighisoara - Agnita - Sibiu) von der Vorgeschichte und ihrer Eröffnung im November 1898 bis zum Ende des regulären Betriebs im Herbst 2001 nach. Zunächst verkehrte die Kleinbahn nur bis Agnetheln, von 1910 an dann bis Hermannstadt. Auf dem Abschnitt Schäßburg - Agnetheln erfolgte bereits 1965 die Stilllegung, sodass fortan nur noch zwischen Agnetheln und Hermannstadt Betrieb stattfand. Dessen Fahrplan erfuhr ab den 1980er Jahren eine kontinuierliche Ausdünnung, die im Herbst 2001 schließlich ohne Ankündigung in der Einstellung mündete. Das Buch geht auch auf die Aktivitäten eines international besetzten Vereins ein, dem es zu verdanken ist, dass bereits auf sieben Kilometern der Strecke gelegentlich wieder Sonderzüge fahren können. Unter folgenden Internetadressen kann man sich über aktuelle Vereinsaktivitäten und den Stand der Arbeiten informieren: www.die-wusch.de, www.sibiuagnitarailway.com sowie bei Facebook.