Schon seit einigen Jahren verbringe ich im Herbst mit Freunden oder mit meiner Lebensgefährtin ein bis zwei Wochen in Rumänien. Das Ziel bzw. die genaue Reiseroute wird in der Regel erst kurzfristig anhand der Wetterprognosen festgelegt. Im Oktober kann im Hochgebirge manchmal schon Schnee liegen. Bei unbeständigem Herbstwetter sind Täler besser für mehrtägige Wanderungen mit Zelt geeignet.
2022 war ich in der ersten Oktoberhälfte zusammen mit meinem Freund Robert im Trascău-Gebirge unterwegs. Wir fuhren mit der Bahn über Wien zunächst bis Budapest. Nach einem kurzen Aufenthalt setzten wir unsere Reise im Nachtzug „Corona“ weiter nach Rumänien fort.
Am folgenden Vormittag fuhren wir mit einem Taxi vom Bahnhof Câmpia Turzii zu dem am Stadtrand von Turda gelegenen Salzbergwerk (Salina Turda). Der Salzabbau ist vor mehr als 90 Jahren aufgegeben worden und heute werden die gewaltigen Hohlräume als Schauanlage und „Funpark“ genutzt. Es gibt dort eine Bühne für Kulturveranstaltungen, einen Spielplatz, ein Riesenrad und sogar einen See mit Ruderbootverleih.
Nach der Besichtigung der auf uns sehr unwirklich wirkenden unterirdischen Welt begann die eigentliche Wanderung. Nach einem längeren Marsch durch überwiegend bebautes Gelände erreichten wir schließlich den Eingang zur Schlucht Cheile Turului. Dieser folgten wir talaufwärts bis Tureni und liefen anschließend weiter Richtung Süden. Oberhalb der Schlucht Cheile Turzii zelteten wir in der ersten Nacht.
Am nächsten Morgen war es wieder sehr sonnig. Nur in den Tälern gab es Nebel. Nach dem Zusammenpacken stiegen wir in die Cheile Turzii ab und wanderten in dem tief eingeschnittenen Tal zum Arieș-Fluss. Seit unserer Pause am Zeltplatz bei Petreștii de Jos waren wir zu dritt unterwegs. Es hatte sich uns ein großer Schäferhund angeschlossen. Für mich war es in Rumänien natürlich nicht das erste Mal, dass auf einer Tour ein umherziehender „Wanderhund“ dabei gewesen ist. Manchmal kommt so ein Hund nur ein gewisses Stück mit und kehrt um. In diesem Fall war es nicht so. Begeistert darüber waren wir nicht. Da man oft für den Hundebesitzer gehalten wird, trägt man somit für das Tier eine gewisse Verantwortung.
Am Nachmittag konnten wir in Moldovenești die Lebensmittelvorräte ergänzen. Danach liefen wir weiter in Richtung Rimetea. Am nächsten Vormittag wurde unser vierbeiniger Begleiter zunehmend übermütig. Besonders große Freude bereitete ihm das Jagen von freilaufenden Rindern. Wir fanden diese Situation alles andere als lustig, denn eine in Panik geratene Kuh hätte unter ungünstigen Umständen eine der steilen Felswände herabstürzen können. Nachdem wenig später noch ein entgegenkommender Wanderer von dem Hund angesprungen wurde, machten wir unserem Begleiter unmissverständlich klar, dass unsere gemeinsame Tour ab sofort beendet ist.
In dem idyllisch gelegenen Ort Rimetea blieben wir zwei Tage. Im Ortszentrum mieteten wir uns ein Zimmer. Im Sommer gibt es hier anscheinend viele Feriengäste. Aber inzwischen war schon Nebensaison und alle gastronomischen Einrichtungen hatten geschlossen. Während unseres Aufenthaltes unternahmen wir eine Tagestour ins Nachbardorf Colțești und besichtigten dort die Burgruine. In Colțești konnten wir sogar ein geöffnetes Restaurant finden.
Von Rimetea setzten wir unsere Wanderung Richtung Südwesten fort. Es war ein ziemlich kalter und nebliger Tag. Unsere Route führte im Wechsel durch ausgedehnte Laubwälder und über Wiesen. Ständig waren Höhenunterschiede zu bewältigen. Gegen Mittag liefen wir in einem Tal auf einem schon lange nicht mehr befahrenen Forstweg bergauf. Robert - fast 20 Jahre jünger als ich - war schneller als ich und musste mehrfach auf mich warten. Ich schlug deshalb vor, dass es vielleicht besser ist, wenn jeder sein eigenes Tempo geht und wir am Ende der Steigung dann eine gemeinsame Mittagspause einlegen.
Etwa fünf Minuten später hörte ich im Wald rechts hinter mir etwas rascheln. „Es wird wohl ein von mir erschrecktes Tier sein, welches jetzt wegläuft ...“ dachte ich kurz. Allerdings kamen zu meiner Verwunderung die Geräusche schnell näher und wurden immer lauter. Ich drehte meinen Kopf nach rechts und sah auf einmal im dicht bewachsenen Unterholz schemenhaft zwei (vielleicht waren es auch drei) auf mich zu rennende junge Bären.
Nun hatte ich in Rumänien bisher schon mehrfach frische Spuren oder Kot von Braunbären entdecken können. Auf der Tour im Jahr zuvor musste, zumindest nach den Geräuschen zu urteilen, sich in der Nähe des Weges ein Bär im Wald aufgehalten haben. Aber jetzt war die Situation deutlich dynamischer und eigentlich nur eine Folge von wenigen Augenblicken. Zuerst bin ich von dem Anblick der Bären unheimlich fasziniert gewesen und sofort kam mir der Gedanke, ob und wie ein Foto von den Tieren möglich ist. Allerdings war diese Idee völlig unrealistisch, denn so lange die Bären sich im dunklen Gebüsch schnell bewegen, tendiert die Chance auf ein gutes Bild gegen Null. Dann überlegte ich kurz, ob ich Robert vielleicht über die Anwesenheit der Bären informieren sollte. Aber wahrscheinlich war er schon mehrere hundert Meter entfernt von mir.
Unverändert kamen die Bären im hohen Tempo auf mich zu und der Abstand hatte sich inzwischen auf weniger als 10 m reduziert. Einem davon konnte ich direkt in die dumpf blickenden Augen schauen. Nun wollte ich reagieren und mit einem lauten kernigen Schrei auf mich aufmerksam machen. Ich konzentrierte mich - der Schrei sollte nicht zu aggressiv und auf keinen Fall panisch wirken - und brüllte los. Die Reaktion der Bären hätte eigentlich nicht heftiger ausfallen können. Sie machten sofort auf der Stelle kehrt und flüchteten mit einer wesentlich höheren Geschwindigkeit zurück in den Wald. Laut zerbrachen Äste, aber diese Geräusche wurden schnell leiser und danach war wieder alles ruhig.
Ich hatte durch den Schrei jedoch nicht nur die Bären, sondern auch Robert heftig erschreckt. Er kam mir entgegen gelaufen und fragte, was los ist. Als ich ihm die Begebenheit schilderte, erklärte er mir, dass er an dieser Stelle ebenfalls ein Stück entfernt im Wald ein Rascheln gehört hat.
Auch heute denke ich manchmal noch an diese Begegnung. Eigentlich handelte es sich um ein eher untypisches Verhalten von Braunbären. Wie hätte sich die Situation entwickelt, wenn ich einfach ruhig auf dem Weg stehen geblieben wäre? Wollten die Bären mich lediglich neugierig aus der Nähe betrachten und beschnuppern oder mit mir eventuell etwas „Lustiges“ spielen? Gern hätte ich gewusst, ob das Muttertier in der Nähe gewesen ist oder es eine vorübergehend selbstständig lebende Gruppe von Junggesell(inn)en war.
In der zweiten Tageshälfte kamen wir an einigen Bauernhäusern vorbei. Ein großer Teil davon war unbewohnt und dem Verfall preisgegeben. In den letzten 35 Jahren soll die Bevölkerung im Trascău-Gebirge um 75 % zurückgegangen sein. Es sind immer weniger Menschen bereit, in dieser abgeschiedenen und rückständigen Region ein einfaches und entbehrungsreiches Leben auf einem Bergbauernhof zu führen.
Nachdem wir in der Nähe der Siedlung Valea Poienii die Nacht im Zelt verbrachten, liefen wir am nächsten Vormittag in das nicht viel größere Brădești weiter. Dort gab es sogar ein kleines Lebensmittelgeschäft. Leider wollte oder konnte uns der Ladeninhaber nichts verkaufen. Nicht einmal Brot war erhältlich. In einem Regal entdeckten wir einige Flaschen Bier, selbst diese waren unverkäuflich. Anscheinend bestellen die Dorfbewohner ihre gewünschten Produkte im Voraus und holen sie erst nach Anlieferung ab. Das Einzige, was wir bekamen, war im Pappbecher zubereiteter Instantkaffee.
Am frühen Nachmittag kamen wir im oberhalb der Schlucht Cheile Râmețului gelegenen Cheia an. Heute sind fast alle Häuser in dieser Gemeinde verlassen und es gibt nur noch vier ständige Bewohner. Als wir vor über 20 Jahren dort waren, existierten noch Bauernhöfe mit Ackerbau. Während der Sommermonate kommt für kurze Zeit etwas mehr Leben in das tiefe Tal. Der nur zu Fuß oder mit dem Pferd erreichbare Zeltplatz wird dann von zahlreichen Wanderern frequentiert. Aber im Spätherbst ist kaum noch was los, wir hatten die gesamte Zeltwiese für uns allein. Im Winter ist das Leben in Cheia eine echte Herausforderung. Wenn es sonnig ist, wird nur der obere Teil der Berghänge beschienen. Unten im Tal bleibt es dunkel, kalt und unheimlich feucht. Als wir uns abends am Feuer wärmten, war es am Rücken durch die feuchte Kälte sehr unangenehm. Ich konnte mir aber einen gut isolierenden Schafspelz ausleihen und danach wurde der Abend richtig gemütlich.
Am folgenden Tag unternahmen wir eine Rundwanderung. Es war äußerst angenehm, nur mit leichten Rucksäcken zu laufen. Wir gingen zuerst die Cheile Râmețului flussabwärts. Ein richtiger Weg ist in dieser Schlucht nicht vorhanden. Mehrfach mussten wir im Wasser laufen. Vor einigen Jahren sind einige Passagen durch Tritthilfen am Felsen entschärft worden. Zuvor konnten diese Abschnitte nur im brusttiefen Wasser zurückgelegt werden.
Vom unteren Ende der Schlucht wanderten wir über Tecșești weiter auf den 1233 m hohen Berg Piatra Cetii. Es handelte es sich dabei um den höchsten Punkt auf unserer Tour. Von dort ging es über Dealu Geoagiullui zurück nach Cheia.
Die letzte Etappe führte uns wieder durch die Cheile Râmețului flussabwärts. Wir nahmen dieses Mal den am oberen Talhang entlang führenden Pfad. Das stellte sich ebenfalls als eine spannende Angelegenheit heraus. Es gab unterwegs mehrere teilweise recht ausgesetzte Kletterstellen, welche mit schweren Rucksäcken etwas herausfordernd sind. Am Kloster Râmeț endete unsere Wanderung. Bevor der Bus nach Teiuș abfuhr, hatten wir noch etwas Zeit für eine Klosterbesichtigung. Von Teiuș ging es wenig später mit dem Zug weiter nach Cluj-Napoca. Die Abendstunden verbrachten wir in dieser pulsierenden Großstadt, für uns ein krasser Gegensatz zu den letzten Tagen im einsamen Trascău-Gebirge.
Am allerletzten Tag unserer Reise fuhren wir in das von Cluj-Napoca nicht weit entfernte Aghireșu. Unter anderem fotografierten wir in der Umgebung dieses Ortes mehrere Züge. Seit einigen Monaten ist die Eisenbahn von Cluj-Napoca nach Oradea wegen Bauarbeiten außer Betrieb. Im Moment wird diese Linie komplett saniert, modernisiert und auf elektrischen Zugbetrieb umgestellt.
Die mechanische Sicherungstechnik wird auf der gesamten Strecke vollständig durch elektronische Stellwerke ersetzt.