Der Bärentanz


von Silvia Nedelea

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Ich möchte euch etwas erzählen, das mir sehr leben­dig in Erin­ne­rung ist.
Ein kleines Mädchen sitzt allein im Wohn­zimmer ihrer Groß­mutter, um­geben von dem Duft von Feier­tags­kuchen (Cozo­nac), der frisch aus dem Ofen kommt, Kuchen, den sie am ers­ten Tag nur mit Nase und Augen ge­nießen darf, nicht mit dem Mund.
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In der kleinen Küche backen Mutter und Groß­mutter Feier­tags­kuchen für Weih­nachten. Hier möchte das Mädchen eigent­lich sein und die bei­den bei dieser Tätig­keit unter dem Tisch hockend beo­bachten, wo es kühler ist. In der Küche ist es jetzt wär­mer als im Sommer, denn der Kuchen braucht Hitze, um auf­zu­gehen und locker zu werden. Die Kuchen war­ten auf den Blechen artig und paar­weise da­rauf, um zum Backen in den Ofen ge­scho­ben zu werden. Dabei liegen einige hoch oben auf dem Schrank, andere auf dem Tisch oder auf dem Hocker unter dem Tisch. Oma hat sie so hin­gelegt, dass sie der Reihe nach auf­gehen können.
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Mutter knetet den Teig in einer so großen Schüssel, dass sogar das kleine Mädchen hinein­passen würde, wenn es sich zu einer Kugel zu­sammen rollen würde. Leider wurde sie schnell aus der Küche raus­ge­worfen und sitzt jetzt allein im Wohn­zimmer und wartet darauf, dass Oma endlich den Napf­kuchen raus­bringt, den sie immer vor dem Cozo­nac bäckt. Und das Schönste daran ist, dass man diesen schon heute essen darf. Doch bis da­hin muss sie ge­duldig sein und auf­passen, dass sie keinen Un­fug macht.
Kuchen
Cozonac von Oma und Mutti gebacken
Sie kennt Omas Woh­nung gut, aber es gibt immer wieder neue Orte zu ent­decken. Da wären zum Bei­spiel der Schrank in Omas Zimmer mit der Kiste voller bunter Woll­knäul.
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Es ist ein düsterer Tag und es könnte schneien. Draußen sind rhyth­mische Ge­räusche zu hören. Auch ges­tern hat sie diese schon ge­hört, aber da waren sie leiser. Jetzt kommen diese Klänge näher, es wird immer lauter und nun sind auch Stim­men und Pfiffe zu hören. Rasch klettert sie auf den Stuhl am Fenster, um nach draußen schauen zu können. Von der zweiten Etage aus kann sie den ge­samten Bereich zwischen den kleinen Wohn­blöcken über­blicken. Der Lärm wird immer lauter.
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Schließlich erscheint eine Reihe in weißen Trach­ten ge­klei­deter Männer zwischen den Ge­bäuden, mit großen Trom­meln, die wie riesige, runde Ta­bletts aus­sehen, die sie mit einem Stock schla­gen, auf dem so etwas wie eine kleine Kugel steckt. Die Trommler haben einen großen Kreis ge­bildet, in dem Bären auf zwei Beinen tanzen! Die Bären tragen große rote Quas­ten an den Ohren, schütteln den Kopf und schiessen Purzel­bäume! Auch kleine Bären sind da­bei, sowie ein alter Mann und eine alte Frau, bucklig und häss­lich ge­kleidet.
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Die Bären scheinen auf die weiß gekleideten Menschen zu hören, die je­weils einen mit bunten Bän­dern und Glöck­chen ver­zierten Stock tragen, den sie im Rhyth­mus des Tanzes läuten lassen. Sie rufen etwas, aber die Worte sind un­ver­ständlich. Der Lärm wird ohren­be­täu­bend und die Nach­barn kommen neu­gierig an die Fenster. Auch Mutter und Groß­mutter hören mit dem Kneten auf. Die Bären drehen sich im Kreis und zu den Trom­meln sind gleich­zeitig Flöten, Rasseln, Glocken und Rufe zu hören.
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Wenn die Musik aufhört, wirft jeder Bär seinen Kopf zurück und aus seinem Fell kommt der Kopf eines Mannes zum Vor­schein, ver­schwitzt und mit rotem Gesicht! Wieso das? Steckt in dem Bär ein Mensch?!
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Jetzt hört man auch den Wunsch „Ein glück­liches neues Jahr!“, die Zu­schauer werfen Süßig­keiten und Geld aus den Fens­tern. Danach zieht die Gruppe im Rhyth­mus der Trom­meln weiter.
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Mutter und Großmutter machen sich wieder an die Arbeit in der Küche und auf dem Platz zwischen den Wohn­blöcken zieht wieder Stille ein. Aber in der Seele des klei­nen Mäd­chens herrscht ein Wirbel­sturm von Ge­fühlen und in ihrem Kopf eine Lawine von Fragen, die sie jetzt nie­man­dem mehr stellen kann und deren Ant­worten sie erst im Laufe der Jahre heraus­finden wird.
Ich habe die Bärengruppen in meiner Kind­heit öfter ge­sehen und er­fahren, dass sie hoch aus dem Norden Rumä­niens hun­derte Kilo­meter nach Buka­rest reisen, um dort von Haus zu Haus zu gehen und den Men­schen ein glück­liches Weih­nachten zu wün­schen. Es ist ein uralter Brauch, be­son­ders in der Moldau und der Buko­wina. Dort ziehen sie zu Weih­nachten und Neu­jahr mit Weih­nachts­lie­dern von Dorf zu Dorf. Die Gruppen sind groß, be­stehen manch­mal aus Dut­zenden von Menschen jeden Alters, Kinder, Frauen und Männer. Sie haben fest­ge­legte Rollen und stellen Bären, Trommler, Pfeifer, Komman­danten, alter Mann, alte Frau und andere Figuren dar. Vor Weih­nachten treffen sie sich, proben, üben ihre Instru­mente und be­rei­ten ihre Kos­tüme vor.
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Während der kommunistischen Zeit in Rumänien war dieser Bauch immer weniger ver­breitet. Später wurden dann die Feier­tage und be­lieb­ten Winter­bräuche neu inter­pre­tiert und als Lob­lied auf die Regie­rung ge­nutzt. Nach dem Um­sturz wurden die alten Tra­di­tio­nen lang­sam wieder zum Leben er­weckt. Der Besuch von Weih­nachts­sän­gern ist zu einem Moment der Freude und des Stolzes ge­worden. Die Tänzer und Sänger fanden sich wieder zusam­men und die Bären­felle wur­den aus den Kisten her­vor­ge­holt, in denen sie sorg­fältig auf­be­wahrt worden waren. Die Bären waren wieder zum Leben er­weckt.
maskierte Menschen auf einer Straße
Das Singen der Weihnachtslieder von Haus zu Haus soll böse Geister ab­wehren, Ge­sund­heit und Wohl­stand bringen. Dieser Brauch hat seine Wurzeln in der ur­alten Ver­ehrung der Bären. Impo­sant, stark, unvor­her­sehbar, aber auch ruhig, gleich­gültig und schwer­fällig, mit lang­sa­men Bewe­gungen, wie die eines alten Mannes, wird er liebe­voll Meister Petz (rum: Moș Martin) ge­nannt. In ihm sollen die Geis­ter der Vor­fah­ren wohnen, die zurück­ge­kehrt sind, um über die Nach­kommen zu wachen.
Der Bär ist mit schüt­zenden Tugen­den aus­ge­stattet, die mit den Schick­sals­feen eine Ver­bin­dung auf­nehmen (dies sind Geister, die das Schick­sal von Kin­dern nach ihrer Geburt be­stimmen, rumän­isch „ursi­toare“, ab­ge­leitet vom Wort „urs“, Bär). Es herrscht der Glaube, dass ein neu­ge­bo­renes Kind, wenn es mit Bären­fett ge­salbt wird, Glück haben, vor Krank­heiten ge­schützt sein und groß und ge­sund werden wird.
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Der Bär soll auch Heilkräfte haben. Oma erzählte mir vom „Bären­tritt“. In ihrer Kind­heit zogen Bären­domp­teure mit leben­den Bären durch Dörfer und über die Jahr­märkte, be­son­ders im Sommer. Der Bär lief an einer Kette, die Hunde bellten und der Lärm brachte das ganze Dorf auf die Beine. Die Leute ver­sam­melten sich um den Domp­teur und die Vor­stel­lung be­gann. Der Bär stand auf zwei Beinen und tanzte. Die Auf­füh­rung sollte das Publi­kum da­von über­zeugen, dass der Bär auf den Domp­teur hört und das macht, was man ihm sagt, damit sie sich von ihm be­han­deln lassen. Es wurde an­ge­nommen, dass Rücken­schmerzen be­son­ders im Len­den­be­reich ver­schwinden, wenn der Bär einem auf den Rücken tritt. Wer sehr von Schmer­zen ge­plagt und ein wenig Mut auf­brachte, ließ sich gegen Be­zah­lung durch den Bären be­han­deln. Von den Zu­schauern er­mutigt, legte der Pa­tient sich auf den Bauch und der Bär trat mit seinen Pfoten leichter oder stärker auf den Rücken des Mannes, so wie es der Dompteur vor­gab oder aber danach, wie die zu be­han­delnden Person auf­schrie.
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Die tiefe Verbindung zwischen Mensch und Bär, eine Kom­bi­nation aus Res­pekt und Be­wun­de­rung, ist tief in unserem Unter­be­wusst­sein ver­wurzelt. Auf der einen Seite fürch­ten wir ihn, aber gleich­zeitig ver­ehren wir ihn auch und er be­gleitet uns auf viel­fäl­tige Art und Weise ab den ersten Tagen un­seres Lebens. Sein Bild findet sich auf Win­deln, Saug­flaschen, Klei­dung. Schoko­lade, Eis, Gummi­bären gibt es in Bären­form, in der Um­ar­mung eines Teddy­bären schläft man schneller ein. Der Bär ist eine Figur in Märchen, Filmen, Liedern ...
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... und es gibt im Rumänischen viele weise Sprich­wörter: Es ist „seit der Bär einen Schwanz hatte“ be­kannt, dass man nichts Be­son­deres macht, wenn man „wie ein Bär in der Höhle bleibt“ und „die Haut des Bären im Wald ver­kauft“, du kannst „Hoff­nung ziehen wie ein Bär von seinem Schwanz“, wenn du nicht „wie ein Bär berg­auf gehst“, wenn „die Hunde bellen, aber der Bär geht“, weil selbst „der Bär nicht aus freien Willen spielt, sondern aus Notwen­dig­keit“.
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Die Übersetzung der Bedeutung dieser Reihe rumä­nischer Sprüche: Es ist „schon seit sehr langer Zeit“ be­kannt, dass man nichts Be­son­deres macht, wenn man „iso­liert und faul bleibt“ und „etwas ver­spricht, das man nicht er­rei­chen kann“, du kannst „ver­geb­lich hoffen“, wenn du nicht „lang­sam und ent­schlossen vor­gehst“, wenn „man sein Ziel ver­folgt, ohne sich um das zu küm­mern, was die Leute sagen“, denn „manch­mal muss man Kom­pro­misse ein­ge­hen, um er­folg­reich zu sein“.
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Frohe Weihnachten und auf ein Glas Wein voller „Bären-Kraft“ mit Freunden!
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