Reise-Mitbringsel
(„Die gestundete Zeit“ von Ingeborg Bachmann aus Sfântu Gheorghe in Rumänien)
von Tanja Dückers-Landgraf
Auf einer Lesereise durch Rumänien ergab es sich durch Zufall, dass ich einen kleinen ungeplanten Abstecher machte. Ich war eigentlich nur zu einer Lesung nach Klausenburg/Cluj-Napoca (rumänisch)/Kolozsvár (ungarisch) eingeladen worden. Aber mit Ágnes Simon, der Leiterin des Literaturprogramms im Kulturzentrums Klausenburg, verstand ich mich auf Anhieb so gut, dass sie meinen Mann und mich spontan zu ihrer Großmutter nach Sfântu Gheorghe (auf Ungarisch: Sepsiszentgyörgy) im Szeklerland (einer vornehmlich von Ungarn bewohnten Region) einlud.
Ich hatte schon vorher gestaunt, wie kosmopolitisch Rumänien ist. Außer von den Siebenbürger Sachen und Banater Schwaben hatte ich bislang wenig Kenntnis von anderen Minderheiten, von der Multikulturalität der Region. Doch in den Straßen der größeren Städte Rumäniens hört man viele Sprachen. 19 verschiedene Nationalitäten sind allein in Siebenbürgen, der Region, die ich am intensivsten bereist habe, zu finden. Im Banat strahlt „Radio Temeswar“ selbstverständlich jeden Monat Sendungen in elf Sprachen aus.
Ágnes Simon ist eine in Rumänien aufgewachsene Ungarin mit – unter anderem - deutschen Wurzeln, die Germanistik studiert hat. Ungarisch, Rumänisch und Deutsch spricht sie als Muttersprachen. Englisch und Russisch lernte sie später. Solchen kosmopolitischen Menschen werde ich noch öfter in Rumänien begegnen – in Mitteleuropa nimmt man wenig Kenntnis von ihnen.
Nun reisen Ágnes und ich also zu ihrer Großmutter. Sfântu Gheorge im Szeklerland ist zumindest auf den ersten Blick keine schöne Stadt, wird in keinem Reiseführer beschrieben, bietet auf den ersten Blick keine Touristenattraktionen. Von Feuchtigkeit und Schmutz dunkel verfärbte Plattenbauten ragen in den Himmel, die Geschäfte wirken etwas „trashig“ – Rumänien eben wie es an den Orten aussieht, die weder zeitlos-romantisch noch von EU-Geldern begünstigt sind.
Und in einer dieser wenig einprägsamen Seitenstraßen in einer kleinen Zweizimmer-Plattenbauwohnung, in der, als Ágnes’ Großmutter noch jünger war, ihre ganze Familie wohnte, steht die Weltliteratur selbstverständlich in fünf Sprachen im Regal.
Ich finde Goethe und Thomas Mann auf Ungarisch, Esterházy auf Deutsch, Dostojewski auf Rumänisch, V. S. Naipaul und Isaac Bashevis Singer auf Französisch, Joseph Heller und Ljudmila Ulitzkaja auf Rumänisch, Heinrich Heine auf Ungarisch, Shakespeare auf Russisch – ein unglaublicher Schatz in einem schäbigen Plattenbau.
Die alte Dame, groß, sehr mager und hager, Kette rauchend im weiten Blümchenkleid, eine ebenso eigenartige wie imposante Erscheinung, spricht Ungarisch, Rumänisch, Deutsch, Französisch und Russisch fließend.
Sie ist sehr erfreut über den Besuch aus dem fernen Berlin, bekocht uns liebevoll und gibt uns ihr Sofa zum Schlafen. Wir unterhalten uns die halbe Nacht, ein Wort reicht das andere. Der Altersunterschied, das Aufwachsen in unterschiedlichen Systemen, die verschiedenen Muttersprachen geraten bei der starken persönlichen Verbindung, die wir füreinander empfinden und den überraschenden Übereinstimmungen unserer literarischen Vorlieben und Urteile in den Hintergrund.
Das Einzige, womit ich zu kämpfen habe, ist dieses Ketterauchen. Am nächsten Tag – ich huste, denn wir haben in ihrem verqualmten Wohnzimmer geschlafen - möchte Ágnes’ Großmutter mir ein Abschiedsgeschenk machen. Sie schreitet - sehr aufrecht, mit hoch erhobenem Kopf, wie es ihre Art zu gehen ist - durch ihre Wohnung und sucht mit den Augen ihre unzähligen Bücherregale ab, die in allen Zimmern, auch im Flur und in der Küche, aufgestellt sind.
Dann, plötzlich, scheint sie das Richtige entdeckt zu haben. Eine schmale Hand schnellt nach vorn, sie zieht ein Buch für mich aus ihrem Bücher-Labyrinth: „Die gestundete Zeit“ von Ingeborg Bachmann – auf Deutsch. Sie beugt sich zu mir herunter: „Das ist eines meiner beiden Lieblingsbücher“, erzählt sie, „mein anderes Lieblingsbuch ist ‚Die Buddenbrooks’, aber das habe ich nur auf Ungarisch, und das hast du ja auch schon, sagtest du.“
Seitdem begleiten mich Bachmanns polyglotte Gedichte überall hin.
Ich sollte die alte Dame nie wiedersehen, sie starb ein knappes Jahr später. Aber Ágnes und ich sprechen nach wie vor viel von ihr.