Der Puschkin Park in Mediasch

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Wenn der November kam, warte­te ich täg­lich auf den ers­ten Schnee und auf die zar­ten Eis­blu­men, die sich manch­mal über die Schei­be un­se­res Kü­chen­fens­ters leg­ten. Ich be­te­te je­den Abend, dass es end­lich schnei­en sol­le, denn ein Win­ter oh­ne Schnee ist kein rich­ti­ger Win­ter. Je­den Mor­gen, wenn ich wach wur­de, spitz­te ich die Oh­ren, ob in der Nach­bar­schaft viel­leicht nicht doch ei­ne Schnee­schau­fel auf dem As­phalt kratz­te. Und manch­mal mein­te ich so­gar, oh­ne die­ses Ge­räusch wahr­zu­neh­men, die wei­ße Pracht re­gel­recht zu rie­chen: Al­les müß­te schon weiß ge­klei­det sein. Wenn ich dann noch in der Mor­gen­däm­me­rung die Vor­hän­ge zur Sei­te schob und mir ei­ne Welt aus feins­tem Pu­der­zu­cker zu Fü­ßen lag, stürm­te ich auf un­se­re Ter­ras­se, um das gan­ze haut­nah füh­len zu kön­nen. Aus Angst, daß der wun­der­vol­le Schnee mit­tags dem mil­den Wet­ter zum Op­fer fal­len könn­te, fiel es mir vor­mit­tags oft schwer, die Schul­bank zu drü­cken. Wenn Vä­ter­chen Frost es mit uns Kin­dern gut mein­te, dann führ­te der Weg nach der Schu­le nicht di­rekt nach Hau­se.
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Auf einer der vier Stra­ßen, die ins Stadt­zen­trum von Me­diasch mün­de­ten, be­fand sich näm­lich auch un­se­re Schu­le. Zu­sam­men mit Freun­din­nen schlen­der­te ich ge­nüss­lich durch die ver­schnei­te Stra­ße. Un­se­re Schrit­te tru­gen uns zu ei­ner Häu­ser­zei­le mit ei­nem dunk­len Haus­bo­gen. Wir durch­quer­ten den Bo­gen und folg­ten dem Weg durch den ver­schnei­ten Hof, bis wir an ein gro­ßes, blau­es, ei­ser­nes Tor ka­men. Hier war un­ser Ziel - der so­ge­nann­te Pusch­kin-Park, der in der Win­ter­zeit für al­le Kin­der der Stadt sei­ne To­re öff­ne­te.
Normalerweise war das Tor mit­tags noch zu­ge­sperrt und nur ein klei­nes Schlüs­sel­loch er­mög­lich­te den Blick ins In­ne­re. Wenn man mit dem Au­ge sehr nah he­ran­kam, spür­te man, wie sich die Luft durch die­se klei­ne Öff­nung bohr­te. Bald ka­men ei­nem da­von die Trä­nen und das mach­te es un­mög­lich, sich wei­ter­hin den Park an­zu­se­hen. Doch die­ser kur­ze Blick durch das Schlüs­sel­loch er­laub­te uns, für den Nach­mit­tag ein paar Stun­den im Park ein­zu­pla­nen oder auch nicht. Denn hin­ter die­sem un­schein­ba­ren Tor la­gen zwei Sport­plät­ze, die im Win­ter den Kin­dern als Eis­lauf­plät­ze zur Ver­fü­gung ge­stellt wur­den. Wir hat­ten auch ein paar glück­li­che Ta­ge, an de­nen mit­tags das blaue Tor schon of­fen war, weil ei­ni­ge Stadt­an­ge­stell­te die Eis­flä­che her­rich­te­ten. Nichts ge­schah da­bei ma­schi­nell, son­dern man mo­del­lier­te mit lan­gen Was­ser­schläu­chen ei­ne mög­lichst glat­te Eis­flä­che. Nicht im­mer glück­te das. Wenn es sehr viel schnei­te, sa­hen wir den Män­nern zu, wie sie mit Schnee­schau­feln auf und ab lie­fen, um müh­sam die Eis­flä­che von der Schnee­de­cke zu be­frei­en. Es wa­ren ganz au­ßer­ge­wöhn­li­che Mo­men­te, wenn sie uns wäh­rend ih­rer Ar­beits­zeit er­laub­ten von der klei­nen Tri­bü­ne zu stei­gen, um mit un­se­ren Schu­hen am Rand des Plat­zes das Eis zu tes­ten.

Auch wenn es in vielen Stadt­vier­teln abends völ­lig fins­ter war, weil es kei­nen Strom mehr gab, so war es sehr sel­ten, daß auch der Pusch­kin-Park da­von be­trof­fen war. Die gro­ßen Schnee­hau­fen, die am Ran­de der Eis­flä­chen zu­sam­men­ge­schau­felt wor­den wa­ren, glit­zer­ten den gan­zen Abend im grel­len Schein­wer­fer­licht, als woll­ten sie noch zu­sätz­li­ches Licht spen­den, um den Park noch schö­ner aus­se­hen zu las­sen. Von der Tri­bü­ne aus konn­te man sich das Schau­spiel noch mehr ver­sü­ßen. Vor dem wei­ßen Hin­ter­grund sa­hen die vie­len Win­ter­müt­zen wie bun­te Bäl­le aus, die sich rhyth­misch zu der mun­te­ren Mu­sik aus den Laut­spre­chern be­weg­ten.
Selbst wenn überraschend der Strom aus­fiel, fand sich im­mer je­mand mit ei­ner Ta­schen­lam­pe, so dass man in den win­zi­gen Um­klei­de­ka­bi­nen sei­ne Schu­he wie­der­fin­den konn­te. Auch bei Licht war das oft ei­ne Kunst für sich. In die­sen Räu­men leg­te je­der le­dig­lich sei­ne Stra­ßen­schu­he ab. Herrsch­ten drau­ßen ex­tre­me Mi­nus­tem­pe­ra­tu­ren, so such­te man doch von Zeit zu Zeit die Um­klei­de­ka­bi­nen auf, denn man war nach dem Zwie­bel­prin­zip ge­klei­det. Ein klei­ner, al­ter Gas­ofen er­hielt hier viel An­er­ken­nung, weil er ei­nem die schmer­zen­den, stei­fen Ze­hen auf­tau­te. Die Schlitt­schu­he wa­ren un­ge­füt­tert, mal zu klein und mal zu groß, oft schon vie­le Ma­le ver­erbt, so dass auch Omas al­ler­bes­te Woll­so­cke nicht mehr half.
Irgendwann hatte man auf­ge­hört, die Blech­tas­sen mit Tee zu ver­kau­fen, ob­wohl sie auch für die kal­ten Hän­de ei­ne an­ge­neh­me Wär­me­quel­le wa­ren. Auch sonst gab es kei­ne Ge­trän­ke, aber das stör­te nie­man­den au­ßer die­je­ni­gen, die nun ih­ren Rum nir­gends mehr rein­fül­len konn­ten. Man war es ge­wohnt, daß die Zei­ten schlech­ter wur­den. So war es um­so er­freu­li­cher, dass die­se Frei­zeit­ak­ti­vi­tät noch mög­lich war. Da­für nahm man ger­ne die Käl­te und den Durst in Kauf. Der Ein­tritts­prei­s war sehr nied­rig, so konn­te sich auch ei­ne kin­der­rei­che Fa­mi­lie die­sen win­ter­li­chen Spaß leis­ten.

Die kleinen Kinder kamen, um das Schlitt­schuh­lau­fen zu er­ler­nen, und die äl­te­ren Herr­schaf­ten, um es ih­nen bei­zu­brin­gen. Da­für eig­ne­te sich der klei­ne­re der bei­den Plät­ze am bes­ten, weil der gro­ße von den er­fah­re­nen Schlitt­schuh­läu­fern be­an­sprucht wur­de. Ein Draht­zaun trenn­te die bei­den Plät­ze, doch gab es an bei­den En­den je­weils ei­ne klei­ne Lü­cke, durch die man zwi­schen den Plät­zen hin und her flit­zen konn­te.
Die Jugendlichen kamen natür­lich, um sich ge­gen­sei­tig an­zu­schwär­men. Hier tra­fen sich die Gleich­al­tri­gen aus ver­schie­de­nen Schu­len und wer sich sym­pa­thisch fand, dreh­te händ­chen­hal­tend ei­ni­ge Run­den ge­mein­sam. Das trau­ten sich oft nicht al­le jun­gen Män­ner. Die mach­ten dann mit an­de­ren ein­falls­rei­chen Mit­teln auf sich auf­merk­sam, in­dem sie man­chem Mäd­chen von hin­ten ein Bein stell­ten, um es dann ga­lant auf­zu­fan­gen.
Wir hatten alle sehr viel Spaß und Freu­de auf dem Eis, denn die fröh­li­che Mu­sik heiz­te uns zu neu­en Schrit­ten an. Ob Rück­wärts­fah­ren, Pi­rouet­ten­dre­hen oder ein­fach rhyth­misch und mit viel Tem­po um die Kur­ven flit­zen: Nichts war uns zu schwer und es war er­staun­lich, wie fit wir al­le wa­ren. Manch­mal teil­ten wir uns in Grup­pen auf, um uns quer über den Platz zu ja­gen und zu fan­gen. Das ge­schah zum Leid­we­sen der ro­man­ti­schen, händ­chen­hal­ten­den Run­den­dre­her, die des­halb auf­pas­sen muss­ten, wo sie ih­re Mäd­chen hin­len­ken und sich des­halb nicht mehr voll dem An­him­meln wid­men konn­ten. Ein sol­cher Abend ließ je­des jun­ge Herz hö­her schla­gen und man­ches Pär­chen, das ge­trennt ge­kom­men war, zog Hand in Hand von dan­nen.

Oft endete ein solcher Abend mit ge­mein­sa­men Fü­ße auf­wär­men in der na­he­ge­le­ge­nen Kon­di­to­rei, wo heiß da­rü­ber dis­ku­tiert wur­de, wer wem auf­ge­fal­len war oder wer mit wem hef­tig ge­flir­tet hät­te. Zu­frie­den und gut ge­launt ging man dann auf dem ge­fro­re­nen Schnee, der un­ter den Stie­feln mür­risch knurr­te, nach Hause und träum­te von den auf­re­gen­den Er­leb­nis­sen im win­ter­li­chen Pusch­kin-Park.
Wahrscheinlich hat kein Frem­der je ver­mu­tet, dass sich aus­ge­rech­net im Zen­trum der Stadt, hin­ter ei­ner Häu­ser­zei­le zwei al­te Sport­plät­ze ver­steckt hiel­ten, die in den Win­ter­mo­na­ten zur Haupt­at­trak­tion für Groß und Klein wur­den und für den Be­ginn so man­cher lang­wäh­ren­den Freund­schaft sorg­ten.

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2007 wird über Me­diasch ein Bild­band er­schei­nen! Der Ti­tel lau­tet: "Streif­zü­ge durch Alt - Me­diasch. Ein Por­trait der sie­ben­bür­gisch - säch­si­schen Stadt an der Ko­kel in Bild und Wort"
Informationen zum Buch­kon­zept er­hal­tet ihr HIER.
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