Weihnachten 1989

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Der erste Teil dieser Er­zäh­lung ist hier zu fin­den: "Der 21. De­zem­ber 1989 in Her­mann­stadt aus der Sicht ei­nes Sol­da­ten."
22. Dezember

Der Diktator hat nach seiner letz­ten Re­de flucht­ar­tig den Bal­kon ver­las­sen und wir sind wie­der in die Ein­heit ein­ge­rückt. Es herrscht ei­ne merk­wür­di­ge Stim­mung bei al­len. Es ist das Ge­fühl, wel­ches man hat, wenn gro­ße Er­eig­nis­se pas­sie­ren, wenn man sich be­wusst wird, dass man ge­ra­de Zeit­zeu­ge von ge­schicht­li­chen Um­wäl­zun­gen wird.

Das Gefühl, welches uns alle be­herrscht, ist ei­ne Mi­schung aus Angst und Hoff­nung, aus Res­pekt und Un­ge­duld. Wir wis­sen, dass wir ge­ra­de ei­ner Si­tua­tion ent­kom­men sind, die schreck­lich hät­te en­den kön­nen. Es hät­te ge­reicht, wenn ir­gend­ei­ner der De­mons­tran­ten ag­gres­siv auf uns rea­giert hät­te, wenn ei­ner un­se­rer Vor­ge­setz­ten den Schiess­be­fehl ge­ge­ben hät­te und es hät­te ein Blut­bad auf dem Gro­ßen Ring in Her­mann­stadt ge­ge­ben. Wir sind froh, dass es nicht da­zu kam und kei­ner von uns auch nur ei­nen ein­zi­gen Schuss ab­ge­ben muss­te. Be­stimmt gab es ei­ni­ge un­ter uns, die ger­ne ih­re Waf­fe be­nutzt hät­ten...

Der Abend in der Einheit ver­läuft re­la­tiv ru­hig, die Kan­ti­ne hat auf Not­ra­tio­nen um­ge­stellt, es gibt kein warm­es Es­sen, denn die Kü­che die uns be­lie­fert, liegt in ei­nem um­kämpf­ten Ge­biet in der Nä­he der Po­li­zei­sta­tion und dem Pass­amt, wo die hef­tigs­ten Kämp­fe in Her­mann­stadt statt­fin­den. Wir ver­brin­gen den Abend nach dem Abend­es­sen vor dem ein­zi­gen Fern­se­her, der funk­tio­niert. Es wer­den Bil­der aus Bu­ka­rest ge­sen­det, die ei­nem kal­te Schau­er über den Rü­cken lau­fen las­sen. Pan­zer rol­len durch die Stadt, über­all wird ge­schos­sen und ge­stor­ben. Da­zwi­schen wer­den Bil­der aus dem ver­las­se­nen Re­gie­rungs­pa­last ge­zeigt, wo sich ein Re­vo­lu­tions­ko­mi­tee ge­bil­det hat und de­ren Mit­glie­der ab­wech­selnd Pa­ro­len und Vor­schlä­ge für die Zu­kunft ma­chen. Al­les sehr kon­fus für uns un­po­li­ti­sche Men­schen und Sol­da­ten. Die Bil­der wie­der­ho­len sich und irgend­wann, als wir mer­ken, dass da ir­gend­wie nichts mehr Neu­es nach­kommt, ge­hen wir schla­fen und fal­len in ei­nen un­ru­hi­gen und un­er­hol­sa­men Schlaf.

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23. Dezember 1989

Nach dem Frühstück müs­sen wir zu­rück auf die Stu­be, es gib im Mo­ment nichts zu tun für die Sol­da­ten ei­ner Ar­beits­ein­heit "DI­RI­BAU" (von "DE-RU-BAU" ei­ne Deutsch-Ru­mä­ni­sche Bau­ge­sell­schaft, von wel­cher der Volks­mund den Na­men DI­RI­BAU für eben sol­che mi­li­tä­ri­sche Ar­beits­ein­hei­ten ab­lei­te­te - ru­mä­nisch of­fi­ziell hie­ßen die­se Ein­hei­ten zu­sam­men­ge­fasst: DLEN Di­rec­tia lu­crari in eco­no­mia na­tio­nala).

Im Fernsehen laufen die­sel­ben Bil­der wie am Vor­abend auch, kaum Neu­es, die Nach­rich­ten wie­der­ho­len sich, was un­se­re In­for­ma­tions­la­ge nicht wirk­lich ver­bes­sert. Nach­rich­ten wer­den wie vor­her auf den Ge­rüchte­we­gen ver­brei­tet, das Ver­trau­en in die Nach­rich­ten ist nicht ge­ge­ben. Eu­ro­pa Li­bera ist der ein­zi­ge Sen­der, der auch wäh­rend der Re­vo­lu­tion die ver­läss­li­che­ren Nach­rich­ten bringt. Die­se Nach­rich­ten wer­den wie eh und je über den Mund­funk wei­ter­ge­ge­ben und ent­spre­chend ver­zerrt.

Während wir gelangweilt vor dem Fern­se­her sit­zen und ir­gend­wie nichts mit uns an­fan­gen kön­nen, wer­de ich in die Schreib­stu­be be­stellt. Ich soll mich be­ei­len, heißt es, es wä­re ein wich­ti­ger An­ruf für mich. Ich fal­le aus al­len Wol­ken und kann mir kaum vor­stel­len, wer mich in der Ein­heit an­ruft und stür­me run­ter. So schnell bin ich die zwei Stock­wer­ke noch nie run­ter­ge­flitzt. Es ist 11 Uhr vor­mit­tags, als ich au­ßer Atem im Bü­ro des Haupt­manns ein­tref­fe. Er über­rascht mich mit ei­ner Fra­ge, die ich erst spä­ter ver­ste­hen und ein­ord­nen kann. Er fragt, ob ich ein gu­tes Ver­hält­nis mit mei­ner Groß­mut­ter hät­te und ob ich sehr an ihr hin­ge. Nun ist es so, dass in un­se­rer Fa­mi­lie über­bor­den­de Ge­füh­le und star­ke Zu­ge­hö­rig­keit ir­gend­wie nie vor­ge­lebt wur­den und da­her bei mir nicht be­son­ders stark vor­han­den sind. Zu­dem hat sich mei­ne Groß­mut­ter nie groß­ar­tig um mich ge­küm­mert, ich kenne sie als ei­ne eher ab­wei­sen­de Frau, ei­ne küh­le Frau, die da­zu neigt, dau­ernd zu kla­gen über ihr Schick­sal, über die an­de­ren und über al­les. "Nein", ant­wor­te ich dem Haupt­mann, "ich ha­be kein be­son­ders gu­tes Ver­hält­nis zu ihr, aber auch kein schlech­tes, nein, ich hän­ge nicht an ihr." Er hält den Hö­rer in der Hand und reicht ihn mir, wäh­rend er sagt: "es ist dein Bru­der, dei­ner Oma geht es an­schei­nend nicht so gut".

Ich nehme den Hörer und melde mich. Am an­de­ren En­de der Lei­tung stam­melt mein Bru­der Un­zu­sam­men­hän­gen­des, ich ver­ste­he nur: "Oma ist tot, kannst du kom­men?" Auf mei­ne Nach­fra­ge, was den pas­siert sei, be­kom­me ich kei­ne Ant­wort, nur ein ver­zwei­fel­tes: "Kannst we­nigs­tens du kom­men? Va­ter mein­te, er kön­ne des­we­gen nicht aus der Ar­beit weg." Ich ver­su­che noch wei­te­re In­fos zu be­kom­men, aber aus mei­nem Bru­der ist nichts raus zu be­kom­men. Ich ver­ab­schie­de mich, le­ge auf und ste­he ein biss­chen ver­lo­ren vor dem Haupt­mann, der mich an­sieht und war­tet, dass ich was sa­ge. Er weiß wohl aus Er­fah­rung, dass ich nun heim wol­len wür­de, um nach dem Rech­ten zu schau­en. Er sagt, be­vor ich über­haupt nach ei­nem Aus­gang fra­ge, dass es schon in Ord­nung sei. Ich kön­ne ge­hen, aber we­gen der ver­häng­ten Aus­gangs­sper­re in der Gar­ni­son, kön­ne er mir kei­ne of­fi­ziel­le Aus­gangs­er­laub­nis aus­stel­len, ich müss­te auf ei­ge­nes Ri­si­ko ge­hen. Falls ir­gend­et­was pas­sie­ren soll­te, An­ruf in der Ein­heit reich­te, er wür­de be­stä­ti­gen, dass ich nicht oh­ne Er­laub­nis die Ein­heit ver­las­sen hät­te. Ein Pa­pier hier­für wol­le er mir aber nicht aus­hän­di­gen, das wä­re ihm zu ge­fähr­lich, das müs­se ich ver­ste­hen.

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Ich befinde mich auf dem Heimweg, zum Glück woh­ne ich nicht all­zu weit weg von der Ein­heit, es sind kei­ne 10 Geh­mi­nu­ten. Ir­gend­wie ha­be ich es nicht wirk­lich ei­lig, ich las­se mir Zeit und ver­su­che mei­ne Ge­dan­ken zu ord­nen. Der Bru­der klang rich­tig ver­zwei­felt, was ist wohl pas­siert? Mei­ne Phan­ta­sie geht mit mir durch, ich stel­le mir schon al­les Mög­li­che und Un­mög­li­che vor, von ei­nem Quer­schlä­ger, der ihr in ih­rer Woh­nung den Tod ge­bracht ha­ben könn­te, bis zu ei­nem fried­li­chen Tod. Aber da wä­re mein Bru­der be­stimmt nicht so ver­zwei­felt ge­we­sen. Ich hö­re ihn sa­gen: "Es ist schreck­lich, mach dich auf et­was ge­fasst..." Wäh­rend ich noch so in Ge­dan­ken vor mich hin lau­fe, mer­ke ich kaum, dass ich be­reits im Hof bin und di­rekt auf mei­nen Bru­der zu lau­fe. Er steht im Hof, ist krei­de­bleich und kommt auf mich zu, um mich zu be­grü­ßen. Sie fällt knapp aus, die Be­grü­ßung, er fragt mich, ob ich ei­nen emp­find­li­chen Ma­gen hät­te und ob ich ei­nen Schnaps trin­ken wol­le, be­vor er mit mir zur Oma hoch­geht. "Nein", sa­ge ich, "ich ha­be we­der ei­nen schwa­chen Ma­gen, noch will ich ei­nen Schnaps, so schlimm kann es doch gar nicht sein, ich bin schließ­lich ei­ni­ges ge­wohnt." Was ich dann aber zu se­hen be­kom­me und vor al­lem, was mei­ne Riech­zel­len aus­hal­ten müs­sen, ist schlim­mer, als al­les, was ich mir vor­stel­len konn­te.

In der Wohnung meiner Groß­mut­ter ist es heiß wie in ei­nem Back­ofen, ob­wohl die Fens­ter seit ei­ni­ger Zeit al­le ge­öff­net sind und drau­ßen Tem­pe­ra­tu­ren na­he dem Ge­frier­punkt herr­schen. Der gro­ße Ka­chel­ofen gibt wei­ter­hin sei­ne Wär­me ab, er glüht fast und die Ka­cheln zei­gen Ris­se, ob­wohl er min­des­tens so­lan­ge aus­ge­schal­tet ist, wie die Fens­ter ge­öff­net sind. Wie lan­ge war der wohl an, der Ka­chel­ofen, dass er ei­ne sol­che Hit­ze von sich gibt? Ein süß­li­cher, ekel­er­re­gen­der Ver­we­sungs­ge­ruch hängt in der Luft und ich se­he mei­ne Groß­mut­ter am Bo­den lie­gen in fort­ge­schrit­te­nem Ver­we­sungs­zu­stand. Die Ker­zen in der Woh­nung sind al­le ge­schmol­zen. Die Tem­pe­ra­tur be­trägt 48°C. Die spä­te­re Au­top­sie er­gibt ei­nen To­des­zeit­punkt, der in et­wa 3 Ta­ge zu­rück liegt. Ge­nau zum Zeit­punkt, an dem die Un­ru­hen los­gin­gen, muss ihr et­was zu­ge­sto­ßen sein. Aber was? Ist sie ge­fal­len und ohn­mäch­tig ge­wor­den? Wur­de sie Op­fer ei­nes Ver­bre­chens? Die­se Fra­gen ge­hen mir durch den Kopf, wäh­rend ich mir Re­chen­schaft ge­be, dass es hier nichts zu tun gibt und es kei­nen Sinn hat, in die­ser Woh­nung auch nur ei­ne Mi­nu­te län­ger zu blei­ben und sich der Hit­ze und dem Ge­stank aus­zu­set­zen. Ich ma­che kehrt und ge­he raus. Der Ma­gen re­bel­liert. Ich muss mich fast über­ge­ben. Jetzt brau­che ich den Schnaps, den mir mein Bru­der vor­hin an­ge­bo­ten hatte.

Was tun? In der Stadt herrschen Un­ru­hen, die La­ge ist un­ge­wiss. Die Po­li­zei ist nicht er­reich­bar, die Be­stat­tungs­un­ter­neh­men sind mit den Op­fern der Re­vo­lu­tion mehr als be­schäf­tigt. Ich war noch nie mit ei­nem To­des­fall kon­fron­tiert. Als mei­ne Ur­oma starb, war ich ge­ra­de mal 5 Jah­re alt, da wur­de mir ver­ständ­li­cher­wei­se nicht er­klärt, was man in ei­nem sol­chen Fall macht. Und schon gar nicht, wie man sich ver­hält, wenn die To­des­ur­sa­che un­ge­klärt ist. Da gibt es be­stimmt an­de­re Vor­ge­hens­wei­sen als bei ei­nem na­tür­li­chen Tod.

Das Telefon läutet und am anderen Ende ist mein Va­ter, der uns mit­teilt, dass der Ge­richts­me­di­zi­ner auf dem Weg zu uns ist, wir sol­len da­heim blei­ben und auf ihn war­ten und ihn zur to­ten Oma füh­ren, so­bald er ein­trifft.

Wir rätseln mit meinem Bruder, was der Oma zu­ge­sto­ßen sein könn­te. Wir eru­ie­ren, wann er sie das letz­te Mal le­bend ge­se­hen hat. Das Ver­hält­nis zwi­schen ihm und ihr ist nicht das Bes­te. Sie litt an Al­ters­ver­wir­rung und an Ver­fol­gungs­wahn und hat­te ihn un­längst zu Un­recht be­schul­digt, er hät­te sie be­stoh­len. Sie hat wie die meis­ten al­ten Leu­te aus der Nach­kriegs­zeit grö­ße­re Men­gen Bar­geld im Haus, wel­ches sie von Zeit zu Zeit an an­de­re Stel­len ver­steckt, weil sie be­fürch­tet, beim Ver­ste­cken ih­rer Bar­schaft be­ob­ach­tet zu wer­den. Dann ver­gisst sie das neue Ver­steck und sucht ihr Geld. In ei­ner sol­chen Pha­se muss sie ge­we­sen sein, als sie mei­nen Bru­der be­schul­digt hat, was zur Fol­ge hat­te, dass er sich fort­an wei­ger­te, ih­re Woh­nung zu be­tre­ten, sie zu be­su­chen. Wir re­kons­tru­ie­ren den Zeit­punkt als er sie zum letz­ten Mal le­bend ge­se­hen hat. Er liegt et­wa ei­ne Wo­che zu­rück.

Die Stunden vergehen, kein Gerichts­me­di­zi­ner in Sicht, erst am spä­ten Nach­mit­tag zu glei­cher Zeit mit mei­nem Va­ter trifft auch der Ge­richts­me­di­zi­ner ein. Er er­zählt uns, dass er un­glaub­lich viel zu tun hat, an al­len Ecken der Stadt wer­den To­te ge­mel­det. Er ruft ei­ne spe­ziel­le Num­mer an und we­nig spä­ter kommt auch ein Po­li­zist, der den Fall auf­nimmt. Die Lei­che der Groß­mut­ter wird ab­ge­holt und in das Ge­richts­me­di­zi­ni­sche Ins­ti­tut ge­bracht, in wel­chem sich noch vie­le an­de­re Lei­chen be­fin­den. Die Re­vo­lu­tion hat vie­le Op­fer ge­for­dert. Es wird uns mit­ge­teilt, dass es dau­ern kann, bis der Leich­nam zur Be­stat­tung frei­ge­ge­ben wird. Es müs­sen Un­ter­su­chun­gen ge­macht wer­den, es muss die To­des­ur­sa­che fest­ge­stellt wer­den etc.

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Für mich gibt es nichts mehr zu tun, ich könn­te ei­gent­lich in die Ein­heit zu­rück­keh­ren. Mir ist aber nicht da­nach und ich be­schlie­ße, mei­ne Freun­din zu be­su­chen, die sich am an­de­ren En­de der Stadt bei ih­rer Freun­din auf­hält. Ge­mein­sam mit mei­nem Bru­der ma­che ich mich zu Fuß auf den Weg. Nach zahl­rei­chen Um­we­gen, die wir neh­men müs­sen, um die Stra­ßen­sper­ren zu um­ge­hen, er­rei­chen wir das Haus der Freun­din, wel­ches sich ne­ben ei­ner an­de­ren Mi­li­tär­ein­heit be­fin­det. Kaum ein­ge­tre­ten, läu­tet schon das Te­le­fon und mein Va­ter teilt mir mit, dass mein Kom­man­dant sich nach mir er­kun­digt hat und be­foh­len hat, ich sol­le auf dem kür­zes­ten Weg zu­rück in die Ein­heit.

Der kürzeste Weg führt al­ler­dings an der ge­gen­über­lie­gen­den Mi­li­tär­ein­heit und an der Stra­ßen­sper­re vor­bei. Wir trin­ken noch schnell ei­nen Kaf­fee und ich ma­che mich auf den Weg. Wäh­rend ich das Haus ver­las­se und ver­su­che, ei­nen et­was an­de­ren Weg ein­zu­schla­gen, um die Stra­ßen­sper­re zu um­ge­hen, se­he ich wie die Sol­da­ten an den Bar­ri­ka­den mit­ein­an­der tu­scheln und mit dem Fin­ger auf mich zei­gen. Ich be­schleu­ni­ge den Schritt, um aus dem Sicht­feld der bei­den zu ent­kom­men, es hilft aber nichts. Ich se­he den ei­nen über die Bar­ri­ka­de hüp­fen und im Lauf­schritt auf mich zu­kom­men. Zwei Mög­lich­kei­ten ha­be ich: Weg­lau­fen und ei­nen Schuss in den Rü­cken ris­kie­ren oder ste­hen blei­ben und se­hen was kom­men wird. Ich ent­schei­de mich ste­hen zu blei­ben und har­re der Din­ge die da kom­men.

Der Soldat hält mir die AK-47 un­ter die Na­se und weist mich an, ihm zu fol­gen. Ein selt­sa­mes Ge­fühl über­kommt mich. Vor nicht all­zu lan­ger Zeit stand ich auf der an­de­ren Sei­te ei­ner AK-47-Mün­dung, jetzt ist ei­ne auf mich ge­rich­tet... Mir wird fast schlecht. Ich se­he, dass der Kol­le­ge kei­nen Spaß ver­steht und ich bin si­cher, dass er bei der lei­ses­ten Be­we­gung, die er als Be­dro­hung ein­stuft, ab­drü­cken wür­de. Ich spü­re das. Im Au­gen­win­kel se­he ich die bei­den Mä­dels und mei­nen Bru­der krei­de­bleich im Hof der Freun­din ste­hen. Ich ge­he mit hin­ter dem Kopf ver­schränk­ten Ar­men mei­nem Schick­sal ent­ge­gen, ich weiß nicht was mich er­war­tet.

Mein Militärausweis, den ich als ein­zi­ges Pa­pier bei mir tra­ge, spricht nicht wirk­lich für mich. Deut­scher Na­me, be­son­de­re Ein­heit (DLEN), der in die­ser be­son­de­ren Si­tua­tion durch­aus als Tar­nung aus­ge­legt wer­den könn­te. Hin­zu kommt, dass ich mich da­heim um­ge­zo­gen ha­be und zi­vi­le Klei­dung tra­ge. Zi­vi­le Pa­pie­re be­sit­ze ich nicht, die wer­den in Ru­mä­nien bei der Ein­be­ru­fung von den mi­li­tä­ri­schen Be­hör­den ein­be­hal­ten.

Nach dem Verhör, nach vielen Fra­gen zur Iden­ti­tät und zu dem Grund mei­nes sog. Flucht­ver­suchs bzw. mich der Kon­trol­le an der Stra­ßen­sper­re zu ent­zie­hen, wer­de ich erst­mal in die Arrest­zel­le ge­sperrt. Hier bin ich nicht al­lei­ne. Zwei dunk­le Ge­stal­ten kau­ern am Bo­den. Bei­de ha­ben schwar­ze lan­ge Le­der­män­tel an, kurz ge­scho­re­ne Schä­del und das Aus­se­hen von Pit­bulls. Ich blei­be ne­ben der Tür ste­hen, wäh­rend die Zel­len­tü­re hin­ter mir kra­chend ins Schloss fällt. Blei­er­ne Stil­le folgt. Mei­ne Zel­len­ge­nos­sen schau­en mich grim­mig an. Lan­ge Mi­nu­ten ver­strei­chen, bis ei­ner von bei­den mich mit fol­gen­den Wor­ten an­spricht: "Wer bist du? Zu wel­cher Spe­zial­ein­heit ge­hörst du?" Ich be­schlie­ße erst mal nicht zu ant­wor­ten. Ich hof­fe, dass der Of­fi­zier, der mich ver­hört hat, in mei­ner Mi­li­tär­ein­heit an­ruft und ich be­te zu Gott, dass der Haupt­mann zu sei­nem Wort steht und be­stä­tigt, dass ich we­der de­ser­tiert bin noch ir­gend­ei­ner Spe­zial­ein­heit an­ge­hö­re. Wei­te­re lan­ge Mi­nu­ten ver­strei­chen. Ich hof­fe, dass die­ser Spuk bald vor­bei ist. "Wer bist du?", bel­fert mich der an­de­re an. "Was ist dein Auf­trag?" Ich schwei­ge und kau­ere mich hin. Den Har­ten und Ge­heim­nis­vol­len mar­kie­ren scheint mir in die­sem Fall die bes­se­re Lö­sung zu sein. Ich se­he kei­ne Ver­an­las­sung, mit den bei­den ins Ge­spräch zu kom­men. Ich muss da­mit rech­nen, dass in der Zel­le Mi­kro­fo­ne ver­steckt sind und die Ge­stal­ten da zum Ver­hör­pro­gramm ge­hö­ren. So­lan­ge ich nicht ge­zwun­gen wer­de zu spr­echen, be­schlie­ße ich zu schwei­gen. "Das geht euch gar nichts an! Ich ge­höre nicht zu Eu­rer Ka­te­go­rie!", sind die ein­zi­gen zwei Sät­ze die ich in den zwei Stun­den, die ich in der Ar­rest­zel­le ver­brin­gen muss, an die bei­den rich­te. Sie un­ter­hal­ten sich un­ter­ein­an­der und ver­su­chen he­raus zu be­kom­men, wer ich bin. Sie kra­men in ih­ren Er­in­ne­run­gen, an Ein­sät­ze, an Aus­bil­dungs­lehr­gän­ge, an Sit­zun­gen, um he­raus­zu­fin­den, ob sie mich nicht doch ir­gend­wo ein­ord­nen kön­nen. Sie kön­nen na­tür­lich nicht wis­sen, dass ich nur auf­grund dum­mer Zu­fäl­le hier in die­ser Zel­le ein­ge­sperrt bin und dass sie mich kei­nes­wegs ken­nen kön­nen, weil ich eben nicht zur Se­cu­ri­ta­te oder zu ei­nem sonst­wie ge­ar­te­ten Ge­heim­dienst oder Spe­zial­ein­heit ge­hö­re. Der ein­zi­ge Grund, wa­rum ich hier bin, ist die Tat­sa­che, dass ich mei­ne Freun­din be­su­chen woll­te und wohl wis­send, dass ich ei­gent­lich zu­rück in mei­ne Ein­heit ge­hen hät­te sol­len, ver­sucht ha­be, die Kon­trol­le an der Stra­ßen­sper­re zu um­ge­hen.

Nach zwei Stunden geht die Zel­len­tür auf, ich wer­de an­ge­brüllt, ich soll mich er­he­ben und raus­kom­men. Ich wer­de er­neut dem Of­fi­zier vor­ge­führt, der mich ver­hört und ein­ge­sperrt hat.

Der Ton ist aber ein anderer. Wenn er vor­her ge­brüllt hat und mei­nen Wor­ten kei­nen Glau­ben ge­schenkt hat, so klingt er jetzt we­sent­lich ver­söhn­li­cher. Er hat tat­säch­lich in der Ein­heit an­ge­ru­fen und mei­ne Ver­sion der Ge­schich­te wur­de von mei­nem Vor­ge­setz­ten be­stä­tigt. Ich at­me auf. Die zwei Stun­den, die ich in der Ge­sell­schaft der bei­den Se­cu­ri­ta­te­mit­ar­bei­ter ver­bracht ha­be, las­sen mich heu­te noch schau­ern. Der Of­fi­zier bringt mich zum Tor, weist mich an, so­fort zu mei­ner Ein­heit zu­rück zu keh­ren, und sagt mir: "Gut dass du nicht mit den bei­den ge­spro­chen hast, das hät­te dich dei­ne Frei­heit kos­ten kön­nen!" Auf mei­ne Ge­gen­fra­ge, wer die bei­den sind, er­hal­te ich kei­ne Ant­wort.

In der Einheit muss ich Bericht er­stat­ten. Der Haupt­mann er­klärt mir, dass ich gro­ßes Glück hat­te, weil der Of­fi­zier, der mich ver­hört hat­te, sein Freund ge­we­sen sei, mit dem er zu­sam­men die Of­fi­ziers­schu­le be­sucht hat. Ich ge­be mir Re­chen­schaft, dass die­ses Aben­teu­er auch ganz an­ders hät­te aus­ge­hen kön­nen. Ich wer­de zum strengs­ten Still­schwei­gen über die­se Ge­schich­te an­ge­hal­ten und zu­rück auf die Stu­be ge­schickt, wo die an­de­ren Sol­da­ten sind. Ich er­zäh­le ihn le­dig­lich von den selt­sa­men To­des­um­stän­den mei­ner Groß­mut­ter. Al­le mei­ne Ka­me­ra­den sind über­zeugt, dass sie Op­fer ei­nes Se­cu­ris­ten ge­wor­den ist, der sich ent­we­der ver­ste­cken woll­te oder aus ih­rer Woh­nung Di­ver­sion be­trei­ben woll­te. Ich sel­ber bin über­zeugt, dass es sich wohl eher um ei­nen Un­fall ge­han­delt hat. Wir wer­den die Wahr­heit nie er­fah­ren. Nach drei Ta­gen er­hal­ten wir die Nach­richt, dass der Leich­nam frei­ge­ge­ben ist und be­er­digt wer­den darf. In dem Ob­duk­tions­be­richt steht: "To­des­ur­sa­che un­be­kannt. Wahr­schein­lich Un­fall oder ein Schlag auf den Hin­ter­kopf." Wei­te­re Un­ter­su­chun­gen wer­den von der Po­li­zei nicht ge­macht. Die hat an­de­res zu tun in die­sen wir­ren Zei­ten.

Am Abend kursiert die Nach­richt von der Ver­haf­tung Ceau­ses­cus. Es wer­den Bil­der ge­zeigt, in de­nen er aus ei­nem Pan­zer­wa­gen aus­steigt und mit sei­ner Frau Ele­na ab­ge­führt wird. Ju­bel bricht bei uns aus. Die Re­vo­lu­tion scheint vor­bei zu sein, die Frei­heit hat ge­siegt.

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24. Dezember

Der Tag beginnt mit einer Über­ras­chung für al­le. Wäh­rend des Mor­gen­ap­pells wer­den wir auf­ge­klärt, dass wir un­se­re Kom­man­dan­ten, ob Leut­nant oder Haupt­mann, ab so­fort nicht mehr mit Ge­nos­se Leut­nant oder Ge­nos­se Haupt­mann an­zu­spre­chen ha­ben, son­dern mit Herr Leut­nant. Die Zeit der Ge­nos­sen scheint vor­bei zu sein. Wir wer­den von den Kom­man­dan­ten über die La­ge in­for­miert, wie sie uns auch aus den Me­dien größ­ten­teils be­kannt ist. Es gibt nichts, was uns neu ist. Wir wer­den in­for­miert, dass der Dik­ta­tor ver­haf­tet wur­de und dass ihm der Pro­zess ge­macht wer­den wird. Die Si­cher­heits­la­ge ist noch nicht ganz klar, die Aus­gangs­sper­re in der Gar­ni­son ist wei­ter in Kraft. Es wird kei­nen Aus­gang ge­ben, so­lan­ge die Aus­gangs­sper­re in Kraft ist. So­bald die­se auf­ge­ho­ben ist, ver­spricht der Kom­man­dant, dass die Her­mann­städ­ter Aus­gang er­hal­ten, um zu Hau­se nach dem Rech­ten zu se­hen.

Auf den Strassen herrscht Freude, die Men­schen ju­beln und wün­schen sich fro­he Weih­nach­ten. Men­schen kom­men an das Tor der Ein­heit und brin­gen uns Brot, Wurst, Speck, Schnaps und Wein. Je­der gibt, was er er­übri­gen kann. Bei uns auf der Stu­be herrscht auch Fei­er­stim­mung. Es gibt reich­lich zu es­sen und zu trin­ken. Wir fei­ern den Sieg der Re­vo­lu­tion.

Ein Bürger hat sogar ei­nen Weih­nachts­baum am Tor ab­ge­ge­ben, der nun bei uns auf der Stu­be steht und mit Wat­te ver­ziert wur­de. Am Abend sit­zen wir zu­sam­men, Ru­mä­nen, Un­garn und Sie­ben­bür­ger Sach­sen und un­ter­hal­ten uns über Weih­nachts­bräu­che, die Re­vo­lu­tion, die Zu­kunft und al­les Mög­li­che. Ei­ni­ge ha­ben bis­sel zu viel ge­trun­ken und fan­gen an zu ran­da­lie­ren. Die Dis­zi­plin in der Ein­heit nimmt ab und man hat fast den Ein­druck in ei­nem Fe­rien­la­ger zu sein, nicht aber beim Mi­li­tär.

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25. Dezember

Einige von uns wachen ver­ka­tert auf, an­de­re in Haft. Für den in­haf­tier­ten Dik­ta­tor wird es sein letz­ter Tag sein. Er wird am Nach­mit­tag kurz vor 15 Uhr Orts­zeit in Târ­go­vis­te in ei­ner Mi­li­tär­ein­heit ge­mein­sam mit sei­ner Frau Ele­na Ceau­şes­cu er­schos­sen. Die Bil­der wer­den über­all aus­ge­strahlt, als gäl­te es, al­le noch Kämp­fen­den zu über­zeu­gen, dass es sich nicht lohnt, wei­ter zu kämp­fen.

Den ganzen Nachmittag wer­den Bil­der vom Schau­pro­zess und der Leich­na­me des Dik­ta­to­ren­ehe­paars ge­zeigt. Je­dem, der ei­ni­ger­ma­ßen den­ken kann, muss klar sein, dass es sich hier um ei­ne Ins­ze­nie­rung der Macht han­delt und dass die­je­ni­gen, die die Macht über­nom­men ha­ben oder noch über­neh­men wer­den, kei­ne red­li­chen Re­vo­lu­tio­nä­re sind, son­dern, dass im Prin­zip die zwei­te Gar­de aus dem Pa­last der Re­gie­ren­den sich an die Macht putscht.

Am Abend werde ich erneut in die Sprech­stu­be zi­tiert und ha­be ein denk­wür­di­ges Ge­spräch mit dem Kom­man­dan­ten. Un­ter an­de­rem fragt er mich, ob ich jetzt, da Ru­mä­nien ein frei­es Land ist, im­mer noch aus­rei­sen möch­te. Ob ich nicht lie­ber hier blei­ben möch­te und das Land wie­der auf­bau­en möch­te. Ru­mä­nien bräuch­te solch tap­fe­re Leu­te wie mich. Ich füh­le mich ge­schmei­chelt und ant­wor­te aus­wei­chend. Im Prin­zip steht für mich au­ßer Fra­ge, die Aus­rei­se zu ver­schie­ben oder da­von ab­zu­las­sen. Zu lan­ge wol­len wir schon aus­rei­sen, zu groß ist das Miss­trau­en ge­wor­den, zu­viel ist pas­siert.

Als Regierung wird in den nächs­ten Tagen die Front der Na­tio­na­len Ret­tung (FSN) ein­ge­führt, die am 26. De­zem­ber den Put­schis­ten­füh­rer und Re­form­kom­mu­nis­ten Ion Ilies­cu zum pro­vi­so­ri­schen Staats­prä­si­den­ten er­nen­nen wird. Die Op­fer der Re­vo­lu­tion be­lau­fen sich auf über 1000 Per­so­nen.

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Der Autor ist uns persönlich bekannt, möchte aber anonym bleiben.
Der erste Teil dieser Erzäh­lung ist hier zu fin­den: "Der 21. De­zem­ber 1989 in Her­mann­stadt aus der Sicht ei­nes Sol­da­ten."
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