OltCit, eine rumänische Industriegeschichte


oder, wie ich nach Craiova kam


von Rolf Gerstendorf

gemaltes grünes und organes Auto
Kühlergrill eines Autos
Jedem, der an rumänische Autos denkt, fällt natürlich zuallererst der Hersteller Dacia aus Ploiești ein. Dass es noch eine zweite rumänische Autoproduktion mit einiger Tradition gab und gibt, ist dagegen weitgehend unbekannt.
Vor Jahren musste ich, um zuverlässig Geld zu verdienen, meinen freiberuflichen Journalistenjob vorübergehend an den Nagel hängen und mich als „Elektriker für dünne Kabel“ (will heißen, als Netzwerktechniker, der als Elektriker schlecht bezahlt wird) bei einer holländischen Leiharbeitsfirma verdingen. Eines Mittwochabends rief mich mein Verleiher an und meinte, er würde mich in die Walachei schicken. Das meinte er nicht sprichwörtlich, wie ich im ersten Schreck annahm, sondern wortwörtlich.
gemalte Mann umwickelt mit einem Kabel und einer rumänischen Flagge mit einer Steckdose rein
So wurde ich kurzerhand nach Craiova verfrachtet, um im dortigen Autowerk Netzwerke zu installieren und, ich erinnere mich noch an die Worte, meinen „Kollegen bei der üblichen Elektroinstallation zu helfen“. Von Craiova wusste ich nur, dass es in Rumänien liegt, dass dort der Füllfederhalter erfunden wurde und ich kannte den ortsansässigen, in den 1980ern in Europa bekannt gewordenen Fußballverein Universitatea.
Fußballverinslogo
Gründerzeit: Citroen
Um etwas mehr über das Autowerk in Craiova zu erfahren, könnte, so dachte ich, eine kleine Recherche nicht schaden. Und diese förderte eine erstaunliche Geschichte zutage, die Mitte der 1970er Jahre in Frankreich beim Autokonzern Citroën begann. Citroën hatte nämlich im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Herstellern noch keinen konkurrenzfähigen Kleinstwagen im Programm und man suchte in den Chefetagen des kränkelnden Autokonzerns händeringend nach einem billigen Nachfolger für den technisch veralteten 2CV, die so genannte „Ente“.
gemalte Mann überlegend neben verschiedener Währung
Man dachte daran, die Produktion eines solchen Autos in einem Billiglohnland in Osteuropa aufzunehmen, und angesichts des traditionell guten Verhältnisses zwischen Frankreich und Rumänien lag Craiova nicht so fern, wie man glauben mag. Ende Dezember 1976 unterzeichnete der rumänische Ministerpräsident Manea Mănescu eine Vereinbarung mit Citroën über die Gründung eines Joint Ventures für die Entwicklung und den Bau eines neuen Kleinwagens in Rumänien. Die Eckpunkte des Joint Ventures: Rumänien würde für Citroën auf dem Gelände einer verfallenen „Reparaturwerkstatt“ für Armeefahrzeuge aus dem 2. Weltkrieg eine neue, 350.000 Quadratmeter große Fabrik errichten, in denen jährlich 130.000 luftgekühlte, drehstabgefederte Kleinwagen und 185.000 Motoren produziert werden sollten.
gemalter LKW neben Ruine
Jährlich 50.000 Fahrzeuge sollten als Bezahlung für den Technologietransfer nach Frankreich exportiert, der Rest im Ostblock verkauft werden. Ein lukrativer EWG- oder gar weltweiter Verkauf der Fahrzeuge wurde dem rumänischen „Partner“ allerdings untersagt. Die neue Firma sollte den Namen Oltcit (Oltenia plus Citroën) tragen.
gemalter grüner PKW
Das hört sich nach einem wundervollen Geschäft für die französische Seite an, doch das Joint Venture hatte von Anfang an mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Zunächst stellte Citroën fest, dass die mangelhafte automobile Infrastruktur in Rumänien, was Zulieferer betraf, eine „echte“ Produktion des geplanten Autos gar nicht zuließ. Stattdessen musste Citroën in Frankreich gefertigte und komplett zerlegte Fahrzeuge anliefern, die dann in Craiova nur noch zusammengeschraubt werden mussten. Zum anderen wurden aufgrund von Verzögerungen, Korruption und bürokratischer Trägheit aus den projektierten zwei Jahren Bauzeit für die neue Fabrik fünf (Berliner lächeln über solch kleine Unpässlichkeiten), so dass die Produktion erst Anfang 1982 beginnen konnte.
gemalter schlafender Mann auf seinem Schreibtisch in seinem Büro
Damit waren aber nicht alle Probleme gelöst, im Gegenteil, sie fingen jetzt erst richtig an! Die mangelnde Erfahrung der rumänischen Arbeiter im Autobau hatte gravierende Qualitätsmängel zur Folge, so dass im Jahr 1982 von den insgesamt 7.000 Arbeitern statt der projektierten 130.000 nur 7.915 Fahrzeuge ausgeliefert werden konnten. Im folgenden Jahr konnte die Produktion auf 8.200 Fahrzeuge „gesteigert“ werden und auch in den Folgejahren fuhren jährlich selten mehr als 20.000 Fahrzeuge aus der Fabrikation.
gemalte Bilanztafel
Mit Schrecken dürfte sich jeder ältere autointeressierte Rumäne an den dreitürigen Oltcit Special mit seinem 2-Zylinder-Boxermotor, den charakteristischen Satelliten-Instrumenten am Armaturenbrett und dem eigenwilligen Lenkrad erinnern, der zwar satte 30 PS auf die Straße brachte, was aber nicht hieß, dass er sich, trotz anmutiger Werbemaßnahmen auch zuverlässig fortbewegte.
gemaltes Auto defekt am Straßenrand stehen
In der Regel stand der Special still und rostete in irgendwelchen Hinterhöfen vor sich hin.
Vom Special und vom Nachfolgemodell Club konnten vom Oltcit in den achtziger Jahren nur einige tausend Exemplare an den Mann gebracht werden. Obwohl Citroën seinen künftigen Kleinwagen durchaus stilvoll mit „ein neues populäres Fahrzeug, ein speziell von Citroën konzipierter Reisewagen, der sich durch eine sehr moderne Vielseitigkeit und große Wirtschaftlichkeit auszeichnet“ ankündigte, scheiterte das Kunststück, die mit einem stärkeren Viertaktmotoren etwas aufgepeppten Exemplare des Oltcit Special unter der Bezeichnung Citroën Axel in Westeuropa gewinnbringend zu verkaufen, jämmerlich.
gemalter PKW mit weinenden Augen
Zufälligerweise fiel die Produktion mit dem Zusammenbruch des Ceaușescu-Regimes Ende 1989 zusammen. Citroën blieb nichts anderes übrig (ich würde sagen, nutzte die Gelegenheit), als das Geschäft 1991 endgültig zu beenden. Ohne die Unterstützung der Franzosen, ohne Lieferung der Zweizylindermotoren und anderer wichtiger Teile war Oltcit auf sich allein gestellt.
gemalte Männer mit rumänischer und französischer Flagge stehen sich mit gefrusteten Gesichtern gegenüber
Heute gilt der Oltcit Club als ein wenig bekanntes und wenig geliebtes Mitglied der Citroën-Familie, aber sein Platz in der Geschichte sollte nie vergessen werden - er war, wenn man so will, der letzte unabhängig entwickelte Citroën.
Nach der Wende: Daewoo
Das Werk verfiel in den Jahren nach dem Rückzug von Citroën vor sich hin. Das Unternehmen wurde 1991 privatisiert und umfirmiert in Automobile Craiova. Es produzierte zwar den Oltcit Club unter dem Markennamen Oltena in Eigenregie bis 1996 weiter, die wirtschaftlichen Aussichten waren angesichts der geringen Verkaufszahlen allerdings miserabel. Im Jahr 1994 ging Automobile Craiova deshalb eine Partnerschaft mit dem südkoreanischen Unternehmen Daewoo ein, die fortan als Rodae Automobile firmierte.
gemalte koreanische und rumänische Fahne und dazwischen zwei sich schüttelnde Hände
Autologo
Der koreanische Konzern hielt sehr zum rumänischen Leidwesen die Kapitalmehrheit und die Zügel straff in der Hand. Er betrachtete seinen rumänischen Ableger Rodae- und später Daewoo-Automobile eher als Händler für seine Billigmodelle Matiz (zu dieser Zeit eines der billigsten Autos der Welt) und Cielo denn als Hersteller. Insbesondere die zugesicherte Zoll- und Steuerfreiheit war für den Daewoo-Konzern sehr vorteilhaft (für den rumänischen Staat weniger), um einen Fuß in den osteuropäischen Markt zu bekommen.
gemalter Fuß auf Europa
rotes Kleinauto am Straßenrand stehend
Das alles verhinderte aber nicht, dass der Mutterkonzern Daewoo 2002 insolvent wurde und von General Motors übernommen wurde. Da GM wenig Interesse hatte, das mittlerweile doch recht profitable rumänische Werk weiterzuführen (Opelaner dürften das kennen), stand Automobile Craiova mit seinen tausenden von Arbeiter:innen erneut vor dem Nichts und einem Neuanfang.
gemaltes Auto am Abgrund
Der dritte Anlauf: Ford
Im Jahr 2007 erbarmte sich Ford und übernahm die Mehrheit an Automobile Craiova und der Fabrik für einen mehr oder weniger symbolischen Preis von 57 Mio. Dollar, die Zusage einer größeren Investition von 675 Mio. Euro zur Restaurierung und Erweiterung der Fabrik und vor allem der Garantie, die noch bestehenden 3900 Arbeitsplätze zu erhalten und weitere zu schaffen. Nicht ohne Hintergedanken, denn durch das niedrige Lohnniveau glaubte Ford, anders als in den westeuropäischen Werken den Einsatz teurer Werkzeugmaschinen (alias Roboter) auf ein Minimum reduzieren zu können.
gemalter Mann mit Werkzeugen in der Hand
modernes Gebäude mit Fordaufsymbol auf dem Dach
Von den zugesicherten Investitionen wurden zunächst 200 Mio. Euro in die Restaurierung der über 30 Jahre alten und verfallenen Anlagen gesteckt. Und das war Anfang 2009 der Zeitpunkt, als ich in Craiova aufschlug! Die erste große Überraschung folge schon am ersten Arbeitstag: Die ganze Fabrik war eigentlich nur eine sehr schmutzige Ruine und von Netzwerken und Robotern keine Spur. Es würde noch etliche Monate dauern, bevor ich mit meiner eigentlichen Aufgabe beginnen könnte.
gemaltes altes Fabrikgebäude
So konnte ich mich auf das konzentrieren, was mir mein Verleiher nahegelegt hatte, falls mir langweilig werden sollte: die Kollegen bei der Elektroinstallation unterstützen. Dabei ging es nicht um solche dünnen Käbelchen, wie man sie aus dem Baumarkt kennt, sondern um oberarm- bis unterschenkeldicke Monster, von denen man ein 2-Meter-Stück nicht einmal anlupfen konnte, um (viele) Zentner schwere Strom-Sammelschienen, die mit fragwürdigen Mitteln in schwindelerregenden 15 Metern Höhe unter den Hallendecken befestigt und verbunden werden mussten.
gemalter Mann hebt Kabelbaum
Ich will nicht weiter auf elektrotechnische Einzelheiten eingehen, aber mir standen angesichts des verrotteten Zustands des Öfteren die Haare zu Berge. Meine acht rumänischen „Untergebenen“, durchweg gestandene Elektriker, konnten dagegen überhaupt nicht verstehen, was ich an den vielen mit dickem Schweißdraht „reparierten“ 630-A-Messersicherungen auszusetzen hätte...
gemalter Motor mit einem Mann welchem die Haare zu Berge stehen
Hochleistungssicherung
Ich hatte eigentlich vor, dort ein Jahr zu arbeiten (viel Arbeit, viel Geld), doch es kam anders und zwar rapide: Im Herbst zuvor (2008) hatte die Pleite der Lehman-Bank in den USA die Bankenkrise ausgelöst, die sich in den Monaten danach zu der globalen Finanzkrise auswuchs und unter der besonders die Autoindustrie litt. Ford konnte sich zwar zunächst vergleichsweise schadlos halten, zwischen Ostern und Pfingsten herum erfolgte dann doch ein Investitionsstopp. Die Parole war nun, die neu installierten elektrischen Einrichtungen an den bestehenden alten Käse anzuschließen und nach Hause zu fahren. Mein rumänisches Abenteuer nahm so nach 10 Wochen ein vorzeitiges und abruptes Ende!
gemalter Käse als Steckdose für ein elektrisches Gerät
Mitgenommen aus Rumänien habe ich die Erinnerung an: Tocăniță de pui cu mămăliguță (mein Lieblingsessen im Hotel), gutes Csíki Sör, sehr dicke Kabel, sehr viel Schmutz und Staub und vor allem die Freundschaft meiner rumänischen Kollegen, mit denen ich als solche und nicht als Untergebene und Arbeitssklaven zusammengearbeitet habe, wie es leider einige meiner „westlichen“ Kollegen gehandhabt hatten.
gemalte Teller mit Essen, Bier und Kabelstücken
Was lange währt, wird endlich gut
Und wir ging es weiter mit Ford Craiova? Die Übernahme des Werkes durch Ford entpuppte sich als Glücksfall für alle Beteiligtem, allerdings – wie nicht anders zu erwarten – mit größeren Anlaufschwierigkeiten. Am 8. September 2009 startete die Produktion eines „Handwerkerautos“, dem Hochdachkombi Transit Connect, mit anfangs nur zehn Fahrzeugen pro Tag, und als Ford das Modell 2011 vom Markt nahm, wurden gerade einmal gut 100 Fahrzeuge am Tag montiert.
weißes Kofferfahrzeug
Das waren alles keine ermutigenden Zahlen, doch ich glaube, das Jahr 2012 war entscheidend. Ford befand nämlich, dass ein Maß von Qualitätssicherung in der Produktion erreicht war, das es erlaubte, Teile der Motorenproduktion unter anderem von Köln nach Craiova zu verlegen. In dem 2012 eröffneten Motorenwerk bauten und bauen heute noch 400 Mitarbeiter den kleinen 1-Liter-3-Zylinder Turboladermotor EcoBoost mit 65 PS und zwei Jahre später auch den stärkeren 1,5-Liter-EcoBoost I4. Im Zeitraum von 2012 bis 2015 wurden etwa 800.00 Motoren hergestellt.
Motorproduktionsband
Auch mit dem Autowerk ging es langsam, aber stetig aufwärts. Die Jahresproduktion des neuen „revolutionären“ und mit großem Pomp eingeführten Modells B-Max, einem fünfsitzigen Mini-Van, belief sich im Jahr 2012 zwar auch auf nur 30.600 Autos, und auch die Zahl der Mitarbeiter hatte sich nicht wie versprochen auf etwa 7.000 erhöht, sondern war sogar geringfügig geringer geworden (2011: 3.500). Aber die Produktionskapazität konnte in den folgenden Jahren immer weiter gesteigert werden, und bis ins Jahr 2017 wurden in Craiova 280.000 Exemplare des B-Max in mehreren Varianten gebaut.
gemaltes gelbes Auto mit einem Mann im Anzug mit gefrustetem Gesicht
Autologo
Doch der B-Max war kein Ruhmesblatt für Ford. Zu spät eingeführt und zu früh vom boomenden SUV-Markt verdrängt, war die Gesamtverkaufszahl von 280.000 Exemplaren eher bescheiden für ein solch wenig exklusives Fahrzeug. So wurde der B-Max schon 2017 wieder aus dem Markt genommen. Ford investierte abermals 200 Mio. Dollar und stellte insgesamt 1.700 Menschen neu ein, um für die geplante Produktion des überarbeiteten SUV EcoSport vorbereitet zu sein. Der EcoSport war sehr erfolgreich, so dass seit 2019 zusätzlich auch das SUV Puma in Craiova gebaut wird, alles mit Motoren aus eigener Fertigung.
neues rotes Auto
Beide Fahrzeuge werden auch heute noch produziert. Mittlerweile hat sich Jahresproduktion auf ungefähr 300.000 Exemplare Fahrzeuge inklusive Motoren eingependelt, so dass Ford Craiova nicht nur zum drittgrößten Exporteur Rumäniens und mit einem Gewinn von etwa 2,5 Mrd. Euro zum siebtgrößten Unternehmen Südosteuropas (Stand 2020) aufgestiegen ist, sondern auch – und das ist das Wichtigste – mit 5.300 Arbeitsplätzen zu den größten Arbeitgebern Rumäniens zählt!
gemaltes strahlendes Gesicht mit gemalter positver Bilanz und rumänischer Flagge
Hier gibt es einen externen Link zu Rolfs Webseite. Dort findet ihr in einer PDF zum Runterladen eine Liste mit Bildnachweisen, einigen erhellenden Quellen und in Auszügen ein „Fanbuch“ zum Thema Citroen und Oltcit.
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