Lange ist’s her. Die verwackelten, teils überbelichteten Fotos einer Exakta Varex (ohne Belichtungsmesser) haben heute etwas Magisches. 1979 – unsere Verlobungstour. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, nachdem ich mit Freunden 1978 im eigenen Boot durchs Donaudelta gepaddelt war, die Junggesellenregel zu durchbrechen und es dieses Mal mit einer Frau (Christine) zu versuchen. Zwei Männer waren allerdings auch dabei, mein alter Reisebegleiter, der um drei Jahre jüngere Cousin Frank und ein vierter Mann. Mein Plan, den Olt zu befahren und dabei Vögel zu beobachten, schien mir ein würdiges Abenteuer zu werden. Wir schickten zwei Faltboote nach Braşov (Kronstadt).
Am 17.7. kommen wir in Braşov an. Ich will zu Puju, den ich ein Jahr vorher im Donaudelta kennengelernt hatte. Er soll uns helfen, die Boote vom Zoll zu holen. Ohne Erfolg - schon geschlossen. Auch am nächsten Tag war dort niemand zu erreichen. Da wir bei Puju nicht bleiben können, weil es verboten ist, Ausländer zu beherbergen, müssen wir auf dem Bahnhof übernachten. Aber unsere Fahrkarten sind abgelaufen, sodass wir eigentlich auch dort nicht schlafen dürfen. Als um Mitternacht Desinfizierungskräfte und die Bahnpolizei auftauchen, wechseln wir schnell die Plätze und schleichen uns in den Warteraum, in dem schon kontrolliert worden ist. Am nächsten Tag gelingt es Puju, einen Zollbeamten aufzugabeln, der uns die Boote rausgibt. Es kann losgehen.
Also mit dem Zug nach Norden am Olt entlang. Nur ab welchem Kilometer der Fluss für uns schiffbar ist, wissen wir nicht. Ich will jedenfalls so weit wie möglich flussaufwärts fahren, um nichts zu verpassen. Bei Malnaş sat steigen wir aus. Der Fluss ist hier noch sehr schmal und wild. Die Boote startklar zu machen, dauert bis zum Abend.
Früh schießen wir los, schneller, als es uns lieb ist. Die Strömung treibt uns unter die überhängenden Uferbüsche. Weil sich Frank und sein Beisitzer gleichzeitig nach einer Seite biegen, um dem Gestrüpp auszuweichen, kippen sie um. Der vierte Mann erweist sich nicht als wasserfest, kann nicht schwimmen. Steuer abgerissen, ein Paddel fehlt, das zweite Paddel ist zerbrochen. Die Angel hat es unter die Uferböschung getrieben und ist verloren. Konservenbüchsen liegen auf dem Grund des Olt. Es dauert Stunden, bis wir wieder fit sind.
Dann Barrieren aus kleinen Hängebrücken und Treibholz. Ein dicker Baumstamm liegt quer über dem Fluss. Frank und seinem Kompagnon gelingt es nicht, vorher rechtzeitig ans Ufer zu kommen. Die Strömung quirlt das Boot unter den Stamm. Zweite Havarie. Der Nichtschwimmer will jetzt lieber am Ufer vorauslaufen.
Der Fluss wird auf einmal merkwürdig zahm. Endlich im ruhigen Fahrwasser, denken wir, und bemerken erst im letzten Moment die Gefahr. Ein Wasserfall! Die Boote mit dem schweren Gepäck seitwärts durch das Geröll zu tragen, ist Knochenarbeit. Der vierte Mann liegt unterhalb des Wasserfalls im Gras und sonnt sich. Er hat uns weder gewarnt noch bei der schweren Arbeit geholfen.
21.7. Olteni. So heißt das Dorf in der Nähe. Pause für einen Tag, um die Sachen zu trocknen. Der vierte Mann verlässt uns.
Laufe mit Christine ins Dorf, um einzukaufen. Kein Laden geöffnet. Eine ungarische Familie beschenkt uns mit Brot, Paprika und Speck.
Die nächsten Tage sind schwierig. Flachwasserstellen, Stromschnellen, Wehre und kleine Wasserfälle. Oft schreien spielende Kinder am Ufer „Cascadă“, bevor wir selbst die Gefahr bemerken. Frank bleibt oft weit zurück, weil er mit seinem abgebrochenen Paddel und ohne Steuer schlecht manövrieren kann. Nimmt jeden Flussbogen mit oder treibt mit der Hauptströmung unter die Uferbüsche. Vor einem größeren Wasserfall springe ich gerade noch rechtzeitig aus dem Boot, halte mich an einem Weidenast fest, bis Frank auftaucht und ich ihm zurufen kann: Spring!
Oft wissen wir nicht, wo wir sind, weil wir nicht über die Uferböschung blicken können. Sehen manchmal nur die Spitze eines Kirchturms. Aber oft sehen wir Pferde am Ufer.
In einer Bucht, in der wir an Land gehen können, um Trinkwasser zu holen, treiben mehrere aufgeblasene Kadaver vom letzten Hochwasser: zwei Pferde, eine Kuh. Es stinkt entsetzlich. Ich fange an, mich vor dem Wasser zu ekeln.
Immer wieder kleben Blutegel an unseren Beinen.
Manchmal grüßt uns ein Hirte, der eine halbe Stunde später plötzlich wieder am Ufer steht. Wir haben ihn lediglich auf einem großen Flussbogen umfahren.
Frank trägt alles gelassen in seinem Kanu.
Ab Zufluss des Riul Negru bei Feldioara (Marienburg) ist der Fluss eigentlich erst „schiffbar“, macht bei Hárman wieder einen großen Bogen und bietet uns dort einen guten Lande- und Lagerplatz. Es gibt Pilze (Rotkappen, Perlpilze, Scheidenstreiflinge und Riesenboviste) am Abend zu essen.
Jetzt geht es leichter.
Bei Racoş strömt der Fluss durch ein kleines Mittelgebirge mit alten Buchenwäldern.
Unsere Freunde, die Hirten, versorgen uns mit Käse.
Am 1.8. erreichen wir Ungra.
Eine Hängebrücke bei Sona.
In Sona hat Frank Geburtstag. Wir feiern seinen 25. in einem kleinen Bufet mit Wermut - noch nicht ahnend, was uns in der Nacht ereilt. Ein solches Gewitter haben wir alle drei noch nicht erlebt. Es kracht und blitzt Schlag auf Schlag. Frank sitzt in seinem miserablen Zelt auf dem Rucksack und trocknet mit dem Handtuch die Pfützen um sich herum. Wieder alles nass! Der Pegel steigt erst am übernächsten Tag. Der Fluss strömt scheinbar träge dahin. Er hat jetzt die gelbe Färbung der Lößwände angenommen.
Bei Făgăraş kommt wieder ein Wehr. Aber nun haben wir schon Übung.
Die in Rumänien obligatorische Darmgeschichte hat uns erwischt, zuerst mich, später dann Frank.
Bei Ucea glaubt Frank, von seiner vernässten Fotooptik noch etwas retten zu können.
Ucea am 8.8.1979 – so soll es in meinem Kopf bleiben.
Die massigen Ochsen und Wasserbüffel kommen am Abend ganz allein ins Dorf, scheuern sich an den Häuserwänden und verschwinden in den Höfen, wo sie zu Hause sind.
Wir kommen schnell voran, weil der Fluss jetzt viel Wasser führt. Keine Stromschnellen mehr bei Avrig, dafür stärkere Strömung.
Wir nähern uns den Bergen und Turnu Roşu, dem Oltdurchbruch am Westrand des Făgăraş-Gebirges. Werden wir unversehrt durch die Stromschnellen kommen? Wir haben noch eine Woche Zeit. Doch als wir am 10.8. in Boiţa, das Tor zur Schlucht, erreichen, fängt es stark zu regnen an.
In Boiţa hat nicht ein einziger Lebensmittelladen geöffnet. Unsere Vorräte gehen zur Neige.
Nun hängen wir fest. Es regnet fünf Tage! Der Flusspegel steigt. Bald kommen Baumstämme, Tierkadaver und Verkehrsschilder angeschwommen. Wir spielen Poker mit rumänischem Kleingeld, lesen Geschichten von Ambrose Bierce und Moravia. Müssen abwechselnd, Frank und ich, dorthin, wo der Kaiser zu Fuß hingeht, aber im Regen. Auch das Toilettenpapier nimmt bedrohlich ab. Fast unbemerkt bin ich 28 geworden, ohne einen einzigen aufheiternden Schluck.
Franks Boot mit den unzähligen geklebten Löchern.
Aber vielleicht hat uns der Regen gerettet. Nicht auszudenken, wenn wir in der Schlucht von Turnu Roşu gekentert wären. Am 15.8. riskieren wir die Flussquerung zur Straße, die nach Sibiu (Hermannstadt) führt, und packen am Straßenrand alles zusammen.
Das ist fast 42 Jahre her. Vielleicht wäre heute alles viel einfacher gewesen. Besseres Boot, bessere Optik, bessere Informationen. Aber vielleicht weniger Abenteuer. Christine ist jedenfalls bei mir geblieben und bis heute meine beste Reisebegleiterin.
Die ornithologische Ausbeute war durch die ständige Konzentration auf den Fluss und die späte Jahreszeit, in der die Vögel kaum noch singen und zu mausern beginnen, gering. Ich registrierte 93 Vogelarten, darunter Schreiadler und Seeadler, Steinkauz und Nachtschwalbe sowie den seltenen Zwergfliegenschnäpper. Der Olt war zwischen Sfĭntu Gheorghe und Făgăraş stark verschmutzt, reinigte sich jedoch wieder etwas durch die Zuläufe aus dem Făgăraş-Gebirge.
Obwohl damals auch die Mitnahme von Ausländern per Anhalter in Rumänien verboten war, erbarmte sich ein Lkw-Fahrer und nahm uns mit nach Sibiu. Wir schliefen in einem Studentenwohnheim und versuchten am Morgen, unsere Boote nach Hause zu schicken.
Zufällig hatte die Zollbehörde genau an diesem Tag – dem einzigen Tag in der Woche – Dienst. Eine unendlich lange Menschenschlange stand vor dem Gebäude und es war abzusehen, dass nicht alle an diesem Tag abgefertigt werden konnten. Unsere Anträge mussten in einem Nachbargebäude maschinenschriftlich und in rumänischer Sprache ausgefüllt werden. Nur mit äußerster Hartnäckigkeit gelang es uns, die Boote loszuwerden. Obwohl das Wrack meines Cousins nicht mehr zu gebrauchen war, konnten wir es aufgrund der deutschen Zollbestimmungen nicht in Rumänien lassen.