Schussfahrt auf dem Olt


von Stephan Ernst

gemalter Stephan mit Urlaubsgedanken
Lange ist’s her. Die verwackelten, teils überbelichteten Fotos einer Exakta Varex (ohne Belichtungsmesser) haben heute etwas Magisches. 1979 – unsere Verlobungstour. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, nachdem ich mit Freunden 1978 im eigenen Boot durchs Donaudelta gepaddelt war, die Junggesellenregel zu durchbrechen und es dieses Mal mit einer Frau (Christine) zu versuchen. Zwei Männer waren allerdings auch dabei, mein alter Reisebegleiter, der um drei Jahre jüngere Cousin Frank und ein vierter Mann. Mein Plan, den Olt zu befahren und dabei Vögel zu beobachten, schien mir ein würdiges Abenteuer zu werden. Wir schickten zwei Faltboote nach Braşov (Kronstadt).
gemaltes fliegendes Paket
Am 17.7. kommen wir in Braşov an. Ich will zu Puju, den ich ein Jahr vorher im Donaudelta kennengelernt hatte. Er soll uns helfen, die Boote vom Zoll zu holen. Ohne Erfolg - schon geschlossen. Auch am nächsten Tag war dort niemand zu erreichen. Da wir bei Puju nicht bleiben können, weil es verboten ist, Ausländer zu beherbergen, müssen wir auf dem Bahnhof übernachten. Aber unsere Fahrkarten sind abgelaufen, sodass wir eigentlich auch dort nicht schlafen dürfen. Als um Mitternacht Desinfizierungskräfte und die Bahnpolizei auftauchen, wechseln wir schnell die Plätze und schleichen uns in den Warteraum, in dem schon kontrolliert worden ist. Am nächsten Tag gelingt es Puju, einen Zollbeamten aufzugabeln, der uns die Boote rausgibt. Es kann losgehen.
gemalte Frau neben Boot am Zollhaus
Also mit dem Zug nach Norden am Olt entlang. Nur ab welchem Kilometer der Fluss für uns schiffbar ist, wissen wir nicht. Ich will jedenfalls so weit wie möglich flussaufwärts fahren, um nichts zu verpassen. Bei Malnaş sat steigen wir aus. Der Fluss ist hier noch sehr schmal und wild. Die Boote startklar zu machen, dauert bis zum Abend.
Zwei Faltboote liegen auf einer Wiese
Früh schießen wir los, schneller, als es uns lieb ist. Die Strömung treibt uns unter die überhängenden Uferbüsche. Weil sich Frank und sein Beisitzer gleichzeitig nach einer Seite biegen, um dem Gestrüpp auszuweichen, kippen sie um. Der vierte Mann erweist sich nicht als wasserfest, kann nicht schwimmen. Steuer abgerissen, ein Paddel fehlt, das zweite Paddel ist zerbrochen. Die Angel hat es unter die Uferböschung getrieben und ist verloren. Konservenbüchsen liegen auf dem Grund des Olt. Es dauert Stunden, bis wir wieder fit sind.
gemaltes gekenntertes Boot treibt neben zwei Männern im Fluss
Fluss von Bäumen umrandet Paddler von hinten Paddler zieht gekentertes Boot aus dem Wasser
Dann Barrieren aus kleinen Hängebrücken und Treibholz. Ein dicker Baumstamm liegt quer über dem Fluss. Frank und seinem Kompagnon gelingt es nicht, vorher rechtzeitig ans Ufer zu kommen. Die Strömung quirlt das Boot unter den Stamm. Zweite Havarie. Der Nichtschwimmer will jetzt lieber am Ufer vorauslaufen.
gemaltes Boot klemmt unter einem Baum im Fluss
Hängebrücke voll mit Treibholz Paddelboot an einem Baum festgemacht
Der Fluss wird auf einmal merkwürdig zahm. Endlich im ruhigen Fahrwasser, denken wir, und bemerken erst im letzten Moment die Gefahr. Ein Wasserfall! Die Boote mit dem schweren Gepäck seitwärts durch das Geröll zu tragen, ist Knochenarbeit. Der vierte Mann liegt unterhalb des Wasserfalls im Gras und sonnt sich. Er hat uns weder gewarnt noch bei der schweren Arbeit geholfen.
gemalte Mann liegt neben Fluss und sonnt sich, während ein Boot auf einem Wasserfall zufährt
tosender Wasserfall
Autor mit seiner Freundin auf Steinen sitzend
21.7. Olteni. So heißt das Dorf in der Nähe. Pause für einen Tag, um die Sachen zu trocknen. Der vierte Mann verlässt uns.
Sachen liegen auf einer wiese zum trocknen
Laufe mit Christine ins Dorf, um einzukaufen. Kein Laden geöffnet. Eine ungarische Familie beschenkt uns mit Brot, Paprika und Speck.
gemalter Paprika, Käse und Brot
Menschen stehen im Eingang eines Hofes vor ihrem Haus
Die nächsten Tage sind schwierig. Flachwasserstellen, Stromschnellen, Wehre und kleine Wasserfälle. Oft schreien spielende Kinder am Ufer „Cascadă“, bevor wir selbst die Gefahr bemerken. Frank bleibt oft weit zurück, weil er mit seinem abgebrochenen Paddel und ohne Steuer schlecht manövrieren kann. Nimmt jeden Flussbogen mit oder treibt mit der Hauptströmung unter die Uferbüsche. Vor einem größeren Wasserfall springe ich gerade noch rechtzeitig aus dem Boot, halte mich an einem Weidenast fest, bis Frank auftaucht und ich ihm zurufen kann: Spring!
gemalter Mann sich an einem Baum festhaltend im Fluss stehend
Paddler will in sein Boot steigen Paddler paddelt auf dem Fluss Olt Paddler lässte sich im Boot treiben Kinder stehen an der Uferböschung
Oft wissen wir nicht, wo wir sind, weil wir nicht über die Uferböschung blicken können. Sehen manchmal nur die Spitze eines Kirchturms. Aber oft sehen wir Pferde am Ufer.
Pferde stehen am Uferrand Pferde rennen am Flussstrand entlang
In einer Bucht, in der wir an Land gehen können, um Trinkwasser zu holen, treiben mehrere aufgeblasene Kadaver vom letzten Hochwasser: zwei Pferde, eine Kuh. Es stinkt entsetzlich. Ich fange an, mich vor dem Wasser zu ekeln.
gemalte Kuh und Pferde im Fluss treibend
Paddelboote liegen am Uferrand
Immer wieder kleben Blutegel an unseren Beinen.
Blutegel an einem Stock hängend
Manchmal grüßt uns ein Hirte, der eine halbe Stunde später plötzlich wieder am Ufer steht. Wir haben ihn lediglich auf einem großen Flussbogen umfahren.
gemalter Hirte steht an einem Flussbogen
Hirte neben seiner Schafherde stehend Hirte mit kleinem Jungen und mehreren Hunden
Frank trägt alles gelassen in seinem Kanu.
Paddler hält sich in seinem Kanu an einer Baumwurzel fest
Ab Zufluss des Riul Negru bei Feldioara (Marienburg) ist der Fluss eigentlich erst „schiffbar“, macht bei Hárman wieder einen großen Bogen und bietet uns dort einen guten Lande- und Lagerplatz. Es gibt Pilze (Rotkappen, Perlpilze, Scheidenstreiflinge und Riesenboviste) am Abend zu essen.
gemalte Pilze neben Teller und Kochtopf
Flusslandschaft mit Wiesen und Wäldern
Jetzt geht es leichter.
Frau paddelnd Autor paddelnd
Bei Racoş strömt der Fluss durch ein kleines Mittelgebirge mit alten Buchenwäldern.
Flusslandschaft mit bewaldeten Berghügeln
Unsere Freunde, die Hirten, versorgen uns mit Käse.
Hirte vor einer Hütte stehend Schweine in einem eingezäunten Wiesenteil
Am 1.8. erreichen wir Ungra.
Pferdefuhrwerk fährt eine Dorfstraße hoch Dorfstraße mit einem Storchennest und Gänsen vor einer Hofeinfahrt Pferdefuhrwerk vor einem Haus Frau läuft mit Einkaufstaschen die dorfstraße entlang
Eine Hängebrücke bei Sona.
Hängebrücke Hängebrücke von unten
In Sona hat Frank Geburtstag. Wir feiern seinen 25. in einem kleinen Bufet mit Wermut - noch nicht ahnend, was uns in der Nacht ereilt. Ein solches Gewitter haben wir alle drei noch nicht erlebt. Es kracht und blitzt Schlag auf Schlag. Frank sitzt in seinem miserablen Zelt auf dem Rucksack und trocknet mit dem Handtuch die Pfützen um sich herum. Wieder alles nass! Der Pegel steigt erst am übernächsten Tag. Der Fluss strömt scheinbar träge dahin. Er hat jetzt die gelbe Färbung der Lößwände angenommen.
gemalte sandige Flusswände mit gelbem Fluss
Bei Făgăraş kommt wieder ein Wehr. Aber nun haben wir schon Übung.
PAddler zieht Boot ans Ufer Paddler trägt Gepäck einen Weg hoch Paddler trägt Gepäck aus einem Boot ans Ufer
Die in Rumänien obligatorische Darmgeschichte hat uns erwischt, zuerst mich, später dann Frank.
gemalter Mann verrichtet seine Notdurft
Paddler leigt neben einem Boot am Ufer
Bei Ucea glaubt Frank, von seiner vernässten Fotooptik noch etwas retten zu können.
Zelte stehen auf einer Wiese zwischen Bäumen und Sträuchern
gemalter fotoapparat liegtin der Sonne
Fotoausrüstung liegt zum Trocknen in der Sonne
Ucea am 8.8.1979 – so soll es in meinem Kopf bleiben.
Pferdefuhrwerk
Die massigen Ochsen und Wasserbüffel kommen am Abend ganz allein ins Dorf, scheuern sich an den Häuserwänden und verschwinden in den Höfen, wo sie zu Hause sind.
Ochsen mit einem Heuwagen Ochsen vor einer Wiese
Wir kommen schnell voran, weil der Fluss jetzt viel Wasser führt. Keine Stromschnellen mehr bei Avrig, dafür stärkere Strömung.
Paddelboot in der Mitte des Flusses
Wir nähern uns den Bergen und Turnu Roşu, dem Oltdurchbruch am Westrand des Făgăraş-Gebirges. Werden wir unversehrt durch die Stromschnellen kommen? Wir haben noch eine Woche Zeit. Doch als wir am 10.8. in Boiţa, das Tor zur Schlucht, erreichen, fängt es stark zu regnen an.
gemalte Boot im Regen
In Boiţa hat nicht ein einziger Lebensmittelladen geöffnet. Unsere Vorräte gehen zur Neige.
Holzhäuser vor einer Dorfkirche blaues Bauernhaus mit Holzdach schmaler Weg mit Holzzaun
Nun hängen wir fest. Es regnet fünf Tage! Der Flusspegel steigt. Bald kommen Baumstämme, Tierkadaver und Verkehrsschilder angeschwommen. Wir spielen Poker mit rumänischem Kleingeld, lesen Geschichten von Ambrose Bierce und Moravia. Müssen abwechselnd, Frank und ich, dorthin, wo der Kaiser zu Fuß hingeht, aber im Regen. Auch das Toilettenpapier nimmt bedrohlich ab. Fast unbemerkt bin ich 28 geworden, ohne einen einzigen aufheiternden Schluck.
gemalter Autor mit Klopapier und einem Schild mit der Zahl 28
Franks Boot mit den unzähligen geklebten Löchern.
Paddelboot mit unzähligen Klebern auf der Bootshaut nebem einem Zelt auf der Wiese liegend
Aber vielleicht hat uns der Regen gerettet. Nicht auszudenken, wenn wir in der Schlucht von Turnu Roşu gekentert wären. Am 15.8. riskieren wir die Flussquerung zur Straße, die nach Sibiu (Hermannstadt) führt, und packen am Straßenrand alles zusammen.
gemaltes Boot mit Gepäck neben einem Wegweiser nach Sibiu
Boote neben Straße liegend Portrait aller Padller nebem Fluss auf der Straßenbegrenzung sitzend
Das ist fast 42 Jahre her. Vielleicht wäre heute alles viel einfacher gewesen. Besseres Boot, bessere Optik, bessere Informationen. Aber vielleicht weniger Abenteuer. Christine ist jedenfalls bei mir geblieben und bis heute meine beste Reisebegleiterin.
gemaltes Herz mit dem Namen Christine
Die ornithologische Ausbeute war durch die ständige Konzentration auf den Fluss und die späte Jahreszeit, in der die Vögel kaum noch singen und zu mausern beginnen, gering. Ich registrierte 93 Vogelarten, darunter Schreiadler und Seeadler, Steinkauz und Nachtschwalbe sowie den seltenen Zwergfliegenschnäpper. Der Olt war zwischen Sfĭntu Gheorghe und Făgăraş stark verschmutzt, reinigte sich jedoch wieder etwas durch die Zuläufe aus dem Făgăraş-Gebirge.
Autor im Boot mit Fernglas sitzend
Obwohl damals auch die Mitnahme von Ausländern per Anhalter in Rumänien verboten war, erbarmte sich ein Lkw-Fahrer und nahm uns mit nach Sibiu. Wir schliefen in einem Studentenwohnheim und versuchten am Morgen, unsere Boote nach Hause zu schicken.
gemalte Menschen stehen mit erhobenem Arm neben einem Sibiuschild
Zufällig hatte die Zollbehörde genau an diesem Tag – dem einzigen Tag in der Woche – Dienst. Eine unendlich lange Menschenschlange stand vor dem Gebäude und es war abzusehen, dass nicht alle an diesem Tag abgefertigt werden konnten. Unsere Anträge mussten in einem Nachbargebäude maschinenschriftlich und in rumänischer Sprache ausgefüllt werden. Nur mit äußerster Hartnäckigkeit gelang es uns, die Boote loszuwerden. Obwohl das Wrack meines Cousins nicht mehr zu gebrauchen war, konnten wir es aufgrund der deutschen Zollbestimmungen nicht in Rumänien lassen.
gemalte Ente
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