Rückblicke


von Hans-Ulrich Schwerendt

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Berglandschaft
Sibiu/Hermannstadt mit Munții Făgăraș
Heute ist der 18. Dezember und eigent­lich wollte ich dieses Jahr keinen Bei­trag schreiben. Aber nun klappte es mit zwei zu­ge­sagten Bei­trägen nicht und wir haben nur noch einen Reser­ve­bei­trag in petto. Also schreibe ich spon­tan ein paar Rück­blicke aus meinem „Rumä­nien­le­ben“. (Nach­trag 20. Dezem­ber: In­zwi­schen sind so­gar beide Bei­träge nach­ge­reicht wurden, darum steht mein Rück­blick nun hier. 🙂)
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Das erste Mal stand ich 1986 als Jugend­licher mit weichen Knien am Schlag­baum zur rumä­ni­schen Grenze. Zuvor waren wir ewig an einer kilo­me­ter­lan­gen Schlange von war­ten­den Autos vor­bei­ge­fahren. Als wir vorn an­kamen, schloss sich der Schlag­baum und sollte sich auch für die nächsten zwei Stunden auch nicht mehr öffnen. Alles wirkte hier sehr be­droh­lich und rief in meinem Kopf noch­mal alle War­nungen in mein Ge­dächt­nis, die wir Jugend­li­chen vor un­serer ersten großen Reise auf den Weg mit­be­kom­men haben: „Keine Geld­beutel offen tra­gen, immer eng zu­sam­men blei­ben, bei einem Halt in der Stadt alle Fahrräder sofort zu­sam­men stellen und wir 5 Jungs stel­len uns als Schutz­wall drum­herum, nicht nach 18 Uhr Fahr­rad fahren, Rum­änien ist ein sehr ge­fähr­li­ches Land!!!“.
Jungs fahren Fahrrad
An zweiter Stelle fährt mein Bruder Georg, danach Kuno, Hendrik als letzter und ich vornedran auf dem Weg zum Schwarzen Meer
Was ich dann erlebte, war ein Land mit sehr krassen Gegen­sät­zen. Armut, bet­telnde Kin­der, aber auch pure Gast­freund­schaft, Hilfe in Not­situa­tio­nen, Herz­lich­keit. Als uns mitten im größten Ge­drängel in Timi­șoara/Temes­war wegen der schlech­ten Straßen ein Gepäck­träger brach, bil­de­ten wir so­fort den uns ein­ge­impf­ten Schutz­wall um unsere Fahr­räder und stan­den im größ­ten Be­gäng­nis auf einer beleb­ten Ein­fahrt­straße vor einer rie­si­gen Fa­brik. Mit dem defek­ten Ge­päck­träger in der Hand stan­den wir rat­los in den an uns vor­bei­strö­men­den Men­schen­massen.
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Ehe wir uns versahen, wurden wir an­ge­spro­chen, je­mand nahm uns ein­fach so mit in den Be­trieb und dort wurde unser Gepäck­träger ge­schweißt. Oft haben wir später solche Er­fah­run­gen ge­macht. Aber auch ein­mal wur­den wir mit Stei­nen be­wor­fen, weil wir kei­nen pas­senden Zelt­platz für uns ge­fun­den haben und weit nach 18 Uhr durch ein be­leb­tes Dorf ge­fah­ren sind.
Jungs stehen zwischen Fahrrädern und einem Zelt
Zeltlager am Waldrand
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In Băile Herculane lande­ten wir auf einem ein­hei­mi­schen Zelt­platz, weil der in­ter­na­tio­nale Cam­ping­platz völlig über­füllt war. Auch auf dem Zelt­platz sah es nicht besser aus, aber man bot uns an, ohne Zelt zwischen den an­de­ren Zelten auf un­seren Iso­matten zu schla­fen. Vor­her wur­den wir aber noch ans Lager­feuer ein­ge­la­den und mussten bei den Nach­barn ordent­lich vom selbst her­ge­stellten Wein aus Plaste­ka­nis­tern trinken.
Jungs sitzen zwischen Zelten und Autos
Auf dem Campingplatz in Băile Herculane
Als wir nach 5 Tagen wie ge­plant auf dem kür­zes­ten Weg mit dem Fahr­rad Rumä­nien durch­quert hatten und in Vidin auf der an­deren Seite der Donau in Bul­ga­rien stan­den, hatte ich eine Menge ver­schie­denster Ein­drücke über dieses Land in meinem Kopf.
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Die Rückfahrt traten wir dann mit dem damals noch ver­keh­ren­den in­ter­na­tio­nalen Zug von Varna am Schwar­zen Meer in Bul­ga­rien nach Dres­den an. Ich er­in­nere mich noch ge­nau, wie ich bei der Durch­fahrt durch Rumä­nien im Speise­wa­gen saß und der Zug sich lang­sam durch eine wun­der­schöne Ge­birgs­land­schaft schlän­gelte. Ich war so be­geis­tert, dass ich be­schloss: In das Land muss ich un­be­dingt wie­der­kom­men! Seit­dem ist meine Liebe zu dem Land nicht ab­ge­rissen.
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So stand ich ein Jahr später mit Freun­den in ein­fa­chen „DDR-Tram­pern“ un­be­darft und ohne Berg­er­fah­rung oben auf dem Kamm­weg des Faga­rasch-Ge­bir­ges. Erst die ent­setz­ten Blicke von an­de­ren Berg­wan­deren wegen meiner Schuhe lies mich da­rüber nachdenken, dass man wohl im Hoch­ge­birge doch eine an­dere Aus­rüs­tung und Vor­be­rei­tung be­nötigt.
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Berglandschaft
Munții Făgăraș
Aber unser Besuch auf dem Kamm des Hoch­ge­birges war so­wieso nur von kur­zer Dauer, da uns eine Schlecht­wet­ter­front in die nächste Berg­hütte hinun­ter­trieb.
In der Cabana Bârcaciu traf ich sehr ver­wun­dert auf den deutsch­spre­chen­den Hütten­wirt Oskar. Zum ers­ten Mal hörte ich was von den Sie­ben­bürger Sachsen. Da­mals ahnte ich nicht, dass ich Oskar Jahr­zehnte spä­ter bei einem Film­dreh über seine in Gher­deal/Gür­teln le­bende Familie wie­der­tref­fen würde.
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Zugleich war dies der Beginn vie­ler Berg­tou­ren durch die rumä­nische Berg­land­schaft. Die DDR-Tram­per­schuhe trug ich nie wie­der in den Ber­gen und meine Hoch­ge­birgs­aus­rüs­tung ver­bes­serte sich von Jahr zu Jahr.
Berglandschaft
Munţii Godeanu
Berglandschaft
Berglandschaft
Berglandschaft
Bei einem Filmprojekt während meiner Arbeit mit blin­den und seh­be­hin­derten Kin­dern lernte ich Thomas kennen. Auf seinem offenen Schnitt­platz ent­deckte ich Bilder aus Rumä­nien. Die ge­mein­same Liebe zu dem Land ver­band uns von dem Tag an bis heute.
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2001 begleitete ich Thomas auf einer Reise für seinen ers­ten selbst­fi­nan­zier­ten und -ge­dreh­ten Do­ku­men­tar­film nach Sie­ben­bür­gen. Mit einer gemie­te­ten pro­fes­sio­nellen Fil­maus­rüs­tung waren wir 10 Tage lang in dem klei­nen Dorf Gher­deal/Gür­teln un­ter­wegs. Für mich war das eine sehr in­ten­sive Zeit, da wir bei dem Film­dreh tief in das Leben der dort le­ben­den Men­schen ein­tauch­ten. Da Familie On­ghert die ein­zige noch kom­plett dort lebende Familie war, war diese Begeg­nung be­son­ders in­ten­siv. Wie Thomas in sei­nem Kalen­der­fens­ter Nummer 20 berichtet hat, hat ihn und auch mich die­ses Dorf nicht mehr los­ge­las­sen. Viele Jahre be­reiste ich Rumä­nien zwei­mal im Jahr, ein­mal mit Thomas und dann noch ein­mal mit Willi. Mit Thomas lan­de­ten wir am Ende immer wie­der in Gher­dal/Gür­teln, ver­bun­den mit inten­siven Begeg­nun­gen in Vurpăr/Burg­berg, den Mit­ar­bei­tern des deut­schen Archivs in Sibiu/Her­mann­stadt, dem Gefäng­nis­pfar­rer Egi­nald Schlattner in Roșia/Roth­berg, dem Kin­der­bau­ern­hof in Rus­ciori/Reuß­dörf­chen und viele an­dere un­ver­gess­liche Be­geg­nungen.
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Kamerateam
Filmdreh in Gherdeal/Gürteln
Gemeinsam mit Willi erforschte und ent­deckte ich in die Berg­land­schaft Rumä­niens, stiegen wir in Höhlen und still­ge­legte Berg­werke ein und dank Willis guten Rumä­nisch­kennt­nisse so­wie seiner offe­nen Art öff­neten sich uns die Türen in den rumä­ni­schen Berg­dör­fern. Und ich lernte viele schöne Ecken ab­seits der Tou­ris­ten­hot­spots kennen, die in kei­nem Reise­füh­rer er­wähnt werden.
Berglandschaft
Munții Apuseni
Berglandschaft
Berglandschaft
Berglandschaft
Berglandschaft
Berglandschaft
In Jena nahm ich an einem drei­wö­chi­gen Rumän­sich­sprach­kurs der dor­ti­gen Uni­ver­si­tät teil. Da­bei wurde nicht nur die Sprache ge­lehrt, son­dern auch Kultur in Form von Film-, Sing­abenden, ge­mein­sa­men Kon­zert­be­su­chen und vieles an­dere.
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In der Zeit, als das Internet auf­kam, ent­deckte ich eine Aus­tausch­platt­form über Rumä­nien. Mit vie­len an­deren gab es einen regen Aus­tausch. In dem Mail­ver­teiler wurde oft sach­lich und hilf­reich dis­ku­tiert, manch­mal aber wurde es auch sehr emo­tio­nal und es gab ganz schön hitzige Aus­ei­nan­der­set­zungen.
Über diesen Mailverteiler er­fuhr ich von einem Tref­fen von Rumä­nien­be­geis­ter­ten in ei­ner Jugend­her­berge in Schwarz­burg im Thü­rin­ger Wald. So ent­stan­den weitere Freund­schaften.
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Während des Austauschs auf der Inter­net­platt­form kam Gudrun 2005 auf die Idee, doch einen On­line­ad­vents­ka­len­der über Rumä­nien zu er­stel­len. Es sollte ge­zeigt wer­den, dass es auch ein an­de­res Rumä­nien gibt, als wie es in den meis­ten Medien dar­ge­stellt wird.
So entstanden von 2005 bis 2008 vier Advents­ka­lender, orga­ni­siert von einer ziem­lich großen Gruppe aus dem Mail­ver­tei­ler. Und wie es so pas­sie­ren kann, wenn viele Menschen etwas zu­sam­men er­stellen, haben wir uns da­rüber heil­los zer­strit­ten. Gudrun stieg aus dem Kalen­der­pro­jekt aus und kurze Zeit später auch ich.
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Im Spätsommer 2009 traf sich eine Gruppe älterer Rumä­nien­freunde zum Wan­dern im Cerna­tal. An einem Tag regnete es so stark, dass wir den gan­zen Tag auf der über­dachten Veranda des Maga­zin Mixt ver­brach­ten, das zu­gleich auch die Dorf­kneipe war.
Männer vor einem Heuschober stehend
"Altherrentour" 2009 (© Karpatenwilli.com)
Während diesem Regentag und nach eini­gen Țuicas dis­ku­tierte Willi mit Gudrun über das von ihr ini­ti­ierte Advents­ka­len­der­pro­jekt. Er fand es sehr schade, dass Gudrun aus diesem schönen Projekt aus­ge­stie­gen ist und ver­suchte sie zu über­reden, es doch wei­ter­zu­führen. Gudrun meinte, dass sie dies alleine nicht schaf­fen würde. Unter dem schon wir­ken­den Ein­fluss des Pflau­men­schnapses sagte ich ohne groß zu über­le­gen Gudrun meine Un­ter­stüt­zung zu.
Regen im Dirf
© Gudrun Pauksch
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So ließ sich Gudrun das Pro­gram­mie­ren zei­gen und ich über­nahm den Part der Bild­be­ar­bei­tung. Was ur­sprüng­lich erst mal nur für ein Jahr ge­dacht war, wurde nun ins­ge­samt eine 20jährige Periode.
Gudrun und ich erstellten das Gerüst des Advents­ka­len­ders und dann wer­den die Fens­ter von vielen Frei­wil­ligen ge­füllt. Immer wieder sind wir selber er­staunt, was für tolle Ge­schich­ten wir ge­schickt be­kom­men. Jedes Jahr sind ein paar neue Schrei­ber da­bei, aber wir ha­ben auch un­sere vie­len Stamm­schrei­ber. 2009 bei un­se­rer „Alt­her­ren­tour“ durf­ten wir Dan mit seiner Frau und seiner Tochter Silvia ken­nen­lernen. Seit­dem schrei­ben sie für un­se­ren Ka­len­der. Silvia war da­mals 9 Jahre alt, als sie ihren ersten Bericht über die Sor­cova schrieb und ist so­mit unsere jüngste Schrei­berin. Seit­dem be­glei­tete sie und ihr Vater Dan un­seren Ka­len­der mit ihren Be­rich­ten. Sylvia ist heute 25 und durch ihren Bericht letzten Donnerstag ist mir auch erstmals richtig bewusst geworden, wie sehr der Bär als Symbol in unserem Leben vertreten ist.
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Aber wir haben auch jüngere Kinder wie Kaspar, Lovissa und Sirii aus Finnland, Gudruns kompletten Enkelkinder Belá, Wilhelmine und Jara aus Beilrode, Johanna und Bärbel, Linnea aus Rockau, Mara aus Chemnitz, Greta und Oskar aus Potsdam, welche auch schon zur Märchenstunde von Richard Bilder gemalt haben.
Es sind viele Freundschaften und tolle Begeg­nun­gen ent­stan­den in die­sen Jahren. Aus den an­fäng­li­chen Tref­fen der Rumä­nien­freunde in den Jugend­her­ber­gen ist in­zwi­schen ein offe­nes Reise­treffen ge­wor­den, ein Tref­fen, dass von dem lebt, was jeder ein­bringt, wo es keine Hie­rar­chien oder feste Struk­turen gibt.
Menschen am Feuer
Treffen der Rumänienfreunde in Thüringen
Doch das Leben ist Wandel, ist Verän­de­rung. Viele sind trau­rig, dass es der letzte Ka­lender ist. Ich bin sehr dank­bar, dass wir, Gudrun und ich, gemein­sam diese Platt­form ge­schaffen haben, dass wir so viele tolle Ge­schichten be­kommen haben und sie an­deren zu­gäng­lich machen durften.
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Auf der einen Seite freue ich mich, dass ich nächs­tes Jahr in aller Ruhe über den Weih­nachts­markt gehen und end­lich voll und ganz den Advent ge­nießen kann. Auf der an­de­ren Seite fürchte ich mich auch da­vor, dass mir etwas fehlen wird.
Ich sage Dank den vielen Menschen, die mit ihren Erzäh­lungen, Bil­dern, Ge­dich­ten, Rei­se­ge­schich­ten, Re­zep­ten, Filmen etc. jedes Jahr die ein­zel­nen Fens­ter die­ses Ka­len­ders ge­füllt haben. Ohne euch wäre die­ses Pro­jekt nicht mög­lich ge­wesen! Ohne euch würde dieser Kalen­der nicht so ein tolles Licht aus­strah­len und vie­len Men­schen das Herz er­wär­men und ihnen die Schön­heit und Ein­zig­ar­tig­keit die­ses Lan­des näher bringen.
Herzlichen Dank, euer Hans!
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